Erinnern ist Licht“

In „Ein junger Herr in Neapel“ erzählt Andrea Giovene vom Erwachen eines jungen Schriftstellers

Zur Spit­ze hin hat­ten Feuch­tig­keits­fle­cken gan­ze Ge­ne­ra­tio­nen über­wäl­tigt, sie gli­chen gan­zen Schwär­men mit ei­nem Schrot­schuss durch­sieb­ter Spat­zen. Der Baum kräu­sel­te sich, er trüb­te sich ein und schlug Wel­len. Die jüngs­ten Ge­ne­ra­tio­nen wa­ren am un­le­ser­lichs­ten. Und ich? Wie soll­te ich mich da auf sei­ner Spit­ze ein­nis­ten, die nur in die Zim­mer­de­cke hin­ein hö­her wach­sen konn­te, im Leeren?“

Dies sind die Ge­dan­ken des zu Be­ginn des Ge­sche­hens 9‑jährigen Ich-Er­zäh­lers in An­drea Gio­ve­nes (1904–1995) „Ein jun­ger Herr in Nea­pel“, dem ers­ten Teil sei­ner Ro­man­fol­ge „Die Au­to­bio­gra­phie des Giu­lia­no di San­se­vero“, wel­che in den Jah­ren 1903–1957 spielt. Als Giu­lia­no und sei­ne klei­ne Schwes­ter Chec­chi­na durch die zer­fal­len­den Fluch­ten des Fa­mi­li­en­pa­laz­zos strei­fen, ge­lan­gen sie zum Stamm­baum, „dem muf­fi­gen To­tem“, das die kom­plet­te Wand ei­nes Sa­lons ein­nimmt. Die Be­schrei­bung der ent­le­ge­nen, ver­staub­ten Räu­me er­in­nert an die Ent­de­ckungs­tour von Tancre­di und An­ge­li­ca im Som­mer­sitz der Sa­li­na. Zwar spielt Lam­pe­du­sas „Il Gat­to­par­do“ ein hal­bes Jahr­hun­dert vor „Die Au­to­bio­gra­phie des Giu­lia­no di San­se­vero“, doch steht in bei­den Ro­man­wer­ken der Zer­fall ei­nes Adels­ge­schlechts im Vor­der­grund. Ei­ne wei­te­re Par­al­le­le be­steht in der per­sön­li­chen Ver­bin­dung der Schrift­stel­ler zu ih­rem Su­jet. Giu­sep­pe To­ma­si di Lam­pe­du­sa ent­stammt ei­nem si­zi­lia­ni­schen Adels­ge­schlechts, An­drea Gio­ve­ne di Gi­ra­so­le ei­nem nea­po­li­ta­ni­schen. Die Trans­for­ma­ti­on, die Lam­pe­du­sa mit dem be­rühm­ten Satz, „Wenn al­les blei­ben soll, wie es ist, muß sich al­les än­dern“, an­deu­tet, zeigt Gio­ve­ne durch die Eman­zi­pa­ti­on sei­nes Er­zäh­lers. Bei­de Au­toren be­rich­ten vom Schick­sal ei­ner Fa­mi­lie nach ein­schnei­den­den his­to­ri­schen Um­brü­chen, der Na­tio­na­len Ei­ni­gung Ita­li­ens in der Mit­te des 19. Jahr­hun­derts, be­zie­hungs­wei­se wäh­rend der Krie­ge in der ers­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts, de­nen je­weils ei­ne Neu­ord­nung der Ge­sell­schaft folgt. Gio­ve­nes Werk setzt, wenn man so will, ein, wo Lam­pe­du­sas en­det, das ei­ne in Nea­pel und das an­de­re in Palermo.

Der Nie­der­gang des einst wohl­ha­ben­den Adels­ge­schlechts der San­se­ve­r­os ist im Jahr 1912 be­reits ein­ge­tre­ten, als Fol­ge der Macht­ver­schie­bun­gen des Ri­sor­gi­men­to. Gi­an Lui­gi, der Va­ter des jun­gen Er­zäh­lers, übt als Ar­chi­tekt ei­nen bür­ger­li­chen Be­ruf aus. Von sei­nen Kin­dern er­war­tet er tra­di­tio­nell pa­tri­ar­chal, sei­nen Plä­nen für ih­re Zu­kunft zu fol­gen. Ferran­te, der Äl­tes­te, soll das Fa­mi­li­en­er­be zu­sam­men­hal­ten, von Giu­lia­no ver­langt er das Ju­ra­stu­di­um. Die Töch­ter Cris­ti­na und Chec­chi­na war­ten nach Jah­ren stren­ger Non­nen-Zucht auf ei­ne gu­te Par­tie, so wie einst ih­re Mut­ter An­ni­na. Die­se bringt tra­gi­sche Ge­stal­ten in die Fa­mi­lie. Ihr Bru­der Fe­der­i­co wird we­gen sei­ner Lie­be zu ei­ner Tän­ze­rin ge­äch­tet und ist auf Ga­ben sei­ner Schwes­ter an­ge­wie­sen, die wie­der­rum auf das Er­be ih­rer Tan­te Eu­do­sia war­tet. Giu­lia­no ist in die­ser Fa­mi­lie ein Au­ßen­sei­ter. Als sei­ne Lieb­lings­schwes­ter Chec­chi­na im Klos­ter­in­ter­nat ver­schwin­det, ver­liert er sei­ne ein­zi­ge Ver­trau­te. Wäh­rend die Di­stanz zu sei­nen El­tern un­über­wind­lich bleibt, schätzt er um so mehr On­kel Fe­der­i­co als bo­den­stän­di­gen Rat­ge­ber und Gi­an Mi­che­le, den Zwil­lings­bru­der sei­nes Va­ters. Am nächs­ten steht ihm al­ler­dings Ge­de­one, „der Ein­zi­ge der Fa­mi­lie, der die Sün­de der Hof­art nicht be­ging“ und sei­nem Nef­fen die schö­nen Küns­te näherbringt.

In „Ein jun­ger Herr in Nea­pel“, dem ers­ten Ro­man der fünf­tei­li­gen Rei­he „Die Au­to­bio­gra­phie des Giu­lia­no di San­se­vero“ schil­dert An­drea di Gio­ve­ne das Er­wach­sen­wer­den des Er­zäh­lers. Die Ti­tel der Ka­pi­tel be­zeich­nen die ein­zel­nen Etap­pen. Von der Kind­heit Gíu­gí­us im al­ten Pa­laz­zo er­zählt „Der Stamm­baum“. Es fol­gen die Jah­re im In­ter­nat auf dem „Giglio“, wo er die klös­ter­li­che Struk­tur und Bil­dung zu schät­zen lernt, aber zum Ein­zel­gän­ger wird. Wer zu ihm durch­dringt, wird durch die Kriegs­wir­ren ent­ris­sen, wie sein Ka­me­rad Et­to­ri­no. Auch bei den Pa­tres fin­det er nur we­nig Rück­halt. Ei­ne Aus­nah­me bil­det Pa­ter Ber­nar­do, der Ar­chi­var, der Giu­lia­no in die Schrif­ten ein­führt. Die Will­kür und Här­te der an­de­ren Leh­rer hin­ge­gen füh­ren ihn in Iso­la­ti­on und An­triebs­lo­sig­keit. „Doch weil nichts ge­schah, durch­streif­te ich wei­ter­hin das Klos­ter, so als wür­de ich in sei­ner Klau­sur hof­fen, den Schlüs­sel zum ge­sam­ten Pro­blem des Seins und des Le­bens zu fin­den.“ Nach vier Jah­ren ver­lässt er das In­ter­nat und kommt in das neue Haus in Nea­pel, wo er ei­ge­ne Räu­me be­wohnt, die durch ei­nen „Schwe­ben­den Kor­ri­dor“ vom Rest des Do­mi­zils iso­liert wer­den, eben­so wie er selbst. Die El­tern sind be­schäf­tigt, sein Bru­der ab­we­send und die Lieb­lings­schwes­ter in der Tos­ka­na weg­ge­sperrt. Sei­ne ein­zi­gen Kon­tak­te sind ei­ne jun­ge Haus­leh­re­rin, der al­te Pri­vat­leh­rer Co­li­ca, den er in der Nach­bar­schaft auf­sucht, und sein Die­ner Giu­s­ti­no. Die Na­men sind Pro­gramm, Co­li­ca haust in ärm­li­chen Ver­hält­nis­sen, die den Pa­laz­zos um­ge­ben. Giu­s­ti­no ist Giu­lia­no recht­schaf­fen er­ge­ben. Er weiß um Rat, wenn es um neue Be­kann­te geht, de­nen Giu­lia­no auf un­ge­wöhn­li­chen We­gen be­geg­net. Doch die meis­te Zeit ver­bringt der jun­ge Herr hin­ter dem hän­gen­den Kor­ri­dor, dort kann er sich „fu­rio­sen men­ta­len Or­gi­en des Le­sens, des Schrei­bens oder der Phan­ta­sien hin­ge­ben“. So ent­ste­hen ver­schie­de­nen Tex­te, die er als „Be­ob­ach­tun­gen“, „Ana­lo­gien“ und „Hy­po­the­sen“ ord­net, er­gänzt von ei­nem „Traum­ta­ge­buch“. Es sind die­se Auf­zeich­nun­gen, auf die der Ich-Er­zäh­ler in sei­ner Au­to­bio­gra­phie zurückgreift.

Wie bei Proust ist das Er­in­nern das Mo­vens des Er­zäh­lens. Wie Proust be­herrscht Gio­ve­ne den schar­fen, bis­wei­len sar­kas­ti­schen Blick auf die obe­ren Krei­se, was sich auch im vier­ten Ka­pi­tel, „Der Ball“, ver­fol­gen lässt. Nach Kriegs­en­de emp­fängt An­ni­na all­abend­lich vie­le Gäs­te, die Giu­lia­no Ma­te­ri­al für sei­ne Be­ob­ach­tun­gen lie­fern. Un­ter die­sen bie­tet be­son­ders der Mar­che­se Le­ri­ci „Bon­mots, Spitz­zün­gig­kei­ten und un­glaub­li­che Hä­re­si­en, auch wenn die­se nichts als bren­nen­de Wahr­hei­ten wa­ren“. Wer denkt da nicht an Prousts Ba­ron de Charlus?

Doch der schö­ne Schein trügt. Die po­li­ti­schen Un­ru­hen neh­men zu, die Mo­ral ab, das fi­nan­zi­el­le Pols­ter der San­se­ve­r­os eben­so. Giu­lia­no er­kennt, daß das Geld bei den Hand­wer­kern und Händ­lern liegt und längst nicht mehr der Aris­to­kra­tie vor­be­hal­ten ist, de­ren Exis­tenz­be­rech­ti­gung höchs­tens noch Ma­nie­ren und rit­ter­li­cher Ruhm aus­ma­chen. Da hilft auch kein „Bü­ßer­gür­tel“.

So en­det der ers­te Teil der au­to­bio­gra­phi­schen Ro­man­rei­he mit Re­si­gna­ti­on, aber in Auf­bruch­stim­mung. Aus der Rück­schau er­zählt, er­schließt sich, daß aus dem ad­li­gen Au­ßen­sei­ter ein Schrift­stel­ler wer­den wird. Gio­ve­nes ge­nau­er Blick mün­det in at­mo­sphä­ri­sche Be­schrei­bun­gen von Räu­men und Sze­nen und setzt die­se mit den in­ne­ren Wel­ten des Her­an­wach­sen­den in Ver­bin­dung. Ne­ben Ver­wei­sen auf Li­te­ra­tur, die Gui­lia­no jen­seits des Kor­ri­dors ver­schlingt, fin­den sich zahl­rei­che Ver­wei­se auf Wer­ke der Bil­den­den Kunst. Auch dies ist ei­ne Par­al­le­le zu Proust. Im­mer wie­der knüpft An­drea Gio­ve­ne Ver­bin­dun­gen zwi­schen die­sen bei­den Kunst­gat­tun­gen. Den My­thos sei­nes ei­ge­nen Schrei­bens fin­det er in Ca­ra­vag­gi­os Nar­ziss ver­bild­licht. So wie die­ser „vor ei­nem Brun­nen schwar­zen Was­sers sich selbst at­met“ emp­fin­det Gio­ve­ne sei­ne Li­te­ra­tur als ei­ne Art Selbst­be­spie­ge­lung. Sei­ne star­ke Hin­wen­dung zur Bild­kunst zeigt sich nicht zu­letzt dar­in, daß der Au­tor in sei­nen letz­ten Le­bens­jah­ren selbst zum Ma­ler wur­de. Dies schil­dert Ul­ri­ke Vos­win­ckel in ih­rem aus­führ­li­chen Nach­wort, das zu­gleich ei­ne Ein­füh­rung in die ge­sam­te fünf­tei­li­ge Ro­man­bio­gra­phie bietet.

Andrea Giovene, Ein junger Herr in Neapel, übers. v. Moshe Kahn, mit einem Nachwort v. Ulrike Voswinckel, Galiani Berlin 2022

Durch die Rose zur Erleuchtung

In „Der Pole“ erschafft  J. M. Coetzee einen Epigonen von Homer, Dante und Goethe

Sie kennt Mar­ga­ri­ta, seit sie als Kin­der zu­sam­men auf der Non­nen­schu­le wa­ren; sie hat schon im­mer den Elan ih­rer Freun­din be­wun­dert, ih­ren Un­ter­neh­mungs­geist, ihr selbst­si­che­res Auf­tre­ten. Jetzt muss sie ih­ren Platz ein­neh­men. Was ge­nau wird es be­deu­ten, ei­nen Mann bei ei­nem flüch­ti­gen Be­such in ei­ner frem­den Stadt aus­zu­füh­ren? In sei­nem Al­ter wird er ge­wiss kei­nen Sex er­war­ten. Doch er wird si­cher er­war­ten, dass man ihm schmei­chelt, so­gar mit ihm flir­tet. Flir­ten ist kei­ne Kunst, die zu be­herr­schen sie sich je be­müht hat. Mar­ga­ri­ta ist an­ders. Mar­ga­ri­ta hat ei­nen leich­ten Zu­gang zu Män­nern. Mehr als ein­mal hat sie, Bea­triz, amü­siert be­ob­ach­tet, wie die Freun­din ih­re Er­obe­run­gen be­treibt. Aber sie hat nicht den Wunsch es ihr gleich­zu­tun. Wenn ihr Gast ho­he Er­war­tun­gen in Sa­chen Schmei­che­lei hat, wird er ent­täuscht werden.“

Die Freun­din ei­ner Freun­din er­hielt un­längst von ei­nem Mann das An­ge­bot, ei­ne sei­ner Woh­nung miet­frei zu be­zie­hen. Sie war dem An­bie­ter, den sie höchs­tens als Be­kann­ten be­zeich­nen wür­de, erst vor kur­zem be­geg­net. An­ge­nom­men hat sie die Of­fer­te nicht, da sie sei­ne „Durch die Ro­se zur Er­leuch­tung“ weiterlesen

Ich schreibe, um hart zu werden“

Anita Brookner schreibt in „Seht mich an“ präzise und herausragend über die Einsamkeit

Das all­ge­mei­ne Pu­bli­kum kennt uns kaum, was auch nicht un­be­dingt un­ser Wunsch wä­re. Wir be­sor­gen viel­mehr das Ma­te­ri­al für un­se­ren ei­ge­nen wis­sen­schaft­li­chen Mit­ar­bei­ter­stab, für aus­wär­ti­ge Fach­kol­le­gen und für die ge­le­gent­li­chen, sehr sel­te­nen Be­su­cher. Im Au­gen­blick kön­nen wir nur mit dem Er­schei­nen von Mrs. Hall­oran und Dr. Simek rech­nen. Mrs. Hall­oran ist ei­ne et­was wild drein­bli­cken­de Da­me mit ei­ner täu­schen­den Au­ra von Au­to­ri­tät, die be­haup­tet, in Kon­takt mit der über­ir­di­schen Welt zu ste­hen, und die sich be­müht, ih­re Theo­rie zu be­wei­sen, dass die meis­ten An­oma­lien im mensch­li­chen Ver­hal­ten dem Ein­fluss des Sa­turn zu­zu­schrei­ben sind. Sol­che Grenz­fäl­le be­geg­nen ei­nem sehr häu­fig in Bi­blio­the­ken. Dr. Simek ist ein un­ge­mein zu­rück­hal­ten­der Tsche­che oder Po­le (wir sind uns nicht ganz si­cher, was von bei­den, und wir mei­nen, dass es auch nicht un­se­re Sa­che ist, dem nach­zu­for­schen). An­hand ei­ner Rei­he klei­ner Kar­tei­kar­ten ar­bei­tet er über die Ge­schich­te von De­pres­sio­nen oder, wie man frü­her sag­te, der Me­lan­cho­lie. Er kommt je­den Tag. Bei­de kom­men je­den Tag, und zwar, wie ich ver­mu­te, haupt­säch­lich des­halb, weil die Bi­blio­thek so gut ge­heizt ist.“

Wer je län­ge­re Zeit in ei­ner wis­sen­schaft­li­chen Bi­blio­thek saß, hat­te ne­ben der Fach­li­te­ra­tur bis­wei­len Ge­le­gen­heit, die Le­ser an den an­de­ren Ti­schen zu stu­die­ren. De­ren skur­ri­le Ei­gen­hei­ten, die über die Wahl des Plat­zes und der An­ord­nung der Uten­si­li­en oft hin­aus­gin­gen, wa­ren stets will­kom­me­ne Ab­len­kung. Ge­mein­sam wid­me­ten sie sich ih­ren Lek­tü­ren, sie ar­bei­ten oft ne­ben­ein­an­der und auf­grund der Schwei­ge­pflicht kon­takt­los. Die­se not­wen­di­ge Ein­sam­keit setzt sich bei der Ich-Er­zäh­le­rin in Ani­ta Brook­ners Ro­man Seht mich an au­ßer­halb der Bi­blio­thek fort. Sie ist nicht die ein­zi­ge Fi­gur, die die­sem Ge­fühl aus­ge­setzt ist. Ein­sam­keit ist das stärks­te Mo­tiv die­ses Ro­mans, Brook­ner va­ri­iert es viel­fäl­tig und schafft da­durch Sze­nen, die an die Bild­wel­ten Ich schrei­be, um hart zu wer­den““ weiterlesen

Pompejanische Politsatire

Eugen Ruge ist mit „Pompeji oder Die fünf Reden des Jowna“ der wohl lustigste Roman über die untergegangene Stadt gelungen

Ach die Leu­te.“ Li­via zuck­te mit den Schul­tern. „Die sind so ver­gess­lich wie das Schilf! Nie­mand in­ter­es­siert sich für das, was du ges­tern ge­sagt hast. Sie wol­len wis­sen, was du heu­te sagst. Die po­li­ti­sche Wahr­heit, mein Lie­ber, ist kei­ne Fra­ge von Fak­ten und Beweisen.“

 „Ver­giss, lie­ber Le­ser, al­les, was du je­mals über Pom­pe­ji ge­hört hast.“

 Über Pom­pe­ji, die im süd­li­chen Kam­pa­ni­en ge­le­ge­ne Pro­vinz­stadt, die durch die kon­ser­vie­ren­de Wir­kung ei­nes Vul­kans im Jahr 79 n. Chr. zu Welt­ruhm ge­lang, wur­de viel ge­schrie­ben. Wis­sen­schaft­li­ches füllt gan­ze Bi­blio­the­ken. Doch auch fik­tio­na­le Li­te­ra­tur ent­stand, kaum hat­ten die Schatz­grä­ber des Bour­bo­nen-Kö­nigs ih­re Lö­cher in die ver­sun­ke­ne Stadt ge­bohrt. Das Er­stau­nen über die vor­ge­fun­de­nen, an­nä­hernd in­tak­ten Woh­nun­gen und Stadt­struk­tu­ren, ins­be­son­de­re über die Res­te der Pom­pe­ja­ner selbst, die Jah­re spä­ter Fio­rel­li durch Gips­aus­güs­se an­schau­lich mach­te, reg­ten die Phan­ta­sie vie­ler Schrift­stel­ler an. Was war wohl ge­sche­hen in den letz­ten Ta­gen der Stadt? Man­chen wie Ed­ward Bul­wer-Lyt­ton oder Ro­bert Har­ris ge­lang ein Pu­bli­kums­er­folg. Nicht sel­ten trifft man auf an Best­sel­lern ge­schul­te Ex­per­ten, die ei­nen über das de­ka­den­te Trei­ben der Pom­pe­ja­ner aufklären.

Da die schrift­stel­le­ri­sche Phan­ta­sie nie­mals en­det, wer­den auch wei­ter­hin Ro­ma­ne über Pom­pe­ji ge­schrie­ben. Der neu­es­te ist aus der Fe­der von Eu­gen Ru­ge und trägt den Ti­tel „Pom­pe­ji oder Die fünf Re­den des Jow­na“. Doch möch­te man ihn le­sen, wenn man eher die an­de­ren Bü­cher über die „Pom­pe­ja­ni­sche Po­lit­sa­ti­re“ weiterlesen

Ein Leben lang mittags Pasta und man überlebt alles“

Adriana Altaras jüdisch-deutsch-italienisches Erinnerungsbuch „Besser allein als in schlechter Gesellschaft. Meine eigensinnige Tante“

Im­mer wie­der fängt Adria­na da­von an, ich sol­le nach Deutsch­land kom­men. Dass es mir in ei­nem deut­schen Al­ters­heim schme­cken wür­de, wa­ge ich zu be­zwei­feln. Ich ha­be nichts ge­gen Kar­tof­feln, aber je­den Tag? Mei­ne Schwes­ter Thea lieb­te Kar­tof­feln. Kein Wun­der, dass sie nach Deutsch­land aus­ge­wan­dert ist. Dort ist sie auch ge­stor­ben. Ich will nicht be­haup­ten, die Kar­tof­feln hät­ten ihr ge­scha­det, aber ein län­ge­res Le­ben hat man ein­deu­tig mit Pasta.“

Die Pan­de­mie ist vor­bei, die App ab­ge­schal­tet, je­de Ein­schrän­kung auf­ge­ho­ben. In Pfle­ge­hei­men ist der Zu­gang wie­der un­ein­ge­schränkt mög­lich, le­dig­lich ei­ne Mas­ke müs­sen die Be­su­cher noch tra­gen. Wer wie ich dort ei­nen Men­schen zu be­su­chen hat­te, wird sich an die Stu­fen des Re­gle­ments gut er­in­nern kön­nen. Dem Be­suchs­ver­bot folg­te ein be­grenz­tes Ren­dez­vous an ei­ner dik­ta­tor­lan­gen Ta­fel mit Spuk­schutz­schei­be bis schließ­lich die Kom­bi­na­ti­on aus Test­pflicht, Mas­ke und ei­des­staat­li­cher Ge­sund­heits­er­klä­rung ein Zu­sam­men­sein wie­der mög­lich mach­te. Die­se Pha­sen, die den un­auf­halt­sa­men Ver­fall ei­nes Men­schen be­glei­te­ten und er­schwer­ten, be­schreibt Adria­na Al­ta­ras in ih­ren Ro­man „Bes­ser al­lein als in schlech­ter Ge­sell­schaft“. Der Ti­tel stammt aus der Schatz­kis­te ih­rer Tan­te Jel­ka. Sie lebt im ita­lie­ni­schen Man­tua, ih­re Nich­te in Ber­lin. Die eben­so fer­nen wie un­ter­schied­li­chen Städ­te wur­den für bei­de zur Hei­mat, nach­dem ih­re jü­di­sche Fa­mi­lie vor Jahr­zehn­ten Za­greb ver­ließ. Die schö­ne und stol­ze Jel­ka wur­de in ein La­ger ver­schleppt, von dort ret­te­te sie ein ita­lie­ni­scher Sol­dat und brach­te sie in sein Dorf in Nord­ita­li­en. Mehr aus Dank­bar­keit, denn aus Lie­be hei­ra­te­te sie Gi­or­gio und ar­ran­gier­te sich mit den Verhältnissen.

Durch­hal­ten, nach vor­ne schau­en und das Bes­te dar­aus ma­chen wur­den die Le­bens­prin­zi­pi­en, die der 99-Jäh­ri­gen auch in der Ca­sa di Cu­ra hel­fen. Nach ei­nem lan­gen selbst­be­stimm­ten Le­ben stahl ein Ein Le­ben lang mit­tags Pas­ta und man über­lebt al­les““ weiterlesen

Gehen und Verstehen

Andreas Schäfers „Die Schuhe meines Vaters“ ist Trauerritual und Totengesang zugleich

Ge­den­ken oh­ne Wor­te. Er­in­nern­der Ab­schied durch Wie­der­ho­lung von Hand­grif­fen und Ge­wohn­hei­ten. Ist es nicht so, als wür­de man da­bei in die Leer­form hin­ein­schlüp­fen, die der Ver­stor­be­ne hin­ter­las­sen hat?

Ich hat­te das Be­dürf­nis, We­ge des Va­ters in sei­nem Na­men zu ge­hen, in Grie­chen­land, dort wo er in den letz­ten Jah­ren sei­nes Le­bens viel­leicht am glück­lichs­ten war.“

Schu­he spie­len in die­sem Buch in zwei­fa­cher Hin­sicht ei­ne Rol­le. Zum ei­nen er­in­nern sie an die Ein­sicht, man sol­le nicht über ei­nen an­de­ren ur­tei­len, be­vor man ei­ne Wei­le in des­sen Schu­hen ge­lau­fen ist. Zum an­de­ren han­delt „Die Schu­he mei­nes Va­ters“ ganz kon­kret von den Ex­em­pla­ren, die der Sohn, An­dre­as Schä­fer, nach dem Tod sei­nes Va­ters aus dem Kran­ken­haus mit­ge­nom­men hat. Der rea­le und der über­tra­ge­ne Aspekt zei­gen sich in die­sem Er­in­ne­rungs­buch auf viel­fäl­ti­ge Wei­se, in Rück­bli­cken auf die Per­son des Va­ters, auf sei­ne Bio­gra­fie, sei­ne Prä­gun­gen und ins­be­son­de­re „Ge­hen und Ver­ste­hen“ weiterlesen

Streben nach Selbstgeißelung

In „Der gewöhnliche Mensch“ erzählt Lena Andersson Gesellschaftsgeschichte als Individualgeschichte

Er ging hin­aus in den Werk­raum, um sau­ber zu ma­chen, und fühl­te sich ein­sam, wäh­rend er dort stand und das Werk­zeug zu­rück an die rich­ti­gen Ha­ken häng­te. Er hat­te die Stim­mung ver­dor­ben, und es war an ihm, al­les wie­der­gut­zu­ma­chen. Er hat­te nicht dar­um ge­be­ten, so viel Macht zu ha­ben. Die Fa­mi­lie be­griff nicht, wie macht­los er sich fühl­te, wie tief ihn sei­ne Angst vor der Welt durch­drang, in der sie al­le vier leb­ten und er nichts an­de­res woll­te, als dass sei­ne Kin­der nicht vom Weg ab­ka­men. Er ver­such­te die Fall­gru­ben auf­zu­zei­gen, ih­nen recht­zei­tig klar­zu­ma­chen, dass es für nor­ma­le Men­schen kei­nen Spiel­raum zum Trö­deln und für Neu­an­fän­ge gab.“

Wer kennt nicht so eine*n? Ge­rech­tig­keit und Kor­rekt­heit ste­hen bei ihm an ers­ter Stel­le. Al­les wird re­gu­liert und re­gle­men­tiert. Er trinkt nicht, isst ge­sund, fährt nie weg und gibt kaum Geld aus. Sein Hang zur As­ke­se zeigt sich je­doch nicht nur im Kon­sum, son­dern auch im Den­ken, das durch in­ne­re Selbst­kon­trol­le auf engs­ten Bah­nen ver­läuft. Ein sol­ches Le­ben ver­kör­pert das pie­tis­ti­sche Ide­al des Schma­len Wegs. Steil und stei­nig führt er auf den An­dachts­bil­dern ganz nach oben, wo die Folg­sa­men im Him­mel das er­hof­fen, was sie sich auf Er­den ver­sa­gen. An­de­re fin­den auf be­que­me­ren Pfa­den Lust, Ge­nuss und Freu­de. Es mag sein, daß sie das pie­tis­ti­sche Pa­ra­dies nie er­rei­chen, doch wie heißt es so schön, der Weg ist das Ziel.

Rag­nar Jo­hans­son, der Held in Le­na An­ders­sons neu­em Ro­man „Der ge­wöhn­li­che Mensch“ lebt, ob­schon als schwe­di­scher So­zi­al­de­mo­krat athe­is­tisch, die kar­ge Va­ri­an­te. Am Bei­spiel die­ses Zeit­ge­nos­sen liest die zwi­schen Mit­leid und Ab­nei­gung schwan­ken­de Le­se­rin ei­ne Chro­nik der „Stre­ben nach Selbst­gei­ße­lung“ weiterlesen

So könnte es gewesen sein“

In einer dunkelblauen Stunde“ errichtet Peter Stamm „ein verwinkeltes Gedankengebäude“, in dem die Leserin „auf Entdeckungstour geht“

Nicht der Au­tor er­zählt, al­le Men­schen und Er­eig­nis­se erzählen.“
„Es geht beim Schrei­ben nicht dar­um, et­was zu ma­chen, son­dern et­was zu finden.“
„Die Wirk­lich­keit schreibt kei­ne Ge­schich­ten. In der Fik­ti­on kann man nicht le­ben, aber auch nicht sterben.“

Wel­che Er­war­tun­gen weckt Li­te­ra­tur? Wie wirkt sie? Wie kann man dar­über re­den? Fra­gen, die sich mir beim Le­sen und Schrei­ben stel­len und die wäh­rend un­se­rer Dis­kus­sio­nen im Li­te­ra­tur­kreis oft gro­ße Ver­blüf­fung aus­lö­sen. Wer sich mit his­to­ri­schen Tex­ten be­schäf­tigt, neigt zur Ana­ly­se. Wer hat wann was wem und vor al­len Din­gen war­um ge­sagt? Erst wenn dies ge­klärt ist, kann man Rück­schlüs­se zie­hen und in­ter­pre­tie­ren. Bei ei­nem li­te­ra­ri­schen Text al­ler­dings kann die Ana­ly­se be­reits die In­ter­pre­ta­ti­on sein, falls er so ge­baut ist wie Pe­ter Stamms Ro­ma­ne al­le­mal. Die elen­de Gret­chen­fra­ge „was will uns der Au­tor da­mit sa­gen“ führt bei Stamm ins La­by­rinth, Ari­ad­ne­fa­den nicht in Sicht.

Pünkt­lich zu sei­nem sech­zigs­ten Ge­burts­tag legt der Schwei­zer Pe­ter Stamm sei­nen neu­en Ro­man vor. Das Ge­schenk an sich selbst wie an sei­ne Le­ser raunt ge­heim­nis­voll „In ei­ner dun­kel­blau­en Stun­de“ und ist in ei­nem be­son­de­ren Pa­pier ver­packt, wel­ches das Por­trät „Pe­ter Stamm“ der Ma­le­rin An­ke Dober­au­er zeigt. Als Schrift­stel­ler be­kannt wur­de Stamm durch So könn­te es ge­we­sen sein““ weiterlesen

Im „Land der singenden Zitronen”

Azzurro — Eric Pfeils vielstimmiger Lobgesang auf die Canzone

Aus­ge­rech­net ein CDU-Po­li­ti­ker war Eric Pfeils In­itia­ti­ons­meis­ter. Wolf­gang Bos­bach führ­te den da­mals noch sehr jun­gen Pfeil und des­sen El­tern vom be­schau­li­chen Ber­gisch Glad­bach per Bus in die Me­tro­po­le Rom, wo Pfeil von „zu­viel Son­ne, zu viel Hek­tik, zu viel Es­sen, zu viel Schön­heit, zu viel al­les“ ge­flasht wur­de. „Ita­li­en ist ein Zu­viel-Land“, er­kennt er und legt in Az­zur­ro ent­spre­chend viel Mu­sik auf.

Kein Wun­der, daß er 100 ita­lie­ni­sche Songs, un­ge­rech­net der ne­ben­bei er­wähn­ten, für sei­nen mu­si­ka­li­schen Ci­ce­ro­ne aus­wählt. Zu viel, könn­te aus­ru­fen, wer es wie ich mit Meis­ter Busch hält, doch manch­mal un­ter­liegt die Sehn­sucht nach Stil­le der nach Ita­li­en. Ich war schon lan­ge nicht mehr dort, erst kam die Pan­de­mie, dann muss­ten dä­ni­sche Ver­wand­te in Schwe­den be­sucht wer­den. Was bleibt nun im blei­grau­en, feucht­kal­ten Ja­nu­ar, in dem noch nicht ein­mal in der Woh­nung woh­li­ge Wär­me wartet?

Die­se stellt sich per for­tu­na mit Pfeils klei­nem Füh­rer durch die Kul­tur­ge­schich­te der Can­zo­ne so­fort ein. In lo­cke­rem Ton lässt der Mu­sik­jour­na­list dar­in Bel­can­to, Rock und Pop vor­bei fla­nie­ren und gar­niert die­se mit „Im „Land der sin­gen­den Zi­tro­nen”“ weiterlesen

Vom Warten zur Schnecke gemacht

Antonio Muñoz Molina erzählt in „Tage ohne Cecilia“ vom Abdriften eines unzuverlässigen Erzählers

Dank der Ap­ly­sia, ei­nes be­hä­bi­gen Tie­res, das nur über fünf­hun­dert Neu­ro­nen und höchs­tens sie­ben­tau­send Syn­ap­sen ver­fügt, konn­te der Gro­ße Chef von Ce­ci­li­as La­bor die mo­le­ku­la­ren Me­cha­nis­men zur Bil­dung von Kurz- und Lang­zeit­ge­dächt­nis ent­de­cken. Ce­ci­lia hat mich ge­lehrt, mei­ne ge­ne­ti­schen Fa­mi­li­en­ban­de mit Rie­sen­schne­cken, wei­ßen Rat­ten und Frucht­flie­gen zu ak­zep­tie­ren. In ih­rer pri­mi­ti­ven Träg­heit re­agiert die Ap­ly­sia auf Schmerz und lernt aus den Strom­schlä­gen. Ich fra­ge Ce­ci­lia, was die Schne­cke in die­sem Au­gen­blick fühlt, wie sie die Welt wahr­nimmt, was sie sieht, hört und fühlt und ob sie sich an Din­ge er­in­nern kann, ob sie schläft oder wacht, ob sie träumt.“

Sei­ne Ner­ven und Syn­ap­sen, sein Kurz- und Lang­zeit­ge­dächt­nis, kurz die kom­ple­xen Vor­gän­ge sei­nes Hirns ma­chen der Haupt­fi­gur in An­to­nio Mu­ñoz Mo­li­nas Ro­man „Ta­ge oh­ne Ce­ci­lia“ zu schaf­fen. Die in­ne­re Stim­me des Prot­ago­nis­ten, erst am En­de er­fah­ren wir sei­nen Na­men, Bru­no, re­flek­tiert sein Er­le­ben und Er­in­nern, sei­ne Sehn­süch­te und Träu­me. Es han­delt sich um ei­nen äu­ßerst un­zu­ver­läs­si­gen Er­zäh­ler, was im Lau­fe des Ro­mans, der auf knapp 300 Sei­ten ho­he Kom­ple­xi­tät ent­fal­tet, im­mer deut­li­cher wird. Ne­ben der Fra­ge, wo zum Teu­fel Ce­ci­lia bleibt, ent­steht ein „Vom War­ten zur Schne­cke ge­macht“ weiterlesen