Abhängige Verhältnisse

Clare Chambers erzählt in „Scheue Wesen“ von der Macht der Erwachsenen und der Ohnmacht von Kindern

In ALLEN GESCHEITERTEN BEZIEHUNGEN (sic!) gibt es ei­nen zu­nächst noch un­be­merk­ten Punkt, in dem man spä­ter je­doch den An­fang vom En­de er­kennt. Für He­len war es das Wo­chen­en­de, an dem der Ver­steck­te Mann nach West­bu­ry Park kam.“

 Die­ser ers­te Satz in ge­ra­de­zu tol­stoi­schem Ton be­nennt die Haupt­the­men von Cla­re Cham­bers neu­em Ro­man „Scheue We­sen“. Es sind pro­ble­ma­ti­sche Be­zie­hun­gen, ge­prägt von Ab­hän­gig­kei­ten, und ei­ne kas­par-hau­ser-ar­ti­ge Fi­gur, de­ren at­tri­bu­ier­te Rät­sel­haf­tig­keit das In­ter­es­se der Le­se­rin weckt. Die Ver­lags­an­kün­di­gung, es han­de­le sich „um ei­ne Lie­bes­ge­schich­te aus dem Lon­don der Sech­zi­ger“, greift viel zu kurz und wird der Kom­ple­xi­tät des Ro­mans nicht ge­recht. Um so prä­zi­ser er­scheint mir der dem eng­li­schen Ori­gi­nal ent­spre­chen­de Ti­tel „Scheue We­sen“. Er klingt ge­heim­nis­voll und greift da­durch sein wich­tigs­tes Ge­stal­tungs­ele­ment auf.

Die eng­li­sche Au­torin Cla­re Cham­bers lehr­te Eng­li­sche Li­te­ra­tur in Ox­ford und war als Lek­to­rin tä­tig. Ihr vor­lie­gen­der zwei­ter Ro­man be­ein­druckt durch die klu­ge Kon­struk­ti­on ei­ner un­ge­wöhn­li­chen Ge­schich­te. Eben­so wie in Cham­bers Erst­ling „Klei­ne Freu­den“ be­geg­nen wir ei­ner be­son­de­ren Frauenfigur.

He­lens Hans­ford ar­bei­tet noch nicht lan­ge als Kunst­the­ra­peu­tin in der psych­ia­tri­schen Kli­nik West­bu­ry Park. Ge­gen den Wunsch ih­rer El­tern hat sie ih­ren Leh­rer­be­ruf auf­ge­ge­ben, be­gibt sich je­doch in ei­ne neue Ab­hän­gig­keit, der Af­fä­re mit dem Psych­ia­ter Gil. Die­sem Ver­hält­nis ver­dankt sie zwar ei­ne neue Woh­nung, die ne­ben Kom­fort mehr Frei­heit bringt, es ver­ur­sacht aber auch je­de Men­ge Selbst­kri­tik, denn Gil ist ein ver­hei­ra­te­ter Mann, der sich kli­schee­ge­mäß nie von sei­ner Frau tren­nen wird. „Kei­ner von ih­ren Kol­le­gen, von der Kli­nik­lei­tung bis zur Sta­ti­ons­be­leg­schaft, ahn­te et­was von ih­rer Af­fä­re, und wenn He­len in sei­ner Ge­gen­wart stär­ker er­rö­te­te oder mehr als nor­mal ge­lä­chelt hat­te … na ja, so ging es je­dem, der vom vol­len Licht­strahl von Gils Auf­merk­sam­keit ge­trof­fen wur­de.“ Al­ler­dings ist He­len für das Jahr 1964, in dem der Haupt­strang der Hand­lung spielt, äu­ßerst eman­zi­piert. Die emo­tio­na­le Ab­hän­gig­keit in die­ser Lie­bes­be­zie­hung miss­fällt ihr eben­so wie die Ver­mi­schung von Ar­beits- und Lie­bes­ver­hält­nis. Doch ist es ge­nau dies, was ei­nes Ta­ges zur Be­geg­nung mit ei­nem un­ge­wöhn­li­chen Pa­ti­en­ten führt. Es ist der 37-jäh­ri­ge Wil­liam Tap­ping, der ver­wahr­lost und stumm auf­ge­fun­den und in die Kli­nik auf­ge­nom­men wird. Jahr­zehn­te­lang ver­bar­gen sei­ne Tan­ten ihn vor der Öf­fent­lich­keit bis der Tod der letz­ten ihn ihr preis­gab. Al­le­samt wa­ren von der Welt­kriegs-Zeit und den Um­stän­den zu scheu­en We­sen ver­wan­delt wor­den, Ro­se, die jung und at­trak­tiv ei­nes Ta­ges ver­schwand, El­sie, die vor ei­ni­gen Jah­ren ver­starb und schließ­lich Loui­sa, de­ren Zä­hig­keit auch ihr En­de nicht ver­hin­dern konn­te. He­len be­treut den men­schen­scheu­en Wil­liam bald in ih­ren Kunst­stun­den. „He­lens Auf­ga­be, wie man ihr in ih­rem Be­wer­bungs­ge­spräch klar­ge­macht hat­te, be­stand dar­in, ih­nen Ma­te­ria­li­en und Raum zur Ver­fü­gung zu stel­len und sie zum frei­en Aus­druck zu er­mun­tern, aber nicht, ih­nen et­was bei­zu­brin­gen oder Dia­gno­sen zu stel­len“.  Aber „von al­len pro­fes­sio­nel­len Mit­ar­bei­tern in West­bu­ry Park war sie in der ein­zig­ar­ti­gen Po­si­ti­on, die­sem ver­steck­ten Mann aus sei­ner Stumm­heit her­aus­zu­hel­fen. Nicht mal Gil hat­te so ei­nen Vor­teil.“ Als Wil­liams au­ßer­or­dent­li­ches Zei­chen­ta­lent of­fen­bar wird, be­ginnt He­len sei­ne Ge­schich­te zu erforschen.

Die­se Ge­schich­te er­zählt Cham­bers in 48 Ka­pi­teln auf gut 500 Sei­ten, in­dem sie die Haupt­hand­lung im Jahr 1964 mit den Rück­bli­cken in Wil­liams Ver­gan­gen­heit ver­knüpft. Jah­res­zah­len über den Ka­pi­teln ord­nen die Zeit­sprün­ge bis in das Jahr 1938 ein. Prä­gend für die­se Epo­che ste­hen zu­dem ei­ne Viel­zahl von Ver­wei­sen aus Li­te­ra­tur, Mu­sik und Bil­den­der Kunst. Sie öff­nen ei­nen wei­ten Spiel­raum für In­ter­pre­ta­ti­on. So be­merkt He­len ein Bild in Gils Ar­beits­zim­mer, „ein Druck von Ri­chard Dadds Schla­fen­der Ti­ta­nia, ein Ge­mäl­de, das He­len gut kann­te und zu dem sie un­ter an­de­ren Um­stän­den auch ei­ne Be­mer­kung ge­macht hät­te.“ Über ih­rem Schreib­tisch hin­ge­gen hängt Dü­rers Mel­en­co­lia. Bei­des sind Kunst­wer­ke vol­ler Sym­bo­lik, die eben­so wie der künst­li­che Ap­fel, den Gil bei ei­ner Be­geg­nung mit He­len ver­se­hent­lich aus ei­ner Obst­scha­le greift, auf die Un­echt­heit der sich an­bah­nen­den Be­zie­hung verweisen.

Cham­bers schil­dert He­lens Um­gang mit den Pa­ti­en­ten wäh­rend der Kunst­the­ra­pie em­pa­thisch, das gilt auch für die Sze­nen aus der iso­lier­ten Kind­heit Wil­liams. Die­se ver­brach­te er fern von Kon­tak­ten oder gar an­de­ren Kin­dern. Sei­ne Tan­ten agier­ten le­dig­lich als ver­wal­ten­den Be­treue­rin­nen. Ein kur­zer In­ter­nats­be­such al­ler­dings und ein Fe­ri­en­auf­ent­halt bei ei­nem Schul­ka­me­ra­den lie­ßen ihn er­ah­nen, was Fa­mi­lie be­deu­ten kann.

Die Par­al­le­len in den Ge­schich­ten ih­rer Fi­gu­ren deu­tet die Au­torin zu­nächst nur an, führt die­se dann zu­sam­men und er­grün­det schließ­lich das Ge­heim­nis von Wil­liams Schick­sal. Ihr Au­gen­merk gilt den Ver­hält­nis­sen. Per­sön­li­che Frei­heit und ge­gen­sei­ti­ge Ach­tung stellt sie Ab­hän­gig­keit und Un­ter­drü­ckung ent­ge­gen. Das gilt für das Ver­hält­nis von Mann und Frau, ins­be­son­de­re für das zwi­schen Er­wach­se­nen und Kin­dern so­wie Psych­ia­tern und Pa­ti­en­ten. Die El­tern-Kind-Be­zie­hung scheint Cham­bers be­son­ders wich­tig. „Wie macht­los Kin­der doch wa­ren, al­len Schrul­len ih­rer El­tern auf Ge­deih und Ver­derb aus­ge­lie­fert. Kein Wun­der, dass sie sich an ih­re Spiel­zeug­pis­to­len klam­mer­ten.“ Wir be­geg­nen im Ro­man meh­re­ren der­ar­ti­gen Kon­stel­la­tio­nen. He­len, die sich be­reits von den An­sprü­chen ih­rer El­tern eman­zi­piert hat, ver­folgt als teil­neh­men­de Be­ob­ach­te­rin, wie ih­re Nich­te Lor­raine un­ter dem el­ter­li­chen Druck der­art lei­det, daß auch sie ei­ne Pa­ti­en­tin in West­bu­ry Park wird. He­len er­lebt bei ei­nem Abend­essen, wie selt­sam Gil und des­sen Frau Kath­le­en ih­re Kin­der be­han­deln und sie er­fährt durch ih­re Re­cher­chen, wel­che Fol­gen die man­geln­de Für­sor­ge der Tan­ten auf Wil­liam hat­ten. „Ich ver­su­che doch nur, ihn zu be­schüt­zen“, sag­te ei­ne von ih­nen. „Ist nicht al­les, was ich tue, nur zu Wil­liams Bestem?“

Ge­gen En­de taucht ein El­tern­paar auf, das als Ge­gen­ent­wurf zu den bis­he­ri­gen Bei­spie­len gel­ten kann. Cham­bers idea­li­siert sie in ge­ra­de­zu mär­chen­haf­ter Wei­se. Doch war­um nicht? Sie sei­en dem Ro­man, sei­nen Fi­gu­ren, sei­nen Le­sern und Le­se­rin­nen gegönnt.

Im Nach­wort weist die Au­torin­nen dar­auf hin, daß die Idee für ih­ren Ro­man auf ei­ner Ge­schich­te grün­det, die sich 1952 er­eig­net hat. Zei­tun­gen ti­tel­ten da­mals „Das Haus der Ge­heim­nis­se gibt sei­nen ver­lo­re­nen Mann preis“. Cham­bers ver­setzt die Ge­schich­te in das Jahr 1964, da die­ses ei­nen Wen­de­punkt in der Psy­cho­lo­gi­schen The­ra­pie dar­stellt. Ei­ne Li­te­ra­tur­lis­te zu die­sem The­ma fügt sie an.

Clare Chambers, Scheue Wesen, übers. v. Wibke Kuhn, Eisele Verlag 2024

Protokoll einer Zerrüttung

CoverLjuba Arnautović macht in „Erste Töchter“ aus großen Leben eine kleine Geschichte

Spä­ter hat er über sein Le­ben ein Buch ge­schrie­ben und dar­über, wie po­li­ti­sche Ver­hält­nis­se mensch­li­che Schick­sa­le bestimmen.“

Die­ses Zi­tat könn­te das Mo­tiv von Lju­ba Ar­n­au­to­vićs Schrei­ben sein und so­mit auch das ih­res Buchs „Ers­te Töch­ter“. Zu­ge­schrie­ben hat sie es Wolf­gang Le­on­hard, ei­ner ih­rer Ne­ben­fi­gur, der durch sei­nen au­to­bio­gra­phi­schen Be­richt „Die Re­vo­lu­ti­on ent­lässt ih­re Kin­der“ be­kannt wur­de. Au­to­bio­gra­phisch ist auch Ar­n­au­to­vićs Werk. Wie be­reits in „Im Ver­bor­ge­nen“ und in „Ju­ni­schnee“ er­zählt die in Wien le­ben­de und 1954 in Kursk ge­bo­re­ne Au­torin von ih­rer Fa­mi­lie, die, so der Klap­pen­text, vom „Dra­ma des 20. Jahr­hun­derts in Wien, Mos­kau und im Gu­lag“ ge­prägt wur­de. Der letz­te Band die­ser Tri­lo­gie fügt Mün­chen als Hand­lungs­ort hinzu.

Dort lebt Karl mit sei­ner neu­en Frau und ei­ner sei­ner ers­ten Töch­ter. Zu­vor hat­te er die­se und ih­re jün­ge­re Schwes­ter erst von de­ren Mut­ter Ni­na, dann von der Er­satz­mut­ter Eri­ka ge­trennt und nun so­gar von­ein­an­der. La­ra geht nach Wien, Lu­na bleibt in Mün­chen. Ei­ne Kon­stel­la­ti­on wie in Erich Käst­ners „Pro­to­koll ei­ner Zer­rüt­tung“ weiterlesen

Willkommen im Auenland“

Markus Thielemann erzählt in „Von Norden rollt ein Donner” auf spannende Weise über die Ambivalenz eines vermeintlichen Idylls

Un­ten drän­gen sich die Tie­re an­ein­an­der. He­ra und Kasch, die bei­den Hüte­hun­de, um­krei­sen den Pulk. Jan­nes blickt hin­un­ter, die Be­we­gun­gen er­in­nern ihn an Bil­der aus ei­ner Do­ku­men­ta­ti­on über den Welt­raum. Wie Mon­de oder Pla­ne­ten krei­sen sie um die Her­de, das Zen­trum des Alls. Und dann schweift er ab: er hat sei­nen ei­ge­nen dunk­len Wan­de­rer, ei­nen Ge­dan­ken, der seit Ta­gen kommt und geht auf el­lip­ti­scher Bahn, des­sen Gra­vi­ta­ti­on drückt und lähmt, bis ihn die Flieh­kraft ein­mal mehr zu­rück in die Nacht schleu­dert: Pa­pa geht zum Arzt.“

Die Welt, in der Jan­nes kreist, ist ei­ne be­grenz­te. Es ist die Hei­de süd­lich von Lü­ne­burg, in der er mit den Schnu­cken des Fa­mi­li­en­be­triebs um­her­zieht. Fa­mi­lie und Tra­di­ti­on ma­chen ihn zum Schä­fer in die­ser ver­meint­lich idyl­li­schen Land­schaft. Ei­ne Su­che nach der ei­ge­nen Iden­ti­tät, wie sie sei­ne Al­ters­ge­nos­sen un­ter­neh­men, ist un­ter die­sen Um­stän­den nicht nur nicht nö­tig, son­dern un­mög­lich. Das Le­ben scheint vor­ge­zeich­net für den 19-jäh­ri­gen Prot­ago­nis­ten in „Von Nor­den rollt ein Don­ner“, dem zwei­ten und für den dies­jäh­ri­gen Deut­schen Buch­preis no­mi­nier­ten Ro­man des jun­gen Au­tors Mar­kus Thie­le­mann.

Auch wenn der Ti­tel, wie die ört­li­chen Ge­ge­ben­hei­ten und der Ver­lauf der Ge­schich­te zei­gen, in dop­pel­ter Wei­se deut­bar ist, er­zeugt er zu­nächst ei­nen star­ken Be­zug zur Na­tur. Die Na­tur be­stimmt den Be­ruf des Schä­fers, in­dem sie mit Wet­ter und Jah­res­zei­ten den Rhyth­mus dik­tiert. Jan­nes und sei­ne Her­de sind ab­hän­gig von der Flo­ra, dem Ge­dei­hen der Fut­ter­pflan­zen, wie von der Fau­na, die sich im Wohl der Schnu­cken und im Ge­schick der Hüte­hun­de of­fen­bart und mit dem Wolf de­ren Ha­bi­tat be­droht. Jan­nes ist ihm schon Will­kom­men im Au­en­land““ weiterlesen

Zurück zu Mutter Natur

In „Man kann auch in die Höhe fallen“ erzählt Joachim Meyerhoff von der magischen Macht seiner Mutter

Was für ein Spek­ta­kel, dach­te ich, Milch, Blut, Re­gen, Don­ner, Pla­zen­ta und Blit­ze, Mut­ter­glück, neu­es Le­ben und ein nas­ser Mann Mit­te fünfzig.“

Die­ser Satz, der ge­gen En­de von Joa­chim Mey­er­hoffs neu­em Ro­man fällt, kom­pri­miert den In­halt auf wun­der­ba­re Wei­se. Als Prot­ago­nis­ten tau­chen ein Mann Mit­te fünf­zig und sei­ne Mut­ter eben­so auf wie das Thea­ter, des­sen Spek­ta­kel Mey­er­hoff als An­ek­do­ten voll Blitz und Don­ner in­sze­niert, um mit Milch, Blut und Pla­zen­ta, ei­ne be­son­de­re le­bens­lan­ge Ver­bin­dung zu fei­ern. Sie gilt in „Man kann auch in die Hö­he fal­len“, dem sechs­ten Teil der Fa­mi­li­en­ro­man-Rei­he „Al­le To­ten flie­gen hoch“ in be­son­de­rem Ma­ße Mey­er­hoffs Mut­ter wie sei­ner ei­ge­nen Rol­le als Sohn und als Vater.

Mit sei­nen Be­ru­fen, viel­leicht soll­te man bes­ser von Be­ru­fun­gen spre­chen, ha­dert er al­ler­dings eben­so wie mit der deut­schen Haupt­stadt, die nach den Jah­ren in Wien zum neu­en Wohn­ort wur­de. Er möch­te weg von Ber­lin und von sei­nem Busi­ness. Sei­ne Schau­spie­le­rei stellt er eben­so in Fra­ge wie das Schrei­ben, das ihm mit sei­nen au­to­bio­gra­phi­schen Ro­ma­nen bis­lang stets Er­fol­ge be­schert hat. Al­les zerrt an ihm. Er fühlt sich gleich­zei­tig ge­stresst und gelähmt.

Oh­ne wirk­lich zu be­grei­fen, wie es da­zu ge­kom­men war, war ich zu ei­nem Ner­ven­bün­del ge­wor­den, des­sen Un­aus­ge­gli­chen­heit für die mir na­he­ste­hen­den Men­schen mehr und mehr zur Zu­mu­tung wur­de. (…) Angst und Lan­ge­wei­le ver­tru­gen sich ganz aus­ge­zeich­net. Nie hät­te ich es für mög­lich ge­hal­ten, dass man wo­chen­lang auf der fau­len Haut lie­gen und der­art ent­spannt vor sich hin im­plo­die­ren konn­te. Die auf dem So­fa ver­brach­ten Stun­den nah­men bi­zar­re For­men an, und oft wuss­te ich nicht mehr, wo ich auf­hör­te und die Couch be­gann. Wie ein ge­schmol­ze­ner Kä­se war ich in je­de Rit­ze des So­fas hin­ein­ge­flos­sen, hat­te das Sitz­mö­bel mit mir selbst über­ba­cken. Und doch woll­te ich mei­ne Ver­stimmt­heit nicht De­pres­si­on nen­nen oder gar Mid­life­cri­sis, denn es wa­ren ja hand­fes­te Pro­ble­me, die ich hat­te. Seit Wo­chen hat­te ich nichts ge­schrie­ben, und das, ob­wohl sich in mei­nem Kopf die Ge­schich­ten tum­mel­ten. Ber­lin al­ler­dings ent­pupp­te sich als Säu­re­bad, das tag­täg­lich mei­ne In­spi­ra­ti­on zerfraß.“

Viel­leicht ver­mag ei­ne Flucht den Kno­ten lö­sen? Der Er­zäh­ler ent­schei­det sich für nichts Ge­rin­ge­res als die Welt­flucht, die ihn aus der „Zu­rück zu Mut­ter Na­tur“ weiterlesen

Bekenntnisse einer Selbstbezogenen

Rachilde grenzt sich in „Nein, ich bin keine Feministin“ gegen die Frauen ihrer Zeit ab

Aber, wenn man dar­über nach­denkt – hat die mo­der­ne Frau über­haupt ein Ide­al? Ge­wiss, sie möch­te ihr Le­ben aus­kos­ten, lu­xu­ri­ös, oh­ne je­de an­de­re Re­li­gi­on als die ih­rer an­geb­li­chen Gleich­heit. Doch zu­gleich ist sie auch wun­der­lich, ih­rem Ge­hirn fehlt an der Stel­le et­was, wo man Gott, viel­leicht auch die Lie­be und die Lei­den­schaft ent­fernt hat. 
Sie wer­den mir sa­gen, dass der mo­der­ne Mann…
…Aber man hat mich ja nicht ge­be­ten, Ih­nen et­was vom mo­der­nen Mann zu er­zäh­len, nicht wahr?“ 

Ei­nen ver­ges­se­nen Text ei­ner hier­zu­lan­de fast ver­ges­se­nen, aber zu ih­rer Zeit be­rühm­ten Au­torin und Sa­lon­niè­re des Fin de Siè­cle neu zu über­set­zen und auf­zu­le­gen, hat Alex­an­dra Beil­harz mit dem 1928 erst­mals er­schie­nen „Nein, ich bin kei­ne Fe­mi­nis­tin“ von Ra­chil­de (1860–1953) rea­li­siert. Dem Text von knapp 100 Sei­ten geht ein Vor­wort der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin Bar­ba­ra Vin­ken vor­aus. Nach­ge­stellt fin­den sich zwei zeit­ge­nös­si­sche Re­zen­sio­nen aus dem Jahr der Ver­öf­fent­li­chung, ei­ne edi­to­ri­sche No­tiz, ein Bild­nach­weis so­wie ei­ne Kurz­bio­gra­phie über Bar­ba­ra Vin­ken. Über die Au­torin Ra­chil­de bie­tet nur der Klap­pen­text we­ni­ge Zei­len. Er­staun­lich aus­führ­li­che In­for­ma­tio­nen fin­den sich in der eng­li­schen Wi­ki­pe­dia.

Nicht nur als Em­ma-Le­se­rin der Acht­zi­ger fin­de ich ei­nen his­to­ri­schen Text, der sich mit Fe­mi­nis­mus be­schäf­tigt, in­ter­es­sant. Die Ver­lags­an­kün­di­gung spricht von ei­ner „Streit­schrift, in der sie (die Au­torin) den Fe­mi­nis­mus ih­rer Epo­che pro­vo­kant und hu­mor­voll zu­gleich be­schreibt“. Vin­ken spricht im Vor­wort gar von ei­ner „Tra­ves­tie“. Folg­lich er­war­te­te ich ein, wenn auch als Par­odie oder Sa­ti­re ver­klei­de­tes Plä­doy­er für die Gleich­be­rech­ti­gung der Frau. Mein Feh­ler oder ei­ne Fra­ge der De­fi­ni­ti­on? Viel­leicht zäh­le auch ich zu den „Be­kennt­nis­se ei­ner Selbst­be­zo­ge­nen“ weiterlesen

Anekdotenreiches Ahnen-Panorama

Der Österreicher Robert Palfrader blickt in „Ein paar Leben später“ auf seine etruskisch-ladinischen Wurzeln

Fa­mi­lie. Schwie­ri­ger Be­griff. Denn wo Fa­mi­lie be­ginnt, ist leicht de­fi­niert, aber wo hört sie auf? Denn wenn man nur acht Ge­ne­ra­tio­nen nach hin­ten blickt, sind das 256 di­rek­te Vor­fah­ren. Nicht, wenn man ein Habs­bur­ger ist, selbst­ver­ständ­lich. Da muss man mit der Hälf­te zu­frie­den sein. Aber im Nor­mal­fall sind das 256 Leu­te, die eben­falls aus eben­so vie­len Fa­mi­li­en stam­men. Wel­che die­ser Fa­mi­li­en ist jetzt die ei­ge­ne? Oder sind es alle?“

Es sind nicht nur die Da­ckel und die Etrus­ker, die mei­ne Le­se­lust auf Ro­bert Palf­ra­d­ers un­kon­ven­tio­nel­le Fa­mi­li­en­chro­nik „Ein paar Le­ben spä­ter“ ge­weckt ha­ben und für die ich aus nost­al­gi­schen Grün­den ein Fai­ble ha­be. Es ist auch das his­to­ri­sche In­ter­es­se am Le­ben in der heu­te nord­ita­lie­ni­schen Berg­re­gi­on, die vom En­de des 19. bis zur Mit­te des 20. Jahr­hun­derts, dem Hand­lungs­zeit­raum des Ro­mans, ne­ben den na­tur­ge­ge­ben exis­ten­ti­el­len Schwie­rig­kei­ten, zahl­rei­chen Kon­flik­ten aus­ge­setzt war. Palf­ra­d­ers Vor­fah­ren vä­ter­li­cher­seits stam­men aus dem la­di­ni­schen Teil Süd­ti­rols, wie der Au­tor in sei­nem Vor­wort schil­dert, das zu­dem auf die etrus­ki­schen Wur­zeln der La­di­ner ver­weist. Die­ser dop­pel­te Ah­nen­pool wird im wei­te­ren Ver­lauf als sprach­li­ches Er­be der La­di­ner und als ma­te­ri­el­les Er­be der Etrus­ker ei­ne Rol­le spie­len. Eben­so warnt Palf­ra­der, nicht al­les in sei­nem Ah­nen­me­moi­re für ba­re Mün­ze zu neh­men. „Sie ma­chen sich kei­ne Vor­stel­lung da­von, wie oft ich die Un­wahr­heit er­zäh­len wer­de müs­sen, um die Ge­schich­te der Fa­mi­lie mei­nes Va­ters glaub­haft er­schei­nen las­sen zu kön­nen. Denn die gan­ze Wahr­heit kann ich nie­man­dem zu­mu­ten, da­für ist sie zu ab­surd.“ Das weckt Er­war­tun­gen, die al­ler­dings, so­viel vor­weg, durch­aus er­füllt wer­den. „An­ek­do­ten­rei­ches Ah­nen-Pan­ora­ma“ weiterlesen

Dramarama

Céline Spierers Roman „Bevor es geschah“ erreicht den Verstrickungsgrad griechischer Tragödien

»Ich ha­be et­was mit an­ge­se­hen, was ich nicht hät­te se­hen sol­len«, sagt sie mit er­staun­lich ru­hi­ger Stim­me. On­kel John war­tet, und sein Schwei­gen er­mu­tigt sei­ne Nich­te wei­ter­zu­spre­chen. »Es be­trifft un­se­re Fa­mi­lie. Ich ha­be et­was ge­se­hen, das al­les zer­stö­ren könn­te, wenn ich es erzähle. «“

Das an Dra­men rei­che deut­sche De­büt von Cé­li­ne Spie­rer star­tet mit dem gro­ßen, ein Klein­kind wird in ei­nem Pool auf­ge­fun­den, sein Über­le­ben ist un­ge­wiss. Das Un­glück wird im fran­zö­sisch­spra­chi­gen Ori­gi­nal mit „Noya­de“ klar be­nannt. Die von Si­na de Mal­a­fo­s­se ins Deut­sche über­tra­ge­ne Aus­ga­be trägt den Ti­tel „Be­vor es ge­schah“, was zu­gleich für die Kon­struk­ti­on des Ro­mans steht.
Der Ein­stieg mit un­ge­wis­sem En­de bil­det den Aus­gangs­punkt für ei­nen Rück­blick auf den we­ni­ge Stun­den zu­vor be­gon­ne­nen som­mer­li­chen Brunch, zu dem sich die Fa­mi­lie Hay­nes je­des Jahr im Haus der Mut­ter ver­sam­melt. Ei­gent­lich ha­ben al­le kei­ne Lust da­zu, denn wie das so ist, wenn sich Ge­schwis­ter nebst An­hang im El­tern­haus zu­sam­men­fin­den, stö­ren Er­in­ne­run­gen und Er­war­tun­gen die er­hoff­te Harmonie.
So emp­fin­det es Eli­sa­beth, die Ma­tri­ar­chin, wie ih­re Kin­der sie ins­ge­heim nen­nen, eben­so ihr Sohn Win­s­ton und sei­ne „Dra­ma­ra­ma“ weiterlesen

Verdrängung

Julie von Kessel erzählt in „Die anderen sind das weite Meer“ filmreif und mit psychologischem Gespür von der späten Annäherung einer Familie

Ne­ben dem Schrank hing ein Bild, das Lu­ka vor vier­zig Jah­ren ge­malt hat­te: Drei Kin­der und zwei Er­wach­se­ne wa­ren dar­auf zu se­hen, die gan­ze Fa­mi­lie Cra­mer, von der win­zi­gen Ele­na bis zu Ma­ria mit den gro­ßen brau­nen Krin­geln auf dem Kopf. Tom be­trach­te­te es, zum ers­ten Mal fiel ihm auf, dass sie al­le Ber­ge be­stie­gen, doch je­des Fa­mi­li­en­mit­glied er­klomm sei­nen ei­ge­nen Hügel.“

Wenn El­tern äl­ter wer­den, se­hen sich Kin­der oft mit Her­aus­for­de­run­gen kon­fron­tiert. Es meh­ren sich Krank­hei­ten, wie die per­sön­lich­keits­ver­än­dern­de De­menz, die die Be­zie­hun­gen auf den Kopf stel­len. Das gilt be­son­ders für die Kon­stel­la­ti­on von Ge­schwis­tern. Man wohnt ent­fernt und sieht sich sel­ten. Wer küm­mert sich, wenn der Va­ter oder die Mut­ter Hil­fe be­nö­ti­gen? Der Not­wen­dig­keit zu han­deln steht das Ab­schie­ben von Ver­ant­wor­tung ent­ge­gen. Kon­flik­te schei­nen unvermeidlich.

So er­geht es Lu­ka, Tom und Ele­na, als sie er­fah­ren, daß ihr Va­ter zu­neh­mend de­ment wird und in der Nach­bar­schaft her­um­irrt. Hans war einst als Bot­schaf­ter des Aus­wär­ti­gen Amts in Me­xi­ko. Dort lern­te er „Ver­drän­gung“ weiterlesen

Die „schwer erträgliche Leichtigkeit des Cancelns“

In „Der Entmündigte Leser“ führt Melanie Möller einen „leidenschaftlichen Kampf für die Autonomie der Literatur“

Sie ver­ge­hen sich an Kunst und Li­te­ra­tur, und sie wol­len (Literatur)Geschichte um­schrei­ben, in­dem sie sie mo­ra­lisch be­rei­ni­gen, mö­gen die Grün­de für ihr Vor­ge­hen auch mit der Zeit wechseln.“

Ab der Mit­te des 18. Jahr­hun­derts wur­de es in Mu­se­en mo­dern, Stau­en der klas­si­schen An­ti­ke mit Blät­tern zu ver­se­hen, auf daß sie der­art be­klei­det den Blick der Be­trach­ter sitt­sam er­freu­en. Ein Blatt aus Blech, Gips oder Pap­pe ver­hüll­te die Scham ei­nes Apolls oder ei­ner Aphro­di­te, falls die­se es als Ve­nus pu­di­ca nicht gleich selbst be­sorg­te. Zwi­schen den ge­spreiz­ten Bei­nen des da­hin­ge­fläz­ten Bar­ber­ini­schen Fauns brauch­te es so­gar ein mehr­blätt­ri­ges Kon­strukt, String­tan­ga gleich am mar­mor­nen Glu­teus Ma­xi­mus ver­drah­tet. Die al­ten Grie­chen hät­ten sich mehr als ge­wun­dert. Sie dach­ten an An­be­tung und Äs­the­tik, Re­prä­sen­ta­ti­on und Krea­ti­vi­tät. Un­zucht, wie die christ­li­chen Be­trach­ter der nach­fol­gen­den Jahr­hun­der­te die „Die „schwer er­träg­li­che Leich­tig­keit des Can­celns““ weiterlesen

Die Geschichte vom verschwundenen Robert

Der neuaufgelegte Roman „Der Tag, an dem ich meinen toten Mann traf” von Andrea Paluch und Robert Habeck erweist sich im Rückblick als geradezu hellsichtig

Ei­nes Abends frag­te Ro­bert mich, wel­che drei Wün­sche ich aus­schla­gen wür­de, wenn ich wel­che frei hät­te. Aus der Dun­kel­heit pras­sel­te der Re­gen auf die Dach­fens­ter. Mei­ne Au­gen trän­ten, so mü­de war ich. Ich ant­wor­te­te, dass der Tag zwei Stun­den län­ger dau­ert, dass du mir sol­che Fra­gen stellst und dass al­les an­ders wird.“

Ein gu­ter An­fang ver­führt zum Wei­ter­le­sen. Das gilt auch für die­se ers­ten Sät­ze, die das Bild ei­ner glück­li­chen Be­zie­hung leicht ver­klau­su­liert und mit Hu­mor for­mu­lie­ren. Sie stei­gern die Er­war­tungs­hal­tung, doch wird sie auch erfüllt?

Die Neu­gier­de, wel­che Art von fik­tio­na­ler Li­te­ra­tur der am­tie­ren­de Wirt­schafts-Mi­nis­ter ver­fass­te, ließ mich zu die­sem Buch grei­fen. Ro­bert Ha­beck hat be­reits ei­ni­ge Ro­ma­ne ge­schrie­ben, die meis­ten ge­mein­sam mit An­drea Pa­luch, sei­ner Frau. Der vor­lie­gen­de mit dem ver­hei­ßungs­vol­len Ti­tel „Der Tag, an dem ich mei­nen to­ten Mann traf“ er­schien erst­mals im Jahr 2005 und wur­de drei Jah­re spä­ter ver­filmt. Kaum ge­schmä­lert wur­de mein In­ter­es­se durch die Tat­sa­che, daß der „to­te Mann“, der im Ro­man auf un­ter­schied­li­che Wei­sen äu­ßerst vi­tal wirkt, aus­ge­rech­net den Na­men „Ro­bert“ trägt. Hu­mor „Die Ge­schich­te vom ver­schwun­de­nen Ro­bert“ weiterlesen