Amerika und Europa — Eitelkeit und Leidenschaft

Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren“ — fünf Erzählungen von Henry James

Auf je­den Fall war sie für mich das fes­selnds­te; es ist nicht mei­ne Schuld, wenn ich nun ein­mal so ver­an­lagt bin, dass ich an Si­tua­tio­nen, die zwei­fel­haft sind und der In­ter­pre­ta­ti­on be­dür­fen, viel­fach mehr Le­ben aus­ma­chen kann als am of­fen­kun­di­gen Ge­klap­per im Vor­der­grund. Und es steck­ten al­le mög­li­chen Din­ge, an­rüh­ren­de, amü­san­te, rät­sel­haf­te Din­ge – und vor al­lem ei­ne sol­che Ge­le­gen­heit, wie sie sich mir zu­vor noch nie ge­bo­ten hat­te – in die­sem lus­ti­gen klei­nen Schicksal (…).“

War­um man gu­te Li­te­ra­tur — und da­zu zäh­len zwei­fel­los die Wer­ke Hen­ry Ja­mes’ — le­sen soll­te, zeigt die­ses Zi­tat des Au­tors, des­sen hun­derts­ter To­des­tag im ver­gan­ge­nen Jahr vie­le Ver­la­ge mit Neu­aus­ga­ben ehr­ten. So hat­te ich mit Dai­sy Mil­ler und Ei­ne Da­me von Welt zum ers­ten Mal das Ver­gnü­gen, die­sem Au­tor zu be­geg­nen. Vor al­lem sei­ne iro­ni­schen, schnel­len Dia­lo­ge ga­ran­tie­ren ei­ne kurz­wei­li­ge Lek­tü­re. Sein Haupt­the­ma, die kul­tu­rel­len Dif­fe­ren­zen zwi­schen den USA und Eu­ro­pa, scheint heu­te ak­tu­el­ler denn je. Die An­sich­ten des neun­jäh­ri­gen, neu­rei­chen Ame­ri­ka­ners über eu­ro­päi­sche Ver­hält­nis­se wür­de POTUS45 si­cher goutieren.

Der 1843 ge­bo­re­ne Ame­ri­ka­ner Hen­ry Ja­mes war ein aus­ge­zeich­ne­ter Eu­ro­pa-Ex­per­te. Seit sei­ner Ju­gend be­reis­te er den Kon­ti­nent, auf dem er bald sei­ne Wahl­hei­mat fand. Die ge­gen­sei­ti­gen „Ame­ri­ka und Eu­ro­pa — Ei­tel­keit und Lei­den­schaft“ weiterlesen

Damnatio Memoriae

Bodo Kirchhoffs „Widerfahrnis“ — über Schuld und den Versuch der Erinnerung zu entfliehen

jpeg_1718_160429Wi­der­fahr­nis“ ist mein ers­tes Buch von Bo­do Kirch­hoff und ich weiß gar nicht so recht, war­um? Aber ich weiß nach der Lek­tü­re, daß es nicht mein letz­tes sein wird.

Ge­wählt ha­be ich Kirch­hoffs neu­es­tes Werk nicht, weil er da­mit den Deut­schen Buch­preis ge­won­nen hat, son­dern weil mir die Le­se­pro­be im zu­ge­hö­ri­gen Heft sehr gut ge­fiel. Zu­dem steht der Ti­tel in zwei Dis­kus­si­ons­run­den auf dem Pro­gramm. Die ei­ne fin­det vir­tu­ell bei Whatch­are­a­din statt, die an­de­re dem­nächst in un­se­rem Literaturkreis.

Auch im vor­lie­gen­den Buch taucht ei­ne sol­che Run­de auf. Leo­nie Palm, ei­ne der bei­den Haupt­fi­gu­ren, ist de­ren „trei­ben­de Kraft“. So be­zeich­net sie je­den­falls Ju­li­us Reit­her, an des­sen Tür Leo­nie ei­nes Abends klopft. Der 70jährige hat vor kur­zem sei­nen Ver­lag ge­schlos­sen und sich in ein no­bles Apart­ment in den Ber­gen zu­rück­ge­zo­gen. Hier lebt er in der Na­tur und in den Er­in­ne­run­gen, die er re­di­giert wie einst als Lek­tor neue Tex­te. Ein schmerz­haf­ter Pro­zess. Reit­her „Dam­na­tio Me­mo­riae“ weiterlesen

Für Genießer und Nostalgiker

Ein Kochbuch?!

Rom - Das Kochbuch von Katie Parla
Rom — Das Koch­buch von Ka­tie Parla

Ei­nem Rom-Koch­buch kann ich ein­fach nicht wi­der­ste­hen. Vor­al­lem nicht die­sem Ex­em­plar, das nicht nur ku­li­na­ri­sche Sehn­süch­te stil­len will, son­dern auch je­ne Nost­al­gia, die ei­nen in der Fer­ne befällt.

Ver­fasst wur­de es von Ka­tie Par­la und Kris­ti­na Gill. Die Jour­na­lis­tin Par­la lebt seit ei­ni­gen Jah­ren in Rom und stu­diert als Kul­tur­his­to­ri­ke­rin die Ess­kul­tur der Stadt. Sie be­rich­tet dar­über auf ih­rem Blog katieparla.com . Kris­ti­na Gill ar­bei­tet als Re­dak­teu­rin ku­li­na­ri­scher The­men und als Food-Fo­to­gra­fin. Bei­de re­cher­chier­ten in rö­mi­schen Kü­chen, um den ein­zig­ar­ti­gen Ge­schmack der Me­tro­po­le aufzuspüren.

Der­ar­ti­ge An­kün­di­gun­gen we­cken in mir die Er­war­tung, ne­ben Re­zep­ten und In­si­der­tipps auch Kul­tu­rel­les in Wort und Bild vor­zu­fin­den. An­sprü­che, die nicht ein­fach zu er­fül­len sind, schließ­lich fül­len Bü­cher über die Ewi­ge Stadt nicht nur vie­le Re­gal­me­ter, son­dern gan­ze Bibliotheken.

Der Auf­bau über­rascht an­ge­nehm. An­statt sich an der klas­si­schen Spei­se­fol­ge zu ori­en­tie­ren, bet­ten die Au­torin­nen die­se in Ka­pi­tel wie Jü­di­sche Kü­che, Quin­to Quar­to und „Für Ge­nie­ßer und Nost­al­gi­ker“ weiterlesen

Ein Hauch vergangener Zeiten“

Henry James’ „Daisy Miller“ amüsiert mit Ironie und spritzigen Dialogen

Daisy MillerIch hab’ kei­ne Zäh­ne, die ka­putt­ge­hen kön­nen. Die sind al­le aus­ge­fal­len. Ich hab’ nur noch sie­ben. Mut­ter hat sie ges­tern Abend ge­zählt, und gleich da­nach ist noch ei­ner aus­ge­fal­len. Sie hat ge­sagt, sie ohr­feigt mich, wenn noch mehr aus­fal­len. Da­bei kann ich gar nichts da­für. Es liegt al­les an die­sem al­ten Eu­ro­pa. Es liegt am Kli­ma hier, dass sie aus­fal­len. In Ame­ri­ka ist kei­ner aus­ge­fal­len, es liegt an den Hotels.“

Die­se Kla­ge legt Hen­ry Ja­mes in sei­ner No­vel­le Dai­sy Mil­ler ei­nem neun­jäh­ri­gen Jun­gen in den zahn­lo­sen Mund und macht so gleich zu Be­ginn auf sein The­ma auf­merk­sam, die „na­tio­nal­ty­pi­schen“ Un­ter­schie­de zwi­schen Eu­ro­pä­ern und Ame­ri­ka­nern. Stu­die­ren konn­te er die­se seit frü­her Ju­gend. Mit sei­ner Fa­mi­lie be­reis­te er den al­ten Kon­ti­nent, der ihm so gut ge­fiel, daß er spä­ter in Lon­don, Pa­ris, Bo­lo­gna, Bonn und Genf stu­dier­te, sich dann in Eng­land an­sie­del­te und schließ­lich die Staats­bür­ger­schaft sei­ner Wahl­hei­mat an­nahm. Dies ge­schah kurz vor sei­nem Tod, der sich in die­sem Jahr am 28. Fe­bru­ar zum hun­derts­ten Ma­le jährte.

Ob aus dem klei­nen Ran­dolph auch einst ein Eu­ro­pä­er wer­den wird, bleibt Ein Hauch ver­gan­ge­ner Zei­ten““ weiterlesen

Nach dem Tod nun die Liebe

Die Liebenden von Mantua“ — Ralph Dutlis wort- und wissensreiche Weberei über die Liebe

dutli mantuaViel­leicht war es ein re­li­giö­ses Mär­chen, viel­leicht –ein jung­stein­zeit­li­cher Opern­stoff. Du hauchst auf das Glas, mei­net­we­gen auf das glä­ser­ne Ge­bil­de des Ro­mans, die­sen schmuck­lo­sen Schau­kas­ten, die­ses Kris­tall­haus oder ca­sa di cris­tal­lo, um dei­ne flüch­ti­ge Spur zu hin­ter­las­sen. Es ist zer­brech­lich, es ist durch­sich­tig. Al­les ist ein­ma­lig, al­les ist zwei­ma­lig mei­net­we­gen durch die Schrift.“

Mär­chen­haft wie die Wen­dun­gen ist bis­wei­len der Ton in Ralph Dut­lis Ro­man „Die Lie­ben­den von Man­tua“. Der Ti­tel klingt nach Oper, de­ren Zu­ta­ten Lie­be, Tod und Glau­ben fol­ge­rich­tig in Ita­li­en in­sze­niert wer­den. Dort, in der Re­nais­sance­stadt Man­tua, er­weckt Dut­li Ar­te­fak­te und Re­lik­te zu Prot­ago­nis­ten sei­ner Phantasie.

Al­len vor­an ein neo­li­thi­scher Grab­fund, das Ske­lett ei­ner Frau und das ei­nes Man­nes. Als die Ar­chäo­lo­gen sie im Jahr 2007 in Val­da­ro frei­le­gen, ver­brei­tet die Sen­sa­ti­on das Paar un­ter dem Na­men „Die Lie­ben­den von Man­tua“. Sie er­reicht auch Ma­nu, den Schrift­stel­ler, der im Mai 2013 auf der Su­che nach ei­nem neu­en „Nach dem Tod nun die Lie­be“ weiterlesen

Identität und Schicksal

Erri de Lucas antike Tragödie „Il giorno prima della felicità”

I vec­chi pa­laz­zi con­ten­eva­no bo­to­le mu­ra­te, pass­ag­gi se­gre­ti, de­lit­ti e amo­ri. I vec­chi pa­laz­zi er­ano ni­di di fan­tas­mi. (…) Mi fi­gur­avo da bam­bi­no di es­se­re un pez­zo di ques­to pa­laz­zo, mio pad­re era l’edificio, mia mad­re il cortile.“

In ei­nem al­ten Pa­laz­zo vol­ler Ge­heim­nis­se lebt der Ich-Er­zäh­ler aus Er­ri de Lu­cas Ro­man „Il gior­no pri­ma del­la felicità/ Der Tag vor dem Glück. Das Wohn­haus steht in ei­ner Gas­se Nea­pels, der Stadt am Ve­suv, die 700 v. Chr. wäh­rend der Grie­chi­schen Ko­lo­ni­sa­ti­on ge­grün­det wur­de. Re­lik­te ih­rer alt­grie­chi­schen Wur­zeln las­sen sich in ar­chäo­lo­gi­schen Fun­den fas­sen und eben­so in der Spra­che der Stadt, dem Na­po­le­t­a­no.

Der aus Nea­pel stam­men­den Au­tor Er­ri de Lu­ca tra­diert die­ses Er­be. Na­po­le­t­a­no prägt die Dia­lo­ge sei­nes Ro­man, der in In­halt und Form ei­nem an­ti­ken Stoff gleicht. Wie im My­thos trifft ein Held auf sei­nen Ge­gen­spie­ler, be­schützt von ei­ner Fi­gur mit über­na­tür­li­chen Fä­hig­kei­ten. Die Be­gleit­um­stän­de wer­den wie im an­ti­ken Dra­ma als Ne­ben­ge­schich­ten kom­men­tiert. Im „Iden­ti­tät und Schick­sal“ weiterlesen

Buon Viaggio e Bella Giornata con Trenitalia

In „Italien in vollen Zügen“ schildert Tim Parks die Tücken und Freuden der italienischen Eisenbahn

Parks, zügen

INTERCITYSeiZe­roOt­toUGO FOSCOLO! – di-pri­ma-e-se­con­da-clas­se – del­le ore – se­di­ci – e – Ze­ro – cin­que – con­ser­vi­ziod­iris­tor­an­tee­mi­ni­bar – per – VENEZIA SANTA LUCIA! – è in par­ten­za dal bi­na­rio — QUATTORDICI – si fer­ma a – Bre­scia — De­sen­za­no-Pe­sc­hie­ra — Ve­ro­na Por­ta Nuo­va – San Bo­no­facio – Vicen­za – Pa­do­va- eMESTRE! – ca­roz­ze di pri­ma clas­se in set­to­ri – B — E – C.“

Ei­ne der­ar­ti­ge Durch­sa­ge hät­te Mark Twa­ins Be­geis­te­rung für das ita­lie­ni­sche Ei­sen­bahn­we­sen, wel­ches er über die An­ti­ken stell­te, oh­ne Zwei­fel ge­stei­gert. Twa­in hat­te Hu­mor, der für ei­ne Rei­se im ita­lie­ni­schen Schie­nen­netz die bes­te Vor­aus­set­zung ist. Dies be­stä­ti­gen auch mei­ne Er­in­ne­run­gen an Rei­sen im Lie­ge­wa­gen durch die nächt­li­che Po-Ebe­ne oder an un­zäh­li­ge Fahr­ten mit der Cir­cum­ve­su­vi­a­na. Man war auf al­les ge­fasst, Dieb­stäh­le, Ver­spä­tun­gen, War­te­zei­ten, und er­reich­te schließ­lich das Ziel voll in­ter­es­san­ter Beobachtungen.

So war es vor vie­len Jah­ren. Neu­er­dings über­trifft, wie ich un­längst in „Buon Vi­ag­gio e Bel­la Gior­na­ta con Tre­ni­ta­lia“ weiterlesen

Unterzuckert

Anstrengender Trip durch Pyotr Magnus Nedovs Zuckerleben

Ei­nes Ta­ges wur­den die Löh­ne nicht mehr aus­be­zahlt. Die Staats­be­trie­be schlos­sen ei­ner nach dem an­de­ren. Dann wur­den die Ge­schäf­te im­mer lee­rer, bis es wirk­lich nichts mehr zu kau­fen gab au­ßer die­sen läng­li­chen Alu­mi­ni­um­kä­men für 3 Ko­pe­ken. Und weißt du, was das Pro­blem ist mit die­sen läng­li­chen Alu­mi­ni­um­käm­men für 3 Kopeken?“
„Was?“
„Sie schme­cken nicht so gut…“

Manch­mal führt der Zu­fall zu ei­ner Lek­tü­re, die im Nach­hin­ein sehr er­staunt. Auf Zu­cker­le­ben, den Ro­man des 1982 in Russ­land ge­bo­re­nen, in Ös­ter­reich auf­ge­wach­se­nen und heu­te in Köln le­ben­den Py­otr Ma­gnus Ne­dov, mach­te mich die dies­jäh­ri­ge Kan­di­da­ten­lis­te des Al­ph­a­prei­ses auf­merk­sam. Nach viel­fa­chem Lob der sprach­li­chen Ra­sanz des Ro­mans, er­war­te­te ich die sar­kas­ti­sche Sto­ry ei­nes skur­ri­len Trips durch Ost- und Südeuropa.

Mol­da­wi­en 1991, Ita­li­en 2011, bei­de Staa­ten be­fin­den sich in der Kri­se, sie kran­ken an ver­al­te­ten Struk­tu­ren und un­fä­hi­gen Re­gie­run­gen. Die Leid­tra­gen­den sind die Bür­ger, die ne­ben dem „Un­ter­zu­ckert“ weiterlesen

Zwischen Kanälen und Karpfenluftmatratzen

In „Fische füttern” erzählt Fabio Genovesi vom Erwachsenwerden in der italienischen Provinz

Zu­ge­ge­ben we­der Sport­fi­schen noch Rad­ren­nen zäh­len zu den mich en­thu­si­as­mie­ren­den Be­schäf­ti­gun­gen, den­noch ha­be ich „Fi­sche füt­tern“ des ita­lie­ni­schen Au­tors Fa­bio Ge­no­ve­si ger­ne ge­le­sen. Auch die­ser Ro­man wid­met sich dem Lieb­lings­the­ma der dies­jäh­ri­gen Li­te­ra­tur, dem Erwachsenwerden.

Die gan­ze Ebe­ne ist von Ka­nä­len durch­zo­gen, Was­ser­grä­ben, die al­le mit­ein­an­der ver­bun­den sind. Sie füh­ren mehr oder we­ni­ger das­sel­be Was­ser, sind schnur­ge­ra­de, schmal, voll Schlick und mit Schilf an den Ufern. Da­zwi­schen die Fel­der, auf de­nen nichts Grü­nes wächst. Tat­säch­lich spre­chen man­che von den „Ka­nä­len”, an­de­re vom „Ka­nal”. Wenn man je­des Teil­stück für sich nimmt, sind es vie­le, aber von oben be­trach­tet ist es ein rie­si­ges dunk­les Netz, das wie ein schwar­zes Git­ter über dem Ort und der Land­schaft liegt.“

Die Ge­schich­te spielt in ei­nem klei­nen Dorf in der von Ka­nä­len durch­zo­ge­nen Ebe­ne na­he Pi­sa. Ge­no­ve­si nennt sei­nen fik­ti­ven Hand­lungs­ort Mugli­o­ne, was wie er auf sei­nem Blog er­läu­tert mit Mur­meln, Brum­men, Rau­schen über­setzt wer­den kann. Mugli­o­ne exis­tiert al­so nicht, aber zahl­lo­se Or­te, die ihr Schick­sal mit ihm tei­len. Sie ha­ben we­der ih­ren Be­woh­nern noch Tou­ris­ten viel zu bie­ten, aber trotz­dem ei­nen spe­zi­el­len Reiz. Si­cher hat mir die­se Ge­schich­te auch ge­fal­len, weil ich das Buch in ei­nem ganz ähn­li­chen ita­lie­ni­schen Pro­vinz­nest ge­le­sen ha­be. Wäh­rend al­ler­dings dort noch zwei Bars als dörf­li­che Treff­punk­te dien­ten, so muss­te die ein­zi­ge Bar Mugli­o­nes schlie­ßen. Der Be­sit­zer war auf der Wild­schwein­jagd ver­un­glückt. Ein Trau­er­fall, be­son­ders für sei­ne vor­wie­gend äl­te­ren Stamm­kun­den. Sie fin­den je­doch bald ei­nen Er­satz­treff­punkt auf der an­de­ren Stra­ßen­sei­te. Dort hat vor kur­zem un­ter der Lei­tung von Ti­zia­na der Ju­gend­treff er­öff­net. Ti­zia­na ist nach dem En­de ih­res Stu­di­ums in ih­ren Ort zu­rück­ge­kehrt, sie möch­te et­was für ihn tun und vor al­lem den Ju­gend­li­chen ei­ne Per­spek­ti­ve ge­ben. Zu die­sen zählt der 19-jäh­ri­ge Fio­ren­zo und wie sei­ne Al­ters­ge­nos­sen denkt er gar nicht dar­an den Ju­gend­treff zu be­tre­ten. Er trifft sich lie­ber mit den Jungs sei­ner Band, Me­tal De­vas­ta­ti­on. Ge­mein­sam träu­men sie vom gro­ßen Durch­bruch auf dem kom­men­den Rock­fes­ti­val in Pon­te­de­ra. Die rea­len Din­ge des Le­bens, Schu­le und Fa­mi­lie schei­nen Fio­ren­zo ab­han­den ge­kom­men. Vor al­lem die Be­zie­hung zu sei­nem Va­ter, mit dem er seit dem Tod der Mut­ter al­lei­ne aus­kom­men muss. Die­ser be­sitzt den ein­zi­gen An­gel­la­den  in Mugli­o­ne, das Ma­gic Fi­shing. Sei­ne zwei­te Lei­den­schaft ge­hört dem Rad­sport. Als Ju­gend­trai­ner gilt sei­ne be­son­de­re Auf­merk­sam­keit dem vier­zehn­jäh­ri­gen Mir­ko aus dem Mo­li­se. Un­ter skur­ri­len Um­stän­den hat­te er ihn dort ent­deckt und für sei­nen Ver­ein an­ge­wor­ben. Mir­ko wohnt nun in Fio­ren­zos Zim­mer, das die­ser un­ter Pro­test ge­gen das Hin­ter­zim­mer im Ma­gic Fi­shing ge­tauscht hat. Dort schläft er auf Sä­cken vol­ler Fisch­kö­der und träumt von der Zukunft.

Ich lag mit of­fe­nen Au­gen im Dun­keln, und es wur­de im­mer lau­ter. Zum Glück fing ab und zu der Kühl­schrank an zu brum­men, oder ein Au­to fuhr vor­bei und über­tön­te es kurz. Aber dann kam es wie­der, ein gleich­för­mi­ges Rau­schen, ver­mischt mit ei­nem leich­ten Krat­zen. Mil­lio­nen Wür­mer und Mil­li­ar­den Füß­chen schar­ren die gan­ze Nacht im Dun­keln in ih­ren klei­nen Kis­ten und su­chen nach ei­nem Aus­weg, den es nicht gibt.“

Was wie der un­spek­ta­ku­lä­re All­tag ei­ner Dorf­ju­gend klingt baut Ge­no­ve­si zu ei­ner span­nen­den Ge­schich­te aus, der es al­ler­dings nicht an nach­denk­li­chen Mo­men­ten fehlt. Er über­rascht mit un­er­war­te­ten Wen­dun­gen und amü­siert mit skur­ri­len De­tails. Wir er­fah­ren, wie die nächt­li­chen Ge­räu­sche von Fisch­fut­ter zu Ge­dan­ken an den To­de füh­ren kön­nen oder ge­fälsch­te Por­no­bil­der zu ei­nem Auf­trag für den Va­ti­kan. In sprit­zi­gen Dia­lo­gen ver­mag Ge­no­ve­si auf sehr ita­lie­ni­sche Art mit Iro­nie und Ge­fühl Ein­stel­lun­gen und Ver­hal­ten sei­ner Fi­gu­ren zu schil­dern. Er be­glei­tet sie auf ih­rer Su­che nach den Din­gen, die sie wirk­lich tun möch­ten, selbst­be­stimmt oh­ne die Er­war­tun­gen der an­de­ren er­fül­len zu müssen.

Wich­ti­ge ge­sell­schaft­li­che The­men wie Mi­gra­ti­on, Spit­zen­sport und Jour­na­lis­mus wer­den kri­tisch an­ge­spro­chen. Ei­nen gro­ßen Raum nimmt die sehr le­ben­dig er­zähl­te Er­fah­rung der ers­ten Lie­be und Se­xua­li­tät ein.

Aber dies ist nicht nur ein Ro­man­zo di For­ma­zio­ne, der die Ori­en­tie­rungs­schwie­rig­kei­ten der jun­gen Ge­ne­ra­ti­on auf­greift. Ge­no­ve­si zeigt in ihm sei­ne Lie­be zur Hei­mat und sei­ne Lei­den­schaf­ten. Das Ge­dicht Der Re­gen im Pi­ni­en­hain des ita­lie­ni­schen Li­te­ra­ten Ga­brie­le D’Annunzio wird durch Fio­ren­zos In­ter­pre­ta­ti­on zum Lie­bes­bo­ten und kul­mi­niert in ei­ner ge­träum­ten Prophetie.

Im Ori­gi­nal trägt der Ro­man den Ti­tel Esche vi­ve, Le­ben­de Kö­der. Die spie­len ganz kon­kret als Schlaf­stät­te im Ma­gic Fi­shing, aber auch im über­tra­ge­nen Sin­ne ei­ne Rol­le. Doch ich will nicht zu viel verraten.

Der Au­tor Fa­bio Ge­no­ve­si, der in sei­nem Blog Esche vi­ve viel von sich und sei­nem Buch be­rich­tet, macht sei­ne Pas­sio­nen zu den Ge­gen­stän­den des Ro­mans. Er schreibt nicht nur Bü­cher und Thea­ter­stü­cke, son­dern auch für Mu­sik­jour­na­le. Au­ßer­dem ist er  Sport­ang­ler, Rad­sport­trai­ner und in­ter­es­siert sich für Horrorfilme.

Er kennt sich al­so aus mit den The­men des Lebens.

Ein Un­ter­hal­tungs­ro­man mit Sub­stanz und viel Ita­lia­ni­tà, in dem nicht nur Ju­gend­li­che noch et­was ler­nen können.

Fa­bio Ge­no­ve­si, Fi­sche füt­tern (Esche vi­ve), über. v. Ri­ta Seuß u. Wal­ter Kög­ler, Lüb­be, 1. Aufl. 2012

Darauf einen Bitter!

Enttäuschte Erwartungen erzeugt James Hamilton-Paterson mit “Kochen mit Fernet-Branca

Dio mio, das wird Schlä­ge ge­ben. Ich zit­te­re vor mei­nem nächs­ten Li­te­ra­tur­kreis­tref­fen und be­fürch­te, daß selbst ei­ne gro­ße Men­ge des Ti­tel­ge­söffs den an­de­ren Teil­neh­mer nicht zur Ver­dau­ung die­ser Lek­tü­re rei­chen wird.

Da­bei hat­te ich es doch nur gut ge­meint. Dies­mal soll­te es et­was Amü­san­tes wer­den, kei­ne Pro­blem­wäl­ze­rei, kei­ne nor­di­sche Fa­mi­li­en­ge­schich­te, kein In­zest, kein Mit­tel­al­ter und schon gar kein Be­zie­hungs­dra­ma. Zu­dem kam die Emp­feh­lung aus Tho­mas Böhms Le­se­kreis­buch, er wie­der­hol­te sie so­gar vor kur­zem noch­mals im Ra­dio.

Der Au­tor des Kat­zen­koch­bu­ches, und das ist hier wört­lich zu neh­men, Ja­mes Ha­mil­ton-Pa­ter­son, ist bri­ti­scher Jour­na­list und bis­her mit durch­aus Ernst­haf­tem über das Meer und fer­ne Län­der in Er­schei­nung ge­tre­ten. Für sei­nen ers­ten hu­mo­ri­gen Ro­man wur­de er ge­lobt. Bis über den grü­nen Klee so­gar, wenn man ei­ne No­mi­nie­rung für den Boo­ker Pri­ze so in­ter­pre­tie­ren darf. Trotz­dem las ich pro­be­hal­ber die ers­ten Sei­ten des Bu­ches, denn nach lang­jäh­ri­ger Le­se­kreis­er­fah­rung weiß ich, was Fehl­schlä­ge sind, und die­se soll­ten ge­ra­de bei stei­gen­dem Le­se- und Le­bens­al­ter un­be­dingt ver­mie­den wer­den. Tem­pus fugit!

Tat­säch­lich hat mich die­se Mi­schung aus Ita­li­en und Mon­ty Py­thon zu­nächst schwer be­geis­tert. Ich lag abends la­chend im Bett, was sel­ten vor­kommt, und den Mit­be­nut­zer die­ses Mö­bels zu ei­nem, Da wird sich der Le­se­kreis aber freu­en, hin­rei­ßen ließ. Der kom­men­de Kan­di­dat war ge­kürt, ich setz­te so­gar die bei­den Nach­fol­ge­bän­de die­ses Ro­mans so­fort auf mei­ne Wunschliste.

Ver­gnügt las ich wei­ter, woll­te wei­ter mei­nen Spaß ha­ben an den kru­den Er­fah­run­gen die­ses Eng­län­ders in der tos­ka­ni­schen Pro­vinz. Dort hat Ge­rald Sam­per sich in der Berg­ein­sam­keit der apua­ni­schen Al­pen ein Häus­chen auf­schwat­zen las­sen, um un­ge­stört als Ghost­wri­ter für grenz­de­bi­le Spit­zen­sport­ler zu ar­bei­ten. In die­ser krea­ti­ven Stil­le taucht un­ver­mit­telt Mar­ta auf, die nicht wie der Mak­ler, Ita­lie­ner und ge­wer­be­be­ding­tes Schlitz­ohr, ver­si­chert hat nur sel­ten, son­dern ste­tig sei­ne neue Nach­ba­rin sein wird. Sie ar­bei­tet an Mu­sik­ar­ran­ge­ments für die Film­bran­che. Der Kon­flikt zwi­schen Ru­he­be­dürf­nis und Mu­sik, al­so Krach, ist ge­legt. Ge­löst wird er in 47 Ka­pi­teln auf 359 Sei­ten, auf­ge­lo­ckert von Re­zep­ten aus Sam­pers krea­ti­ver Kü­che. Dar­un­ter ver­lo­cken „Mu­scheln in Scho­ko­la­de” so­wie der „Fisch­ku­chen” zum Ex­pe­ri­men­tie­ren. (Bett­nach­bar: Du bist ver­rückt! Ata­lan­te: Und wenn wir den Zu­cker­guß weglassen?)

Ge­nüss­lich las ich al­so wei­ter, da tauch­ten ers­te Un­ap­pe­tit­lich­kei­ten auf. Es wa­ren al­ler­dings nicht, wie die Ken­ner des Bu­ches ver­mu­ten mö­gen, die bis ins Ab­son­der­li­che ge­stei­ger­ten Re­zep­te des gu­ten Sam­per. Nein, we­der Knob­lauch­eis noch Kat­zen­ku­chen, ge­mäß Ti­tel ge­hö­rig mit Ma­gen­bit­ter ge­sät­tigt, er­zeug­ten Le­se­übel­keit. Es war eher das Ab­glei­ten in die dunk­len Re­gio­nen des Ver­dau­ungs­wit­zes, die mich beim Plumps­klo noch zum La­chen reiz­ten, bei den fla­tu­len­ten Ne­ben­wir­kun­gen der Koch­küns­te merk­li­ches Des­in­ter­es­se und beim Pups­bär nur noch Mit­leid er­zeug­ten. Ehr­lich, wer fin­det jen­seits der Pu­ber­tät ei­nen Pups­bär auf dem Klo lustig?

Na­tür­lich ist der vom Au­tor ge­schil­der­te Ger­ry Sam­per ein eit­ler Ego­zen­tri­ker, gründ­lich von sich selbst ge­blen­det, was zu ei­ner kunst­ge­rech­ten An­wen­dung von Sar­kas­mus un­ab­ding­bar ist. Aber war­um hat er sei­nen bri­ti­schen Hu­mor in­ner­halb we­ni­ger Sei­ten ver­lo­ren? Da­zu kommt die Fi­gur sei­ner Nach­ba­rin und Ge­gen­spie­le­rin Mar­ta. Na­tür­lich wur­de sie ge­wählt, um so ein her­vor­ra­gen­des Ex­em­pel zu der Dif­fe­renz von Ei­gen- und Fremd­bild durch zu spie­len. Auch tre­ten die we­ni­gen Ita­lie­ner vor al­lem des­halb als gut­aus­se­hend, ge­ris­sen, be­stech­lich oder ar­ro­gant auf, um den Le­ser un­miss­ver­ständ­lich mit sei­nen ei­ge­nen Kli­schees zu kon­fron­tie­ren. Aber war­um ist das al­les nur so lang­wei­lig ge­ra­ten? Die Fi­gur der Mar­ta und ih­re mu­si­ka­li­schen Tä­tig­kei­ten ha­ben mich nicht die Boh­ne in­ter­es­sie­ren. Der Auf­tritt be­rühm­ter ita­lie­ni­scher Re­gis­seu­re eben­so we­nig. Die Idee ein Feu­er­werk­s­in­fer­no zu ent­zün­den war we­nig über­ra­schend. Die ab­stru­se Kon­struk­ti­on von Mar­tas ma­fia­ähn­li­chem ost­eu­ro­päi­schen Her­kunsfts­hin­ter­grund tat kaum et­was zur Sache.

Da­zu kom­men sti­lis­ti­sche Män­gel. Ha­mil­ton-Pa­ter­son kon­stru­iert den Ro­man in al­ter­nie­ren­der Er­zähl­per­spek­ti­ve. Das kann bei ge­konn­ter Aus­füh­rung durch­aus den Le­se­genuß stei­gern. Wenn aber die un­ter­schied­li­chen Er­zähl­fi­gu­ren kaum durch Sprach­stil und Ge­dan­ken­gän­ge von­ein­an­der zu un­ter­schei­den sind, er­zeugt es mehr denn Ver­wir­rung Lan­ge­wei­le. Zum zwei­ten Mal ver­wen­de ich nun die­ses Wort in mei­nen Zei­len über die­sen ver­meint­lich so hu­mor­vol­len Ro­man. Da wird fol­gen­des Ge­ständ­nis kei­ne Über­ra­schung sein. Ich ha­be kaum noch ge­lacht und le­dig­lich aus Pflicht­be­wusst­sein mei­nen ei­ge­nen Buch­vor­schlag run­ter­ge­würgt. Und das oh­ne ei­nen ein­zi­gen Fer­net-Bran­ca, den be­nö­ti­ge ich noch für den Literaturkreis.

Al­ler­dings hat mich Sam­pers Koch­kunst doch noch ein­mal zum La­chen ge­reizt. Als ich un­längst auf ei­nem Au­to die Auf­schrift „Nor­we­gi­sche Wild­kat­zen aus dem Na­ab­tal” las, hät­te ich mich dort ger­ne er­kun­digt, ob sie auch räu­chern würden.

Viel­leicht war es ja doch gar nicht so ein schlech­tes Buch?

Trotz­dem su­che ich im­mer noch DEN amü­san­ten Ro­man. Hin­wei­se wer­den ger­ne ent­ge­gen genommen.

Ja­mes Ha­mil­ton-Pa­ter­son, Ko­chen mit Fer­net-Bran­ca, übers. von Hans-Ul­rich Möh­ring, Klett-Cot­ta, 1. Aufl. 2005