Wirkmächtige Schatten

Mit „Unmöglicher Abschied“ errichtet Han Kang den Opfern ein Mahnmal zwischen Traum und Realität

Es schnei­te stark. Ich stand auf ei­nem Acker, an des­sen ei­nem En­de sich ein nied­ri­ger Berg an­schloss. Auf die­ser Sei­te war er vom Fuß bis zur Kup­pe mit Tau­sen­den von schwar­zen Baum­stäm­men be­stan­den, die et­wa so dick wie Ei­sen­bahn­schwel­len und ver­schie­den hoch wa­ren, wie Men­schen un­ter­schied­li­chen Al­ters. Zu­gleich wa­ren sie nicht ker­zen­ge­ra­de ge­wach­sen, son­dern leicht ge­bo­gen oder ge­neigt und wirk­ten, als hät­te man am Hang Tau­sen­de von Män­nern, Frau­en und ma­ge­ren Kin­dern im Schnee aus­ge­setzt, die die Schul­tern hoch­zo­gen. Ist das hier ein Fried­hof?, fra­ge ich mich.“

Den Li­te­ra­tur-No­bel­preis des ver­gan­ge­nen Jah­res er­hielt Han Kang, de­ren Ro­ma­ne in ih­rer Hei­mat Süd­ko­rea sehr er­folg­reich sind und die mit „Die Ve­ge­ta­rie­rin“ welt­weit Fu­ro­re mach­te. Die 1970 ge­bo­re­ne Schrift­stel­le­rin stu­dier­te Ko­rea­ni­sche Li­te­ra­tur und un­ter­rich­te­te Krea­ti­ves Schrei­ben. Sie de­bü­tier­te mit Ge­dich­ten und ver­fass­te meh­re­re Ro­ma­ne. Der No­bel­prei­ses „für ih­re in­ten­si­ve Pro­sa, die sich his­to­ri­schen Trau­ma­ta stellt und die Zer­brech­lich­keit des mensch­li­chen Le­bens auf­zeigt“, schenk­te al­ler­dings nicht nur der Au­torin selbst Auf­merk­sam­keit. Er lenk­te den Blick auf die his­to­ri­sche Ver­gan­gen­heit Süd­ko­re­as, die eu­ro­päi­schen Le­sern weit­ge­hend un­be­kannt sein dürfte.

Es ist vor al­lem die Ge­walt­ge­schich­te des Lan­des, die Han Kang im­mer wie­der in ih­re Wer­ke ein­flie­ßen lässt. So auch in ih­rem jüngst auf Deutsch ver­öf­fent­lich­ten Ro­man „Un­mög­li­cher Ab­schied“. In Süd­ko­rea er­schien er be­reits 2021, sein ins Eng­li­sche tran­skri­bier­ter Ti­tel lau­tet „We do not part“„Wir tren­nen uns nicht“.

Kei­ne Tren­nung, kein Ver­ab­schie­den, kein Ver­ges­sen! Das gilt auch für die Op­fer des 1948 auf der In­sel Je­ju durch­ge­führ­ten Mas­sa­kers. Gan­ze Dör­fer wur­den vom Mi­li­tär­re­gime Ko­re­as un­ter ja­pa­ni­schem Mit­wir­ken und us-ame­ri­ka­ni­scher Dul­dung zer­stört, 30000 Men­schen hin­ge­rich­tet. Die­sen Op­fern ih­re Wür­de zu­rück­zu­ge­ben, in­dem sie an ihr Schick­sal er­in­nert, ist Han Kangs Mo­tiv. Sie er­zählt da­von nicht in grad­li­ni­ger Wei­se, son­dern ver­webt in ih­rer hoch­li­te­ra­ri­schen Kunst viel­fäl­ti­ge Er­zähl­ebe­nen, Pro­sa und Poe­sie, Rea­les und Sur­rea­les mit Frag­men­ten his­to­ri­scher Zeugnisse.

Al­les be­ginnt mit ei­nem Traum von schwar­zen Baum­stäm­men im Schnee, der Han Kang, wie sie in ei­nem In­ter­view be­kann­te, wirk­lich wi­der­fuhr, und aus dem ih­re bei­den Prot­ago­nis­tin­nen die Idee für ein Kunst­pro­jekt ent­wi­ckeln. Das Mahn­mal soll an die Op­fer des Je­ju-Mas­sa­kers er­in­nern. Die bei­den Frau­en, Gye­on­gha und In­se­on sind be­freun­de­te So­li­tä­re. Sie ken­nen sich seit ih­rer Zu­sam­men­ar­beit als Re­por­te­rin und Ka­me­ra­frau, se­hen sich je­doch sel­ten. Gye­on­gha, die Schrift­stel­le­rin, lebt al­lei­ne in Seo­ul, die Re­cher­che zu ei­nem Mas­sa­ker führt sie in ei­ne De­pres­si­on, die Le­ben und Schrei­ben glei­cher­ma­ßen lähmt. Die Künst­le­rin In­se­on ar­bei­tet in ei­nem ein­sam ge­le­ge­nen Haus auf Je­ju an den Skulp­tu­ren für das Mahn­mal bis zu ei­nem Un­fall mit der Kreis­sä­ge. Das Un­recht von einst fügt auch den Nach­ge­bo­re­nen noch Leid zu. Doch es führt die Freun­din­nen auch wie­der zu­sam­men. In­se­on bit­tet Gye­on­gha nach Je­ju zu rei­sen, um ihr Haus­tier, den Pa­pa­gei­en Ama, vor dem Tod zu be­wah­ren. Gye­on­gha wil­ligt ein, sie hat nichts an­de­res, was auf sie wartet.

In die­sem ers­ten der ins­ge­samt drei Tei­le des Ro­mans be­geg­nen wir ei­ner nach­voll­zieh­ba­ren Rea­li­tät, auch wenn sich in die Hit­ze Seo­uls, die Be­hand­lung im Kran­ken­haus und die Rei­se nach Je­ju Träu­me und Er­in­ne­run­gen mi­schen. Die­se sind al­ler­dings frag­men­tiert und er­schlie­ßen sich erst im Lau­fe des Ro­mans. Des­sen zwei­ter Teil be­gibt sich in ei­nen Schnee­sturm auf Je­ju und ins Sur­rea­le, aus dem die Zu­sam­men­hän­ge der his­to­ri­schen Er­eig­nis­se nach und nach auftauchen.

Durch die Schil­de­rung der Na­tur­ge­wal­ten, Hit­ze, Käl­te, Schnee, Was­ser er­zeugt Han Kang At­mo­sphä­ren, die schau­dern las­sen. Hit­ze wie Käl­te stei­gern sich ins Un­er­träg­li­che, gleich­zei­tig deckt der Schnee die­ses zu. So lan­ge bis je­mand kommt und ihn weg­wischt. Ein ge­fähr­li­ches Un­ter­fan­gen, denn im tie­fen Schnee droht das Versinken.

Ge­nau das ge­schieht Gye­on­gha auf der letz­ten Etap­pe ih­rer Rei­se. Im dunk­len Wald zu In­se­ons Haus rutscht sie vom Weg ab und lan­det in ei­ner Schnee­we­he. Un­fä­hig sich zu be­frei­en, kämpft sie ge­gen den Schlaf. Ver­trau­te Men­schen er­schei­nen ihr als Vi­sio­nen und sie fragt sich, „ob das ein ty­pi­sches Phä­no­men für den be­vor­ste­hen­den Tod ist“. Das fragt sich auch die Le­se­rin. Der Ro­man er­hält da­durch ne­ben sei­ner li­te­ra­ri­schen und his­to­ri­schen Qua­li­tät Span­nung. Zu­dem ist es so mög­lich, Ir­rea­les ein­zu­ord­nen. Han Kang lässt ih­re Prot­ago­nis­tin nach ei­ner Nacht im Schnee auf­er­ste­hen. Sie er­reicht das Haus, sieht die Blut­spu­ren in der Werk­statt und den Vo­gel. Der liegt tot in sei­nem Kä­fig, sie be­stat­tet ihn und fällt in ei­nen tie­fen Schlaf. Als sie am nächs­ten Tag er­wacht, er­blickt sie mit Stau­nen nicht nur Ami, der mun­ter aus sei­ner Was­ser­scha­le trinkt, plötz­lich sieht sie auch In­se­on, eben­falls un­ver­sehrt. Gye­on­gha be­zwei­felt ih­re Wahr­neh­mung und zieht den Schluss, „Wenn ih­re See­le ge­kom­men ist, mich zu be­su­chen, bin ich am Le­ben; ist je­doch sie am Le­ben, dann bin ich als See­le hier“. Viel­leicht sit­zen auch zwei To­te bei­ein­an­der, fra­ge ich mich. Vie­le Aus­sa­gen deu­ten dar­auf hin. „Ich bin zum Ster­ben her­ge­kom­men“ und „Nun fällt seit ei­ni­ger Zeit hin­ter mei­nen Li­dern Schnee“ lau­ten die Ge­dan­ken Gye­on­ghas oder bes­ser die ih­res Schat­tens, den sie im Zu­sam­men­tref­fen mit der Freun­din be­merkt, „Un­se­re Kör­per be­rüh­ren sich nicht, aber un­se­re Schat­ten glei­ten über die Wän­de wie zwei Rie­sen“.

Auch die to­ten Vö­gel Ami und Ama er­schei­nen als Schat­ten. Die To­ten des Mas­sa­kers er­schei­nen hin­ge­gen in den Zeug­nis­sen, die In­se­on ge­sam­melt hat. Die Zei­tungs­ar­ti­kel, Do­ku­men­ta­tio­nen und Fo­to­gra­fien er­zäh­len von ih­rem er­lit­te­nen Un­recht. Auch das Mahn­mal der bei­den Künst­le­rin­nen will die Op­fer vor dem Ver­ges­sen be­wah­ren. Es will das Ge­bot des Schwei­gens bre­chen, die ein­ge­fro­re­nen Ge­füh­le auf­tau­en, die Trau­er zu­las­sen. Die To­ten wer­den in die­sem Ro­man eben­so wirk­mäch­tig wie die Lebenden.

Das ver­dan­ken sie Han Kang li­te­ra­ri­schem Kön­nen, das Hand­lung, In­tro­spek­ti­on und Er­in­ne­rung mit­ein­an­der ver­webt und durch Sym­bo­le auf­lädt. Manch­mal spie­geln sich die Er­eig­nis­se von da­mals in den Er­leb­nis­sen der Prot­ago­nis­tin­nen. „Es gibt kei­nen Grund aus­zu­schlie­ßen, dass die­ser gan­ze Schnee auf mei­nem Kör­per iden­tisch ist mit den brü­chi­gen Eis­kris­tal­len, nach de­nen ich als 5‑jährige in K am Tag des ers­ten Schnees mei­ne Hän­de aus­streck­te, mit den Was­ser­trop­fen, die mich als Drei­ßig­jäh­ri­ge auf dem Fahr­rad am Fluß­u­fer von Seo­ul im Re­gen durch­tränk­ten, mit der blut­ver­schmier­ten dün­nen Frost­schicht, die vor 70 Jah­ren auf ei­nem Schul­ge­län­de die­ser In­sel Hun­der­te Kin­der, Frau­en und Grei­se be­deck­te und un­kennt­lich mach­te.“ Die Na­tur ver­gisst nichts und ver­bin­det die Ge­gen­wart mit der Vergangenheit.

Han Kang, Unmöglicher Abschied, übers. v. Ki-Hyang Lee, Aufbau Verlag 2024

Abhängige Verhältnisse

Clare Chambers erzählt in „Scheue Wesen“ von der Macht der Erwachsenen und der Ohnmacht von Kindern

In ALLEN GESCHEITERTEN BEZIEHUNGEN (sic!) gibt es ei­nen zu­nächst noch un­be­merk­ten Punkt, in dem man spä­ter je­doch den An­fang vom En­de er­kennt. Für He­len war es das Wo­chen­en­de, an dem der Ver­steck­te Mann nach West­bu­ry Park kam.“

 Die­ser ers­te Satz in ge­ra­de­zu tol­stoi­schem Ton be­nennt die Haupt­the­men von Cla­re Cham­bers neu­em Ro­man „Scheue We­sen“. Es sind pro­ble­ma­ti­sche Be­zie­hun­gen, ge­prägt von Ab­hän­gig­kei­ten, und ei­ne kas­par-hau­ser-ar­ti­ge Fi­gur, de­ren at­tri­bu­ier­te Rät­sel­haf­tig­keit das In­ter­es­se der Le­se­rin weckt. Die Ver­lags­an­kün­di­gung, es han­de­le sich „um ei­ne Lie­bes­ge­schich­te aus dem Lon­don der Sech­zi­ger“, greift viel zu kurz und wird der Kom­ple­xi­tät des Ro­mans nicht ge­recht. Um so prä­zi­ser er­scheint mir der dem eng­li­schen Ori­gi­nal ent­spre­chen­de Ti­tel „Scheue We­sen“. Er klingt ge­heim­nis­voll und greift da­durch sein wich­tigs­tes Ge­stal­tungs­ele­ment auf.

Die eng­li­sche Au­torin Cla­re Cham­bers lehr­te Eng­li­sche Li­te­ra­tur in Ox­ford und war als Lek­to­rin tä­tig. Ihr vor­lie­gen­der zwei­ter Ro­man be­ein­druckt durch die klu­ge Kon­struk­ti­on ei­ner un­ge­wöhn­li­chen Ge­schich­te. Eben­so wie in Cham­bers Erst­ling „Klei­ne Freu­den“ be­geg­nen wir ei­ner be­son­de­ren Frauenfigur.

He­lens Hans­ford ar­bei­tet noch nicht lan­ge als Kunst­the­ra­peu­tin in der psych­ia­tri­schen Kli­nik West­bu­ry Park. Ge­gen den Wunsch ih­rer El­tern hat sie ih­ren Leh­rer­be­ruf auf­ge­ge­ben, be­gibt sich je­doch in ei­ne neue Ab­hän­gig­keit, „Ab­hän­gi­ge Ver­hält­nis­se“ weiterlesen

Protokoll einer Zerrüttung

CoverLjuba Arnautović macht in „Erste Töchter“ aus großen Leben eine kleine Geschichte

Spä­ter hat er über sein Le­ben ein Buch ge­schrie­ben und dar­über, wie po­li­ti­sche Ver­hält­nis­se mensch­li­che Schick­sa­le bestimmen.“

Die­ses Zi­tat könn­te das Mo­tiv von Lju­ba Ar­n­au­to­vićs Schrei­ben sein und so­mit auch das ih­res Buchs „Ers­te Töch­ter“. Zu­ge­schrie­ben hat sie es Wolf­gang Le­on­hard, ei­ner ih­rer Ne­ben­fi­gur, der durch sei­nen au­to­bio­gra­phi­schen Be­richt „Die Re­vo­lu­ti­on ent­lässt ih­re Kin­der“ be­kannt wur­de. Au­to­bio­gra­phisch ist auch Ar­n­au­to­vićs Werk. Wie be­reits in „Im Ver­bor­ge­nen“ und in „Ju­ni­schnee“ er­zählt die in Wien le­ben­de und 1954 in Kursk ge­bo­re­ne Au­torin von ih­rer Fa­mi­lie, die, so der Klap­pen­text, vom „Dra­ma des 20. Jahr­hun­derts in Wien, Mos­kau und im Gu­lag“ ge­prägt wur­de. Der letz­te Band die­ser Tri­lo­gie fügt Mün­chen als Hand­lungs­ort hinzu.

Dort lebt Karl mit sei­ner neu­en Frau und ei­ner sei­ner ers­ten Töch­ter. Zu­vor hat­te er die­se und ih­re jün­ge­re Schwes­ter erst von de­ren Mut­ter Ni­na, dann von der Er­satz­mut­ter Eri­ka ge­trennt und nun so­gar von­ein­an­der. La­ra geht nach Wien, Lu­na bleibt in Mün­chen. Ei­ne Kon­stel­la­ti­on wie in Erich Käst­ners „Pro­to­koll ei­ner Zer­rüt­tung“ weiterlesen

Willkommen im Auenland“

Markus Thielemann erzählt in „Von Norden rollt ein Donner” auf spannende Weise über die Ambivalenz eines vermeintlichen Idylls

Un­ten drän­gen sich die Tie­re an­ein­an­der. He­ra und Kasch, die bei­den Hüte­hun­de, um­krei­sen den Pulk. Jan­nes blickt hin­un­ter, die Be­we­gun­gen er­in­nern ihn an Bil­der aus ei­ner Do­ku­men­ta­ti­on über den Welt­raum. Wie Mon­de oder Pla­ne­ten krei­sen sie um die Her­de, das Zen­trum des Alls. Und dann schweift er ab: er hat sei­nen ei­ge­nen dunk­len Wan­de­rer, ei­nen Ge­dan­ken, der seit Ta­gen kommt und geht auf el­lip­ti­scher Bahn, des­sen Gra­vi­ta­ti­on drückt und lähmt, bis ihn die Flieh­kraft ein­mal mehr zu­rück in die Nacht schleu­dert: Pa­pa geht zum Arzt.“

Die Welt, in der Jan­nes kreist, ist ei­ne be­grenz­te. Es ist die Hei­de süd­lich von Lü­ne­burg, in der er mit den Schnu­cken des Fa­mi­li­en­be­triebs um­her­zieht. Fa­mi­lie und Tra­di­ti­on ma­chen ihn zum Schä­fer in die­ser ver­meint­lich idyl­li­schen Land­schaft. Ei­ne Su­che nach der ei­ge­nen Iden­ti­tät, wie sie sei­ne Al­ters­ge­nos­sen un­ter­neh­men, ist un­ter die­sen Um­stän­den nicht nur nicht nö­tig, son­dern un­mög­lich. Das Le­ben scheint vor­ge­zeich­net für den 19-jäh­ri­gen Prot­ago­nis­ten in „Von Nor­den rollt ein Don­ner“, dem zwei­ten und für den dies­jäh­ri­gen Deut­schen Buch­preis no­mi­nier­ten Ro­man des jun­gen Au­tors Mar­kus Thie­le­mann.

Auch wenn der Ti­tel, wie die ört­li­chen Ge­ge­ben­hei­ten und der Ver­lauf der Ge­schich­te zei­gen, in dop­pel­ter Wei­se deut­bar ist, er­zeugt er zu­nächst ei­nen star­ken Be­zug zur Na­tur. Die Na­tur be­stimmt den Be­ruf des Schä­fers, in­dem sie mit Wet­ter und Jah­res­zei­ten den Rhyth­mus dik­tiert. Jan­nes und sei­ne Her­de sind ab­hän­gig von der Flo­ra, dem Ge­dei­hen der Fut­ter­pflan­zen, wie von der Fau­na, die sich im Wohl der Schnu­cken und im Ge­schick der Hüte­hun­de of­fen­bart und mit dem Wolf de­ren Ha­bi­tat be­droht. Jan­nes ist ihm schon Will­kom­men im Au­en­land““ weiterlesen

Zurück zu Mutter Natur

In „Man kann auch in die Höhe fallen“ erzählt Joachim Meyerhoff von der magischen Macht seiner Mutter

Was für ein Spek­ta­kel, dach­te ich, Milch, Blut, Re­gen, Don­ner, Pla­zen­ta und Blit­ze, Mut­ter­glück, neu­es Le­ben und ein nas­ser Mann Mit­te fünfzig.“

Die­ser Satz, der ge­gen En­de von Joa­chim Mey­er­hoffs neu­em Ro­man fällt, kom­pri­miert den In­halt auf wun­der­ba­re Wei­se. Als Prot­ago­nis­ten tau­chen ein Mann Mit­te fünf­zig und sei­ne Mut­ter eben­so auf wie das Thea­ter, des­sen Spek­ta­kel Mey­er­hoff als An­ek­do­ten voll Blitz und Don­ner in­sze­niert, um mit Milch, Blut und Pla­zen­ta, ei­ne be­son­de­re le­bens­lan­ge Ver­bin­dung zu fei­ern. Sie gilt in „Man kann auch in die Hö­he fal­len“, dem sechs­ten Teil der Fa­mi­li­en­ro­man-Rei­he „Al­le To­ten flie­gen hoch“ in be­son­de­rem Ma­ße Mey­er­hoffs Mut­ter wie sei­ner ei­ge­nen Rol­le als Sohn und als Vater.

Mit sei­nen Be­ru­fen, viel­leicht soll­te man bes­ser von Be­ru­fun­gen spre­chen, ha­dert er al­ler­dings eben­so wie mit der deut­schen Haupt­stadt, die nach den Jah­ren in Wien zum neu­en Wohn­ort wur­de. Er möch­te weg von Ber­lin und von sei­nem Busi­ness. Sei­ne Schau­spie­le­rei stellt er eben­so in Fra­ge wie das Schrei­ben, das ihm mit sei­nen au­to­bio­gra­phi­schen Ro­ma­nen bis­lang stets Er­fol­ge be­schert hat. Al­les zerrt an ihm. Er fühlt sich gleich­zei­tig ge­stresst und gelähmt.

Oh­ne wirk­lich zu be­grei­fen, wie es da­zu ge­kom­men war, war ich zu ei­nem Ner­ven­bün­del ge­wor­den, des­sen Un­aus­ge­gli­chen­heit für die mir na­he­ste­hen­den Men­schen mehr und mehr zur Zu­mu­tung wur­de. (…) Angst und Lan­ge­wei­le ver­tru­gen sich ganz aus­ge­zeich­net. Nie hät­te ich es für mög­lich ge­hal­ten, dass man wo­chen­lang auf der fau­len Haut lie­gen und der­art ent­spannt vor sich hin im­plo­die­ren konn­te. Die auf dem So­fa ver­brach­ten Stun­den nah­men bi­zar­re For­men an, und oft wuss­te ich nicht mehr, wo ich auf­hör­te und die Couch be­gann. Wie ein ge­schmol­ze­ner Kä­se war ich in je­de Rit­ze des So­fas hin­ein­ge­flos­sen, hat­te das Sitz­mö­bel mit mir selbst über­ba­cken. Und doch woll­te ich mei­ne Ver­stimmt­heit nicht De­pres­si­on nen­nen oder gar Mid­life­cri­sis, denn es wa­ren ja hand­fes­te Pro­ble­me, die ich hat­te. Seit Wo­chen hat­te ich nichts ge­schrie­ben, und das, ob­wohl sich in mei­nem Kopf die Ge­schich­ten tum­mel­ten. Ber­lin al­ler­dings ent­pupp­te sich als Säu­re­bad, das tag­täg­lich mei­ne In­spi­ra­ti­on zerfraß.“

Viel­leicht ver­mag ei­ne Flucht den Kno­ten lö­sen? Der Er­zäh­ler ent­schei­det sich für nichts Ge­rin­ge­res als die Welt­flucht, die ihn aus der „Zu­rück zu Mut­ter Na­tur“ weiterlesen

Bekenntnisse einer Selbstbezogenen

Rachilde grenzt sich in „Nein, ich bin keine Feministin“ gegen die Frauen ihrer Zeit ab

Aber, wenn man dar­über nach­denkt – hat die mo­der­ne Frau über­haupt ein Ide­al? Ge­wiss, sie möch­te ihr Le­ben aus­kos­ten, lu­xu­ri­ös, oh­ne je­de an­de­re Re­li­gi­on als die ih­rer an­geb­li­chen Gleich­heit. Doch zu­gleich ist sie auch wun­der­lich, ih­rem Ge­hirn fehlt an der Stel­le et­was, wo man Gott, viel­leicht auch die Lie­be und die Lei­den­schaft ent­fernt hat. 
Sie wer­den mir sa­gen, dass der mo­der­ne Mann…
…Aber man hat mich ja nicht ge­be­ten, Ih­nen et­was vom mo­der­nen Mann zu er­zäh­len, nicht wahr?“ 

Ei­nen ver­ges­se­nen Text ei­ner hier­zu­lan­de fast ver­ges­se­nen, aber zu ih­rer Zeit be­rühm­ten Au­torin und Sa­lon­niè­re des Fin de Siè­cle neu zu über­set­zen und auf­zu­le­gen, hat Alex­an­dra Beil­harz mit dem 1928 erst­mals er­schie­nen „Nein, ich bin kei­ne Fe­mi­nis­tin“ von Ra­chil­de (1860–1953) rea­li­siert. Dem Text von knapp 100 Sei­ten geht ein Vor­wort der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin Bar­ba­ra Vin­ken vor­aus. Nach­ge­stellt fin­den sich zwei zeit­ge­nös­si­sche Re­zen­sio­nen aus dem Jahr der Ver­öf­fent­li­chung, ei­ne edi­to­ri­sche No­tiz, ein Bild­nach­weis so­wie ei­ne Kurz­bio­gra­phie über Bar­ba­ra Vin­ken. Über die Au­torin Ra­chil­de bie­tet nur der Klap­pen­text we­ni­ge Zei­len. Er­staun­lich aus­führ­li­che In­for­ma­tio­nen fin­den sich in der eng­li­schen Wi­ki­pe­dia.

Nicht nur als Em­ma-Le­se­rin der Acht­zi­ger fin­de ich ei­nen his­to­ri­schen Text, der sich mit Fe­mi­nis­mus be­schäf­tigt, in­ter­es­sant. Die Ver­lags­an­kün­di­gung spricht von ei­ner „Streit­schrift, in der sie (die Au­torin) den Fe­mi­nis­mus ih­rer Epo­che pro­vo­kant und hu­mor­voll zu­gleich be­schreibt“. Vin­ken spricht im Vor­wort gar von ei­ner „Tra­ves­tie“. Folg­lich er­war­te­te ich ein, wenn auch als Par­odie oder Sa­ti­re ver­klei­de­tes Plä­doy­er für die Gleich­be­rech­ti­gung der Frau. Mein Feh­ler oder ei­ne Fra­ge der De­fi­ni­ti­on? Viel­leicht zäh­le auch ich zu den „Be­kennt­nis­se ei­ner Selbst­be­zo­ge­nen“ weiterlesen

Anekdotenreiches Ahnen-Panorama

Der Österreicher Robert Palfrader blickt in „Ein paar Leben später“ auf seine etruskisch-ladinischen Wurzeln

Fa­mi­lie. Schwie­ri­ger Be­griff. Denn wo Fa­mi­lie be­ginnt, ist leicht de­fi­niert, aber wo hört sie auf? Denn wenn man nur acht Ge­ne­ra­tio­nen nach hin­ten blickt, sind das 256 di­rek­te Vor­fah­ren. Nicht, wenn man ein Habs­bur­ger ist, selbst­ver­ständ­lich. Da muss man mit der Hälf­te zu­frie­den sein. Aber im Nor­mal­fall sind das 256 Leu­te, die eben­falls aus eben­so vie­len Fa­mi­li­en stam­men. Wel­che die­ser Fa­mi­li­en ist jetzt die ei­ge­ne? Oder sind es alle?“

Es sind nicht nur die Da­ckel und die Etrus­ker, die mei­ne Le­se­lust auf Ro­bert Palf­ra­d­ers un­kon­ven­tio­nel­le Fa­mi­li­en­chro­nik „Ein paar Le­ben spä­ter“ ge­weckt ha­ben und für die ich aus nost­al­gi­schen Grün­den ein Fai­ble ha­be. Es ist auch das his­to­ri­sche In­ter­es­se am Le­ben in der heu­te nord­ita­lie­ni­schen Berg­re­gi­on, die vom En­de des 19. bis zur Mit­te des 20. Jahr­hun­derts, dem Hand­lungs­zeit­raum des Ro­mans, ne­ben den na­tur­ge­ge­ben exis­ten­ti­el­len Schwie­rig­kei­ten, zahl­rei­chen Kon­flik­ten aus­ge­setzt war. Palf­ra­d­ers Vor­fah­ren vä­ter­li­cher­seits stam­men aus dem la­di­ni­schen Teil Süd­ti­rols, wie der Au­tor in sei­nem Vor­wort schil­dert, das zu­dem auf die etrus­ki­schen Wur­zeln der La­di­ner ver­weist. Die­ser dop­pel­te Ah­nen­pool wird im wei­te­ren Ver­lauf als sprach­li­ches Er­be der La­di­ner und als ma­te­ri­el­les Er­be der Etrus­ker ei­ne Rol­le spie­len. Eben­so warnt Palf­ra­der, nicht al­les in sei­nem Ah­nen­me­moi­re für ba­re Mün­ze zu neh­men. „Sie ma­chen sich kei­ne Vor­stel­lung da­von, wie oft ich die Un­wahr­heit er­zäh­len wer­de müs­sen, um die Ge­schich­te der Fa­mi­lie mei­nes Va­ters glaub­haft er­schei­nen las­sen zu kön­nen. Denn die gan­ze Wahr­heit kann ich nie­man­dem zu­mu­ten, da­für ist sie zu ab­surd.“ Das weckt Er­war­tun­gen, die al­ler­dings, so­viel vor­weg, durch­aus er­füllt wer­den. „An­ek­do­ten­rei­ches Ah­nen-Pan­ora­ma“ weiterlesen

Dramarama

Céline Spierers Roman „Bevor es geschah“ erreicht den Verstrickungsgrad griechischer Tragödien

»Ich ha­be et­was mit an­ge­se­hen, was ich nicht hät­te se­hen sol­len«, sagt sie mit er­staun­lich ru­hi­ger Stim­me. On­kel John war­tet, und sein Schwei­gen er­mu­tigt sei­ne Nich­te wei­ter­zu­spre­chen. »Es be­trifft un­se­re Fa­mi­lie. Ich ha­be et­was ge­se­hen, das al­les zer­stö­ren könn­te, wenn ich es erzähle. «“

Das an Dra­men rei­che deut­sche De­büt von Cé­li­ne Spie­rer star­tet mit dem gro­ßen, ein Klein­kind wird in ei­nem Pool auf­ge­fun­den, sein Über­le­ben ist un­ge­wiss. Das Un­glück wird im fran­zö­sisch­spra­chi­gen Ori­gi­nal mit „Noya­de“ klar be­nannt. Die von Si­na de Mal­a­fo­s­se ins Deut­sche über­tra­ge­ne Aus­ga­be trägt den Ti­tel „Be­vor es ge­schah“, was zu­gleich für die Kon­struk­ti­on des Ro­mans steht.
Der Ein­stieg mit un­ge­wis­sem En­de bil­det den Aus­gangs­punkt für ei­nen Rück­blick auf den we­ni­ge Stun­den zu­vor be­gon­ne­nen som­mer­li­chen Brunch, zu dem sich die Fa­mi­lie Hay­nes je­des Jahr im Haus der Mut­ter ver­sam­melt. Ei­gent­lich ha­ben al­le kei­ne Lust da­zu, denn wie das so ist, wenn sich Ge­schwis­ter nebst An­hang im El­tern­haus zu­sam­men­fin­den, stö­ren Er­in­ne­run­gen und Er­war­tun­gen die er­hoff­te Harmonie.
So emp­fin­det es Eli­sa­beth, die Ma­tri­ar­chin, wie ih­re Kin­der sie ins­ge­heim nen­nen, eben­so ihr Sohn Win­s­ton und sei­ne „Dra­ma­ra­ma“ weiterlesen

Verdrängung

Julie von Kessel erzählt in „Die anderen sind das weite Meer“ filmreif und mit psychologischem Gespür von der späten Annäherung einer Familie

Ne­ben dem Schrank hing ein Bild, das Lu­ka vor vier­zig Jah­ren ge­malt hat­te: Drei Kin­der und zwei Er­wach­se­ne wa­ren dar­auf zu se­hen, die gan­ze Fa­mi­lie Cra­mer, von der win­zi­gen Ele­na bis zu Ma­ria mit den gro­ßen brau­nen Krin­geln auf dem Kopf. Tom be­trach­te­te es, zum ers­ten Mal fiel ihm auf, dass sie al­le Ber­ge be­stie­gen, doch je­des Fa­mi­li­en­mit­glied er­klomm sei­nen ei­ge­nen Hügel.“

Wenn El­tern äl­ter wer­den, se­hen sich Kin­der oft mit Her­aus­for­de­run­gen kon­fron­tiert. Es meh­ren sich Krank­hei­ten, wie die per­sön­lich­keits­ver­än­dern­de De­menz, die die Be­zie­hun­gen auf den Kopf stel­len. Das gilt be­son­ders für die Kon­stel­la­ti­on von Ge­schwis­tern. Man wohnt ent­fernt und sieht sich sel­ten. Wer küm­mert sich, wenn der Va­ter oder die Mut­ter Hil­fe be­nö­ti­gen? Der Not­wen­dig­keit zu han­deln steht das Ab­schie­ben von Ver­ant­wor­tung ent­ge­gen. Kon­flik­te schei­nen unvermeidlich.

So er­geht es Lu­ka, Tom und Ele­na, als sie er­fah­ren, daß ihr Va­ter zu­neh­mend de­ment wird und in der Nach­bar­schaft her­um­irrt. Hans war einst als Bot­schaf­ter des Aus­wär­ti­gen Amts in Me­xi­ko. Dort lern­te er „Ver­drän­gung“ weiterlesen

Die „schwer erträgliche Leichtigkeit des Cancelns“

In „Der Entmündigte Leser“ führt Melanie Möller einen „leidenschaftlichen Kampf für die Autonomie der Literatur“

Sie ver­ge­hen sich an Kunst und Li­te­ra­tur, und sie wol­len (Literatur)Geschichte um­schrei­ben, in­dem sie sie mo­ra­lisch be­rei­ni­gen, mö­gen die Grün­de für ihr Vor­ge­hen auch mit der Zeit wechseln.“

Ab der Mit­te des 18. Jahr­hun­derts wur­de es in Mu­se­en mo­dern, Stau­en der klas­si­schen An­ti­ke mit Blät­tern zu ver­se­hen, auf daß sie der­art be­klei­det den Blick der Be­trach­ter sitt­sam er­freu­en. Ein Blatt aus Blech, Gips oder Pap­pe ver­hüll­te die Scham ei­nes Apolls oder ei­ner Aphro­di­te, falls die­se es als Ve­nus pu­di­ca nicht gleich selbst be­sorg­te. Zwi­schen den ge­spreiz­ten Bei­nen des da­hin­ge­fläz­ten Bar­ber­ini­schen Fauns brauch­te es so­gar ein mehr­blätt­ri­ges Kon­strukt, String­tan­ga gleich am mar­mor­nen Glu­teus Ma­xi­mus ver­drah­tet. Die al­ten Grie­chen hät­ten sich mehr als ge­wun­dert. Sie dach­ten an An­be­tung und Äs­the­tik, Re­prä­sen­ta­ti­on und Krea­ti­vi­tät. Un­zucht, wie die christ­li­chen Be­trach­ter der nach­fol­gen­den Jahr­hun­der­te die „Die „schwer er­träg­li­che Leich­tig­keit des Can­celns““ weiterlesen