Gehen und Verstehen

Andreas Schäfers „Die Schuhe meines Vaters“ ist Trauerritual und Totengesang zugleich

Ge­den­ken oh­ne Wor­te. Er­in­nern­der Ab­schied durch Wie­der­ho­lung von Hand­grif­fen und Ge­wohn­hei­ten. Ist es nicht so, als wür­de man da­bei in die Leer­form hin­ein­schlüp­fen, die der Ver­stor­be­ne hin­ter­las­sen hat?

Ich hat­te das Be­dürf­nis, We­ge des Va­ters in sei­nem Na­men zu ge­hen, in Grie­chen­land, dort wo er in den letz­ten Jah­ren sei­nes Le­bens viel­leicht am glück­lichs­ten war.“

Schu­he spie­len in die­sem Buch in zwei­fa­cher Hin­sicht ei­ne Rol­le. Zum ei­nen er­in­nern sie an die Ein­sicht, man sol­le nicht über ei­nen an­de­ren ur­tei­len, be­vor man ei­ne Wei­le in des­sen Schu­hen ge­lau­fen ist. Zum an­de­ren han­delt „Die Schu­he mei­nes Va­ters“ ganz kon­kret von den Ex­em­pla­ren, die der Sohn, An­dre­as Schä­fer, nach dem Tod sei­nes Va­ters aus dem Kran­ken­haus mit­ge­nom­men hat. Der rea­le und der über­tra­ge­ne Aspekt zei­gen sich in die­sem Er­in­ne­rungs­buch auf viel­fäl­ti­ge Wei­se, in Rück­bli­cken auf die Per­son des Va­ters, auf sei­ne Bio­gra­fie, sei­ne Prä­gun­gen und ins­be­son­de­re auf die Be­zie­hung zu sei­nem Sohn.

Zu­nächst er­zählt Schä­fer von der Zeit kurz vor dem Tod des Va­ters, von sei­nen Ge­füh­len der Ver­ant­wor­tung und Ver­pflich­tung, aber auch der Hilf­lo­sig­keit, die ihn be­fal­len, als er vom Tu­mor er­fährt, der im Kopf sei­nes Va­ters ent­deckt wur­de. Die auf bei­den Sei­ten herr­schen­de nicht nur räum­li­che Di­stanz führt zur Un­si­cher­heit im Um­gang, die bei­de gut zu ka­schie­ren wis­sen. So ver­läuft der letz­te Be­such des Va­ters bei sei­nem Sohn in Ber­lin wie ge­wohnt, der Va­ter über­nach­tet im Ho­tel, er trifft sich mit dem Sohn im Ca­fé und macht Aus­flü­ge mit der En­ke­lin. Dann kehrt er zur an­ste­hen­den Bi­op­sie nach Frank­furt zu­rück. Die­se läuft auf fa­ta­le Wei­se schief. Nach ei­nem An­ruf aus dem Kran­ken­haus macht sich An­dre­as Schä­fer auf, um die letz­ten Din­ge zu re­geln, be­glei­tet von sei­ner Mut­ter, die von ih­rem Mann ge­trennt, aber ihm freund­schaft­lich ver­bun­den ist. Seit 30 Jah­ren lebt die Grie­chin mit ih­rem jün­ge­ren Sohn wie­der in der Hei­mat. Der Va­ter lebt seit­dem al­lei­ne in Frank­furt. Viel­leicht ist es das, was sein aus­ufern­des Mit­tei­lungs­be­dürf­nis för­dert. Sein Sohn An­dre­as fühlt sich des­we­gen vom Va­ter oft nicht wahr­ge­nom­men. Erst als er selbst ei­ne Fa­mi­lie grün­det, nä­hern sie sich ein­an­der an.

Am Bett des im Ko­ma lie­gen­den Va­ters, beim Be­tre­ten der Va­ter­woh­nung, beim Be­such al­ter Be­kann­ter und dem eins­ti­gen Wohn­ort über­wäl­ti­gen den Sohn die Er­in­ne­run­gen. Er fürch­tet „von ei­nem Zeit­loch ver­schlun­gen und er­neut als Ju­gend­li­cher aus­ge­spuckt zu wer­den“. Und doch muss er die Ent­schei­dung tref­fen, ob und wann die Ge­rä­te ab­ge­schal­tet wer­den und sein Va­ter ster­ben kann. „Wie da­mit um­ge­hen, wenn ei­nem das Le­ben des ei­ge­nen Va­ters in die Hän­de ge­legt wird? Wie sich ver­ab­schie­den, wenn man den Zeit­punkt selbst be­stim­men soll?“ Un­ter al­len Ge­füh­len, die ihm die­se Ent­schei­dung er­schwe­ren, wiegt wohl die Scham am stärks­ten. Scham über das Ver­hal­ten des Va­ters, des­sen Jäh­zorn die Ehe zum Schei­tern brach­te und den Um­gang mit den Söh­nen er­schwer­te. Die dunk­le Sei­te des „waid­wun­den und fauch­be­rei­ten Not­wehr­va­ters“, schre­cken eben­so wie ihr Ge­gen­teil, wenn der „vor Be­geis­te­rung ju­beln­de Va­ter“ an­de­ren je­den Raum nimmt. Die Ur­sa­chen deckt An­dre­as Schä­fer in klei­nen Schrit­ten auf. Da war der Bruch mit den El­tern, als sein Va­ter ei­ne Grie­chin hei­ra­te­te, so­wie die in der Kriegs­kind­heit lie­gen­den Ver­let­zun­gen und Ein­sam­keit. Ur­sa­chen für ein schwa­ches Selbst­wert­ge­fühl, das ob­gleich meis­ter­haft ver­bor­gen, leicht explodierte.

Nach dem Tod des Va­ters taucht Schä­fer in des­sen bio­gra­fi­sches Ver­mächt­nis ein. Er hofft, die im­mer noch spür­ba­re Bar­rie­re zu über­win­den. Da­zu zählt der Va­ter-Pas­si­on des wan­dern­den Er­kun­dens zu fol­gen. Der Sohn schlüpft in die Schu­he sei­nes Va­ters, um sein To­ten­ri­tu­al zu voll­zie­hen. Dies be­ginnt in Frank­fur­ter Ge­fil­den, noch auf dem Ster­be­bett bringt er ihm die Es­sen­zen des Tau­nus dar, „hier nimm: der Ne­bel, die Wol­ken, der Duft von Fich­ten­na­deln“, und en­det an den Ge­sta­den Grie­chen­lands. Dort folgt er dem letz­ten Pro­jekt des Va­ters, die Er­kun­dung der be­wohn­ten Inseln.

Die ver­schie­de­nen Hand­lungs­ebe­nen des Ro­mans un­ter­schei­den sich nicht nur in ih­rer Chro­no­lo­gie. Für die bio­gra­fi­schen Schil­de­run­gen des Va­ter­le­bens greift der Sohn auf Ta­ge­bü­cher und No­ti­zen des Va­ters zu­rück, die­se er­gänzt er mit ei­ge­nen Er­in­ne­run­gen, ver­blei­ben­de Lü­cken füllt er durch Imaginiertes.

An­dre­as Schä­fer ge­lingt „das Vor­ha­ben, Ge­hen, Er­in­nern und Schrei­ben mit­ein­an­der zu ver­schrän­ken“ auf be­ein­dru­cken­de Wei­se. Müt­ter­li­cher­seits nicht nur mit der Spra­che der Grie­chen ver­traut, in­te­griert er auch Ele­men­te der an­ti­ken My­tho­lo­gie in sei­nem Ro­man. Mehr­mals be­geg­net er der „Va­ter­er­schei­nung“, die ihm auf schwie­ri­gen We­gen beisteht.

Die Schu­he mei­nes Va­ters“  ist Trau­er­ri­tu­al und To­ten­ge­sang zu­gleich. Die letz­te Be­geg­nung des Sohns mit dem Eido­lon des Va­ters fin­det auf dem Gip­fel des Zas in Na­xos statt, wo ei­ne Höh­le in den Ha­des füh­ren soll. Es scheint, als hät­ten bei­de dort nach dem Jahr der Trau­er ih­ren Frie­den geschlossen.

Andreas Schäfer, Die Schuhe meines Vaters, Dumont Buchverlag 2022

 

 

Streben nach Selbstgeißelung

In „Der gewöhnliche Mensch“ erzählt Lena Andersson Gesellschaftsgeschichte als Individualgeschichte

Er ging hin­aus in den Werk­raum, um sau­ber zu ma­chen, und fühl­te sich ein­sam, wäh­rend er dort stand und das Werk­zeug zu­rück an die rich­ti­gen Ha­ken häng­te. Er hat­te die Stim­mung ver­dor­ben, und es war an ihm, al­les wie­der­gut­zu­ma­chen. Er hat­te nicht dar­um ge­be­ten, so viel Macht zu ha­ben. Die Fa­mi­lie be­griff nicht, wie macht­los er sich fühl­te, wie tief ihn sei­ne Angst vor der Welt durch­drang, in der sie al­le vier leb­ten und er nichts an­de­res woll­te, als dass sei­ne Kin­der nicht vom Weg ab­ka­men. Er ver­such­te die Fall­gru­ben auf­zu­zei­gen, ih­nen recht­zei­tig klar­zu­ma­chen, dass es für nor­ma­le Men­schen kei­nen Spiel­raum zum Trö­deln und für Neu­an­fän­ge gab.“

Wer kennt nicht so eine*n? Ge­rech­tig­keit und Kor­rekt­heit ste­hen bei ihm an ers­ter Stel­le. Al­les wird re­gu­liert und re­gle­men­tiert. Er trinkt nicht, isst ge­sund, fährt nie weg und gibt kaum Geld aus. Sein Hang zur As­ke­se zeigt sich je­doch nicht nur im Kon­sum, son­dern auch im Den­ken, das durch in­ne­re Selbst­kon­trol­le auf engs­ten Bah­nen ver­läuft. Ein sol­ches Le­ben ver­kör­pert das pie­tis­ti­sche Ide­al des Schma­len Wegs. Steil und stei­nig führt er auf den An­dachts­bil­dern ganz nach oben, wo die Folg­sa­men im Him­mel das er­hof­fen, was sie sich auf Er­den ver­sa­gen. An­de­re fin­den auf be­que­me­ren Pfa­den Lust, Ge­nuss und Freu­de. Es mag sein, daß sie das pie­tis­ti­sche Pa­ra­dies nie er­rei­chen, doch wie heißt es so schön, der Weg ist das Ziel.

Rag­nar Jo­hans­son, der Held in Le­na An­ders­sons neu­em Ro­man „Der ge­wöhn­li­che Mensch“ lebt, ob­schon als schwe­di­scher So­zi­al­de­mo­krat athe­is­tisch, die kar­ge Va­ri­an­te. Am Bei­spiel die­ses Zeit­ge­nos­sen liest die zwi­schen Mit­leid und Ab­nei­gung schwan­ken­de Le­se­rin ei­ne Chro­nik der „Stre­ben nach Selbst­gei­ße­lung“ weiterlesen

So könnte es gewesen sein“

In einer dunkelblauen Stunde“ errichtet Peter Stamm „ein verwinkeltes Gedankengebäude“, in dem die Leserin „auf Entdeckungstour geht“

Nicht der Au­tor er­zählt, al­le Men­schen und Er­eig­nis­se erzählen.“
„Es geht beim Schrei­ben nicht dar­um, et­was zu ma­chen, son­dern et­was zu finden.“
„Die Wirk­lich­keit schreibt kei­ne Ge­schich­ten. In der Fik­ti­on kann man nicht le­ben, aber auch nicht sterben.“

Wel­che Er­war­tun­gen weckt Li­te­ra­tur? Wie wirkt sie? Wie kann man dar­über re­den? Fra­gen, die sich mir beim Le­sen und Schrei­ben stel­len und die wäh­rend un­se­rer Dis­kus­sio­nen im Li­te­ra­tur­kreis oft gro­ße Ver­blüf­fung aus­lö­sen. Wer sich mit his­to­ri­schen Tex­ten be­schäf­tigt, neigt zur Ana­ly­se. Wer hat wann was wem und vor al­len Din­gen war­um ge­sagt? Erst wenn dies ge­klärt ist, kann man Rück­schlüs­se zie­hen und in­ter­pre­tie­ren. Bei ei­nem li­te­ra­ri­schen Text al­ler­dings kann die Ana­ly­se be­reits die In­ter­pre­ta­ti­on sein, falls er so ge­baut ist wie Pe­ter Stamms Ro­ma­ne al­le­mal. Die elen­de Gret­chen­fra­ge „was will uns der Au­tor da­mit sa­gen“ führt bei Stamm ins La­by­rinth, Ari­ad­ne­fa­den nicht in Sicht.

Pünkt­lich zu sei­nem sech­zigs­ten Ge­burts­tag legt der Schwei­zer Pe­ter Stamm sei­nen neu­en Ro­man vor. Das Ge­schenk an sich selbst wie an sei­ne Le­ser raunt ge­heim­nis­voll „In ei­ner dun­kel­blau­en Stun­de“ und ist in ei­nem be­son­de­ren Pa­pier ver­packt, wel­ches das Por­trät „Pe­ter Stamm“ der Ma­le­rin An­ke Dober­au­er zeigt. Als Schrift­stel­ler be­kannt wur­de Stamm durch So könn­te es ge­we­sen sein““ weiterlesen

Im „Land der singenden Zitronen”

Azzurro — Eric Pfeils vielstimmiger Lobgesang auf den Canzone

Aus­ge­rech­net ein CDU-Po­li­ti­ker war Eric Pfeils In­itia­ti­ons­meis­ter. Wolf­gang Bos­bach führ­te den da­mals noch sehr jun­gen Pfeil und des­sen El­tern vom be­schau­li­chen Ber­gisch Glad­bach per Bus in die Me­tro­po­le Rom, wo Pfeil von „zu­viel Son­ne, zu viel Hek­tik, zu viel Es­sen, zu viel Schön­heit, zu viel al­les“ ge­flasht wur­de. „Ita­li­en ist ein Zu­viel-Land“, er­kennt er und legt in Az­zur­ro ent­spre­chend viel Mu­sik auf.

Kein Wun­der, daß er 100 ita­lie­ni­sche Songs, un­ge­rech­net der ne­ben­bei er­wähn­ten, für sei­nen mu­si­ka­li­schen Ci­ce­ro­ne aus­wählt. Zu viel, könn­te aus­ru­fen, wer es wie ich mit Meis­ter Busch hält, doch manch­mal un­ter­liegt die Sehn­sucht nach Stil­le der nach Ita­li­en. Ich war schon lan­ge nicht mehr dort, erst kam die Pan­de­mie, dann muss­ten dä­ni­sche Ver­wand­te in Schwe­den be­sucht wer­den. Was bleibt nun im blei­grau­en, feucht­kal­ten Ja­nu­ar, in dem noch nicht ein­mal in der Woh­nung woh­li­ge Wär­me wartet?

Die­se stellt sich per for­tu­na mit Pfeils klei­nem Füh­rer durch die Kul­tur­ge­schich­te des Can­zo­ne so­fort ein. In lo­cke­rem Ton lässt der Mu­sik­jour­na­list dar­in Bel­can­to, Rock und Pop vor­bei fla­nie­ren und gar­niert die­se mit „Im „Land der sin­gen­den Zi­tro­nen”“ weiterlesen

Vom Warten zur Schnecke gemacht

Antonio Muñoz Molina erzählt in „Tage ohne Cecilia“ vom Abdriften eines unzuverlässigen Erzählers

Dank der Ap­ly­sia, ei­nes be­hä­bi­gen Tie­res, das nur über fünf­hun­dert Neu­ro­nen und höchs­tens sie­ben­tau­send Syn­ap­sen ver­fügt, konn­te der Gro­ße Chef von Ce­ci­li­as La­bor die mo­le­ku­la­ren Me­cha­nis­men zur Bil­dung von Kurz- und Lang­zeit­ge­dächt­nis ent­de­cken. Ce­ci­lia hat mich ge­lehrt, mei­ne ge­ne­ti­schen Fa­mi­li­en­ban­de mit Rie­sen­schne­cken, wei­ßen Rat­ten und Frucht­flie­gen zu ak­zep­tie­ren. In ih­rer pri­mi­ti­ven Träg­heit re­agiert die Ap­ly­sia auf Schmerz und lernt aus den Strom­schlä­gen. Ich fra­ge Ce­ci­lia, was die Schne­cke in die­sem Au­gen­blick fühlt, wie sie die Welt wahr­nimmt, was sie sieht, hört und fühlt und ob sie sich an Din­ge er­in­nern kann, ob sie schläft oder wacht, ob sie träumt.“

Sei­ne Ner­ven und Syn­ap­sen, sein Kurz- und Lang­zeit­ge­dächt­nis, kurz die kom­ple­xen Vor­gän­ge sei­nes Hirns ma­chen der Haupt­fi­gur in An­to­nio Mu­ñoz Mo­li­nas Ro­man „Ta­ge oh­ne Ce­ci­lia“ zu schaf­fen. Die in­ne­re Stim­me des Prot­ago­nis­ten, erst am En­de er­fah­ren wir sei­nen Na­men, Bru­no, re­flek­tiert sein Er­le­ben und Er­in­nern, sei­ne Sehn­süch­te und Träu­me. Es han­delt sich um ei­nen äu­ßerst un­zu­ver­läs­si­gen Er­zäh­ler, was im Lau­fe des Ro­mans, der auf knapp 300 Sei­ten ho­he Kom­ple­xi­tät ent­fal­tet, im­mer deut­li­cher wird. Ne­ben der Fra­ge, wo zum Teu­fel Ce­ci­lia bleibt, ent­steht ein „Vom War­ten zur Schne­cke ge­macht“ weiterlesen

Der Mensch träumt oft vom Ort, aus dem er floh

In „Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt“ erzählt Usama Al Shahmani vom Erinnern und Suchen

In ei­nem Baum ent­deckt er klei­ne Vö­gel, die sich stumm zwi­schen den Äs­ten be­we­gen, dann flie­gen sie ei­ner nach dem an­de­ren zum nächs­ten. Sie sind die ein­zi­ge Be­we­gung in der kal­ten Win­ter­land­schaft. Von Baum zu Baum ver­las­sen sie ih­ren Schat­ten in den Äs­ten und ver­schwin­den all­mäh­lich in der Fer­ne. Wie ver­stän­di­gen sie sich? Wo­hin sind sie unterwegs?“

Vö­gel spie­len ei­ne be­son­de­re Rol­le in Usa­ma Al Sh­ah­ma­nis neu­em Ro­man. Sei es der Riff­rei­her, den die Ira­ker Gar­nuk, Vo­gel des Glücks, nen­nen, oder Tat­ua, der Vo­gel des Un­glücks, oder sei­en es die klei­nen Vö­gel auf ei­nem Baum in der Schweiz. Laut dem Ti­tel „Der Vo­gel zwei­felt nicht am Ort, zu dem er fliegt“ wis­sen sie ge­nau, wo­hin sie zie­hen wer­den, wenn der Wech­sel der Jah­res­zei­ten be­vor­steht. Ihr ge­ne­ti­scher Kom­pass ist un­fehl­bar. Er wird ih­nen al­ler­dings zum Ver­häng­nis, wenn der Mensch ih­re Le­bens­be­din­gun­gen in den Ziel­ge­bie­ten zer­stört. Als Bei­spiel er­in­nert Al Sh­ah­ma­ni an „Der Mensch träumt oft vom Ort, aus dem er floh“ weiterlesen

Scheinbar ausheimisch“

Warum Anna Kims „Geschichte eines Kindes“ auch als Roman über das Recht auf Abtreibung gelesen werden kann

Ent­we­der be­lü­ge ich mich selbst und ver­leug­ne mei­ne Her­kunft, er­klär­te sie, oder – sie woll­te sich nicht da­von über­zeu­gen las­sen, dass ich in mir haupt­säch­lich mich selbst sah, we­der ei­ne Asia­tin noch ei­ne asia­ti­sche Ös­ter­rei­che­rin, son­dern Fran, sim­ply Fran (…)“

Ich ha­be nie ver­stan­den, war­um die Her­kunft mei­ner Mut­ter schwe­rer wie­gen soll als die mei­nes Vaters.“

Der nüch­tern klin­gen­de Ti­tel, „Ge­schich­te ei­nes Kin­des“, ent­spricht der Form des neu­en Ro­mans von An­na Kim. Sie ver­knüpft dar­in die Er­leb­nis­se der Ich-Er­zäh­le­rin Fran­zis­ka, ei­ner ös­ter­rei­chi­schen Au­torin, die 2013 ein Jahr als Wri­ter in Re­si­dence am St. Ju­li­an Col­lege in Green Bay ver­bringt, mit Ak­ten­ein­trä­gen aus den 1950er Jah­ren. Die­se schil­dern das Schick­sal Dan­nys, ei­nes zur Ad­op­ti­on frei­ge­ge­be­nen Jun­gen un­kla­rer Her­kunft. Bei­de, Fran­zis­ka und Dan­ny, ver­bin­det, daß sie Schein­bar aus­hei­misch““ weiterlesen

Land der Erinnerung“

Abdulrazak Gurnah erzählt in „Ferne Gestade“, wie die Zeit die Erinnerung zerstückelt und ein Duft sie wieder zusammenfügt

Viel­leicht wä­re ich so­gar vor die­ser Er­in­ne­rung da­von­ge­lau­fen, be­vor sie über­mäch­tig wur­de und mich über­wäl­tig­te und an­de­re Ge­dan­ken in mir wach­rief, die ich bis­her ver­läss­lich ver­drängt hat­te. Im Lau­fe der Zeit sind so vie­le kla­re, deut­lich um­ris­se­ne Ein­zel­hei­ten un­scharf und ver­schwom­men ge­wor­den. Viel­leicht ist es das, was das Alt­wer­den be­deu­tet. Und mög­li­cher­wei­se be­steht die Wir­kung von Son­ne und Wind dar­in, ei­ne Ein­zel­heit nach der an­de­ren aus dem Bild zu lö­schen und das Bild selbst in den pel­zi­gen Schat­ten sei­ner selbst zu ver­wan­deln. Trotz­dem blei­ben nach all dem Ver­blas­sen und Ver­schwim­men noch so vie­le Ein­zel­hei­ten er­hal­ten, die ei­nem nun als noch kar­ge­re Teil­chen des Gan­zen er­schei­nen: ein war­mer Aus­druck in den Au­gen, wenn man sich an das Ge­sicht nicht mehr er­in­nern kann, ein Ge­ruch, der die Er­in­ne­rung an ei­ne Mu­sik wach­ruft, de­ren Me­lo­die nicht mehr län­ger fass­bar ist, die Er­in­ne­rung an ein Zim­mer, wenn man das Haus oder sei­nen Stand­ort ver­ges­sen hat, ei­ne Wei­de am Stra­ßen­rand in­mit­ten ei­ner gro­ßen Lee­re. Auf die­se Wei­se zer­stü­ckelt und ver­stüm­melt die Zeit die Bil­der un­se­res Lebens.“

Wie ent­steht Er­in­ne­rung? Ver­än­dert sie sich mit den Jah­ren? Und was er­weckt sie wie­der? Ab­hän­gig von der Wahr­neh­mung und der Ver­ar­bei­tung ent­steht im Lau­fe der Zeit ein au­to­bio­gra­phi­sches Ge­dächt­nis, an dem un­se­re Phan­ta­sie auf nicht un­be­trächt­li­che Wei­se be­tei­ligt ist. So kann es ge­sche­hen, daß zwei Men­schen auf ge­mein­sam Er­leb­tes oft un­ter­schied­lich zu­rück­bli­cken. Die­se Kon­stel­la­ti­on liegt auch dem Ro­man „Fer­ne Ge­sta­de“ des 2021 mit dem Li­te­ra­tur­no­bel­preis aus­ge­zeich­ne­ten Ab­dul­razak Gur­nah zu­grun­de. Der Ro­man wur­de 2001 erst­mals in Groß­bri­tan­ni­en ver­öf­fent­licht, ein Jahr spä­ter er­schien er in der Über­set­zung von Tho­mas Brück­ner in Deutsch­land und wur­de nun in re­vi­dier­ter Über­set­zung neu auf­ge­legt. Gur­nah kam als Flücht­ling aus San­si­bar nach Eng­land, wo er seit­dem lebt. Die­ses Schick­sal teilt er mit sei­nen Prot­ago­nis­ten. Der jün­ge­re, La­tif Mah­mud, war bei der An­kunft wie der Au­tor Land der Er­in­ne­rung““ weiterlesen

An die Jugend

Pornographie“ von Witold Gombrowicz, eine als Farce getarnte Ode

Der un­sicht­ba­re Gar­ten schwoll an und schwelg­te in ei­nem Zau­ber – ob­wohl feucht, ob­wohl düs­ter, und mit die­sem scheuß­li­chen Ver­rück­ten – ich muss­te tief auf­at­men in die­ser Fri­sche, ba­de­te plötz­lich in ei­nem wun­der­voll bit­te­ren Ele­ment, ei­nem zer­rei­ßend ver­füh­re­ri­schen. Wie­der wur­de al­les, al­les, al­les jung und sinn­lich, so­gar wir!“

Ob Wi­told Gom­bro­wicz beim Ver­fas­sen die­ser Zei­len Sze­nen er­träum­te, wie sie auch Max Ernst in sei­nen Gar­ten- und Dschun­gel­bil­der mal­te? Das klei­ne Ge­mäl­de „Na­tur im Mor­gen­licht“ aus dem Stä­del legt dies nah. Der 1904 ge­bo­re­ne Wi­told Gom­bro­wicz war wie der 13 Jah­re äl­te­re Max Ernst dem Da­da­is­mus ver­bun­den. Ei­ne Spur, die sich nicht nur im an­ge­führ­ten Ver­gleich, son­dern an vie­len Stel­len in Gom­bro­wiczs Ro­man „Por­no­gra­phie“ zeigt.

Der Ro­man ent­führt in die Na­tur ei­nes pol­ni­schen Land­guts, die wie bei Ernst als Di­ckicht wu­chert, in dem Ero­tik spür­bar ist und sich doch nie so recht fas­sen lässt. Ernst wie Gom­bro­wicz er­schaf­fen Phan­ta­sie­wel­ten. Es geht es ih­nen nicht al­lei­ne um die kon­kre­te Dar­stel­lung, die­se trans­por­tiert viel­mehr ih­re Auf­fas­sung von Kunst. So wie Max Ernst sich als Vo­gel­ge­stalt in sei­ner Gar­ten­sze­ne ima­gi­niert, wählt sich auch Wi­told Gom­bro­wicz min­des­tens ein Al­ter Ego in „Por­no­gra­phie“.

Wi­told und Fry­deryk, zwei Män­ner um die Sech­zig, er­hal­ten 1943 in War­schau die Ein­la­dung ei­nes Be­kann­ten, sie auf sei­nem Land­gut zu be­su­chen. Nichts Groß­ar­ti­ges wird sich dort er­eig­nen in der Pro­vinz, die vom Krieg kaum tan­giert scheint. Es­sen, Trin­ken, Re­den, Spa­zie­ren­ge­hen, dies al­les fin­det, dann doch wie­der we­gen des Kriegs, auf be­grenz­tem Raum statt. Be­grenzt sind auch die In­ter­ak­tio­nen der we­ni­gen an die­sem kam­mer­spiel­ar­ti­gen „An die Ju­gend“ weiterlesen

Unerinnerbarer Horror“

Emmanuel Carrère erzählt in „Yoga“ von seinem Kampf gegen innere Irrlichter

Es ist ein dor­nen­rei­ches Un­ter­fan­gen ei­ner so irr­lich­tern­den Be­we­gung wie der un­se­res Geis­tes zu fol­gen, ihm in die ver­bor­ge­nen Win­kel nach­zu­drin­gen und noch die win­zigs­ten Er­schei­nungs­for­men sei­ner Un­ru­he au­zu­ma­chen und auf­zu­zeich­nen. Meh­re­re Jah­re sind es schon, dass ich mei­nen Ge­dan­ken nur mich selbst zum Ge­gen­stand ge­setzt ha­be, dass ich nichts an­de­res un­ter­su­che und er­for­sche als mich, und er­for­sche ich doch et­was an­de­res, dann nur, um es auf mich zu be­zie­hen.“ (Mon­tai­gne)

Ich wür­de ger­ne et­was an­de­res den­ken als das, was ich den­ke, denn was ich den­ke und oft ge­nug auf­ge­zählt ha­be ist sinn­los, es ist im­mer das­sel­be und über­trie­ben selbstbezogen.“(Carrère)

Yo­ga“, der Ti­tel des jüngs­ten von Em­ma­nu­el Car­rè­re ver­fass­ten Ro­mans mag den Le­ser in die fal­sche Rich­tung füh­ren. Man lernt zwar ei­ni­ges über Yo­ga oder bes­ser über Me­di­ta­ti­on, das stil­le sich von al­len in­ne­ren Irr­lich­tern frei ma­chen­de Sit­zen, wie es be­reits in ei­nem Ro­man von Tim Parks be­schrie­ben wur­de. Doch Car­rè­res Auf­ent­halt in ei­nem klos­ter­glei­chen „Ge­he­ge“, wo al­les, was Spaß macht, ver­bo­ten ist, bil­det nur den ers­ten der vier Tei­le des Buchs die­ses auf au­to­fik­tio­na­les Er­zäh­len abon­nier­ten Au­tors. Sei­nem ich-er­zäh­len­den Ro­man-Ego ist be­wusst, daß sei­ne Art al­le Sät­ze mit Ich zu be­gin­nen, zu­min­dest was das Brie­fe­schrei­ben be­trifft, ent­ge­gen al­len Re­geln ist. Re­geln der Höf­lich­keit und der Rück­sicht, ge­gen die auch der Ro­man ver­stößt, wo­von die Le­se­rin al­ler­dings nur se­kun­där und durch Un­erin­ner­ba­rer Hor­ror““ weiterlesen