Nelio Biedermanns Familien-Saga „Lázár“ lebt durch gute Konstruktion auf den Schultern von Riesen
„Am meisten liebte er es zu schreiben. Wobei „lieben“ eigentlich das falsche Wort war, denn er schrieb nicht aus Liebe, sondern aus einem sich völlig natürlich anfühlenden Zwang heraus, einem Zwang, der sich wohl am ehesten mit jenem, atmen zu müssen, vergleichen lässt. Es war dem Jungen, als müsse er alles Wichtige aufschreiben, als würden ihm die Dinge sonst entgleiten, als würden sie erst durch die von ihm vollführte Materialisierung ihre Gültigkeit erhalten.“
Ein großes Echo hat Nelio Biedermann mit seinem Roman „Lázár“ erzeugt. Überschwänglich wurde er von Literaturkritikern und Schriftstellerkollegen gelobt, die ihn schwärmerisch in höchste Sphären hoben. Dies erzeugt Erwartungen, denen es standzuhalten gilt.
Ich hätte von der Lektüre des Romans Abstand genommen, wäre da nicht mein Literaturkreis gewesen, der „Lázár“ aufs Programm setzte. Angesichts der Medienpräsenz des Buches sicher ganz zu Recht. Um es vorwegzunehmen, nicht alle in unserer Runde waren enttäuscht: „Lázár“ habe einen großen Unterhaltungswert, wurde kritischen Stimmen entgegengesetzt. Mängel, wie uneindeutige Bezügen in Satzgirlanden oder unausgeführte Motive seien dem Alter des Autors geschuldet. Dieser wirke im Übrigen grundsympathisch. Doch das stellt ebenso wenig ein literarisches Kriterium dar, wie, banal gesagt, die Frisur eines Schriftstellers oder, was schon schwerwiegender wäre, dessen politische Einstellung.
Der Erfolg von „Lázár“, immerhin wurden die Rechte am Roman vor Erscheinen an über 20 fremdsprachige Verlage verkauft, basiert zum nicht unerheblichen Teil auf seiner Konstruktion. Biedermanns Schreibkunst erzeugt einen schnellen Lesefluss. So hatte ich das Buch trotz anfänglicher Verzweiflung bald beendet, seines pathetischen Tons, vorhersehbarer Abläufe und alberner Sex-Szenen zum Trotz. „Lázár“ ist eine leichte Lektüre. Nicht in einfacher Sprache, denn Biedermann bettet das Schicksal seiner Figuren äußerst eloquent in eine historisierende Saga ein und verziert sie mit einer Vielzahl literarischer Verweise. Es wirkt, als widme er jede Phase seiner Familiengeschichte einem Klassiker der Literatur. Dies beweist seine Belesenheit und beschert seinen Lesern Entdeckerfreude. Leider mindert er sie dadurch, daß vielen Stellen bald der Name ihres Schöpfers folgt. Markiert sind diese Übernahmen nicht, was ein fiktionales Werk auch nicht verlangt. Ein Nachwort des Autors wäre dennoch wünschenswert gewesen. Aufschlüsselung bieten diverse Kritiken, so die von Alexander Carmele auf dem Blog Kommunikatives Lesen, der starke Parallelen zu „Buddenbrooks“ erkennt. Während Marius Müller in seinem Blog Buch-Haltung sich an „Der Gattopardo“ erinnert fühlt, findet Sabine Ibing eine erstaunliche Ähnlichkeit zu Cunninghams „Die Stunden“. Der Roman bietet seinen Lesern und Leserinnen viele Fundstücke an, je nach dem welche Stationen ihre Lesebiographien hatten. Ich persönlich stolperte über die Proust-Bezüge, die fast wörtlich in langen Zitaten auftauchen, „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen“, „Hotelzimmer“, „Weißdorn“.
In diesem Roman vergeht die Zeit schnell. „Die Jahre kamen und gingen“ — „Die Kinder wurden älter“ — „Denn die Jahre waren gekommen und gegangen“ — „Aber auch diese Stunde wurde irgendwann durch eine andere abgelöst, und so ging es weiter und der Morgen vorüber.“ Der Roman scheint „aus diesem Ticken oder ganz allgemein aus dem Vergehen der Zeit [seine] ganze Kraft zu ziehen“. Es sind eben nur 336 Seiten, auf denen die Geschichte der Lázár über drei Generationen hinweg erzählt wird. Zeitlich setzt sie in der Habsburgermonarchie ein und endet mit dem Budapester Aufstand 1956. Der Niedergang dieses ungarischen Adelsgeschlechts beginnt mit der Geburt von Lajos, dem Erzeugnis einer erotischen Schwäche der Baronin, und endet mit dem Schweizer Exil der Folgegeneration. Es sind ereignisreiche Jahrzehnte. Der Autor schildert sie in Szenen, die Schlaglichter auf die Geschicke von Sándor, Lajos, Pista, den Frauen der Lázár sowie zahlreichen Nebenfiguren werfen. Dabei spielen die umwälzenden historischen Ereignisse der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur als Wegmarken eine Rolle. Anscheinend gibt es Wichtigeres, „vor allem: Wie sollten sie miteinander Sex haben? Das war die große Frage, die alles andere überschattete – selbst den Krieg“.
Es ist ein Zuviel an Figuren. Man kommt ihnen kaum nahe, denn sie offenbaren ihr Inneres nur im Verhalten. Vielleicht hält der Autor, so wie eine seiner Figuren, nichts von „Schriftstellen, die in ihrem Zwang, das ganze Leben und jeden noch so persönlichen Gedanken ihrer Figuren auszuformulieren, Vergewaltiger der Existenzen und der Privatsphäre waren“? Andererseits zeigt er kaum Skrupel, wenn er sie „auf die Toilette setzt(e) und lange vergebens ausharr(en)“ lässt.
Zudem neigt Biedermann zu Wiederholungen. Die Barone Sándor und Lajos denken an Kindsmord und wollen ihrem Neugeborenen am liebsten die Luft abdrücken. Die Baroninnen erliegen dem Personal, sei es der stramme Stallbursche oder der langfingerige Hauslehrer. Und die Liebe, die wird immer erst nach dem Tod empfunden und folglich zu spät. Dies mag genetisch sein. Dennoch, alles passiert doppelt und ist zudem klischeehaft geschildert. Die Burschen sind breitschultrig, der Wald dunkel. Auf der Flucht sterben Kinder und Frauen werden von Soldaten vergewaltigt. Alles nichts neues, denke ich, und lerne lediglich hinzu, wie sich Anziehung auf die Knochen auswirkt. Erotisches Verlangen lässt die „Knochen vibrieren“ oder sie „bis ins Mark ihres fragilen Knochengerüsts erschüttern“ „bis die Knochen weich wurden“. Osteoporose ist nichts dagegen! Aber wie heißt es im Roman „Es war himmlich, meine Liebe!“
Vieles banalisiert sich bei „Lázár“ ärgerlicherweise durch Stereotype. Eine Figur ritzt sich, damit sie „weiß, dass [sie] sich noch spürt“. Ein Frustrierter fragt sich, „wo die Liebe hinging, wenn sie verschwand“. Leider bleiben solche Bekenntnisse ohne weitere Ausführungen. Auch stilistisch zeigen sich Brüche. Lange Satzgefüge in hohem Ton werden umgangssprachlich unterbrochen, naturmagische Bilder folgen modernem Psychotalk. Dabei sind manche Bezüge grammatikalisch ungenau. „1931, ein Jahr vor Evas Geburt, kehrte Lajos spätabends zurück und sah, als er den Wagen knirschend auf dem Kiesplatz parkte, wie das Licht in ihrem Zimmer gelöscht wurde.“ Besonders verwirrend wird es, wenn sie das innere Chaos der Figur zeigen sollen, aber ohne Einbettung konfus wirken.
Es könnte daraufhin deuten, daß Biedermann seinen Roman bewusst als eklektisches Werk gestaltet hat, wie nicht zuletzt die zahlreichen literarischen Bezüge zeigen, darunter Goethe, Thomas Mann, Joseph Roth, Stefan Zweig, Proust, Gogol, Kafka, Joyce, Nietzsche, Dostojewski, Sándor Márai, Carl Zuckmayer, E.T.A. Hoffmann, Heinrich Heine, Ödön von Horvárth, Arthur Schnitzler, Egon Friedell, Gottfried Benn, Virginia Woolf, Simone de Beauvoir, Michael Cunningham et al..
Ist „Lázár“ nun tatsächlich die Probe eines Zauberlehrlings, eines Harry Potters der Literatur, der mit Magie bewährte, aber schwerverdauliche Klassiker in leichte Kost verwandelt, mit dem Zauberstab auf die Plotkonstruktion zielend? Apropos Zauberstab, Eva Sophie-Lohmeier hat in ihrer Rezension auf 54books gezeigt, wie in „Lázár“ an jeder Ecke ein Phallos winkt und wie verunglückt die Sex-Szenen wirken, die weder erotisch noch pornographisch, sondern eher mechanisch und meist verdruckst den Figuren geschehen. Szenen, die Rainer Moritz in eine ergänzte Neuauflage seines Kompendiums „Wer hat den schlechtesten Sex“ sicher gerne aufnehmen würde, „bis zum Anschlag“ würde ich behaupten.
Nelio Biedermann, Lázár, Rowohlt Verlag 2025








