In „Dream Count“ thematisiert Chimamanda Ngozi Adichie die Diskriminierung weiblicher Lebensentwürfe hart am Chicklit
»Lebst du das Leben, das du dir für dich vorgestellt hast?«, fragte ich. »Nein, aber wer tut das schon?« »Ich denke, da gibt es einige Leute.« »Manche Leute denken, dass manche Leute es tun.« »Wie meinst du das? Dass es auf niemanden zutrifft? Das ist deprimierend.« »Ist es das? Ich finde es ziemlich beruhigend.« »Ich möchte daran glauben, dass manche Menschen es tun. Was für einen Sinn hätte das Ganze denn sonst?« Er sah ernüchtert aus. »Hilft es zu wissen, dass die Welt voller Menschen ist, die noch trauriger sind als du?«
Für ihr Werk „Americanah“ erhielt die in Amerika lebende Nigerianerin Chimamanda Ngozi Adichie Aufmerksamkeit und Anerkennung. Mit „Dream Count“ hat sie nun einen Roman vorgelegt, von dem man, angesichts seines Schmökerpotentials, nicht allzu viel verraten möchte. Adichie thematisiert darin die Ungerechtigkeiten zwischen Männer und Frauen, Reichen und Armen, Weißen und Nichtweißen, kurz gesagt zwischen Privilegierten und Nichtprivilegierten. Auf 528 Seiten lässt sie in fünf Kapiteln vier in den USA lebende Afrikanerinnen auftreten. Drei ihrer Protagonistinnen, Zikora, Kadiatou und Omelogor, erhalten jeweils ein eigenes Kapitel. Chiamaka, welche die Verbindung zwischen den Frauen knüpft, kommt im ersten und letzten Teil des Romans zu Wort, was ihn inhaltlich wie formal rahmt.
Chiamaka war zum Studium in die USA gekommen, gibt dieses jedoch auf, wird Reiseschriftstellerin und träumt davon, einen Roman zu schreiben. Die Isolation der Coronazeit bietet ihr Muße, sich an ihren „Dream Count“ zu erinnern, die Männer ihrer vergangenen Liebesbeziehungen. Ihre Cousine Omelogor erkennt darin das Anzeichen eines emotionalen Defizits, „während normale Menschen im Lockdown unter Angstzuständen litten, (warst du) damit beschäftigt (…), deinen Verflossenen hinterherzurecherchieren und deinen Body Count durchzugehen.« »Meinen Dream Count«, sagte ich. »Mit wie vielen Dreams bist du denn schon zusammen gewesen?« »Die Welt hat sich verändert, und dann schaut man zurück, um mal Bilanz zu ziehen und zu sehen, wie man eigentlich gelebt hat. Und man bereut so vieles«“
Omelogor, im gleichen nigerianischen Dorf wie Chiamaka aufgewachsen, bildet nicht nur, was ihre Männerbeziehungen betrifft, den Gegenpart zu ihrer Freundin. Die eigene Unabhängigkeit gilt ihr als größtes Gut. Finanziell ermöglicht ihr dies eine Karriere im Bankenwesen, die es mit jener „Der Spielerin“ von Isabelle Lehn durchaus aufnehmen kann. Trotzdem begegnet auch ihr die Erwartung, ihre Rolle als Frau und Mutter zu erfüllen.
Längst verinnerlicht hat dies, forciert durch ihren tiefen christlichen Glauben, die aus Nigeria stammende Zikora. Sie verliert zwar durch die Schwangerschaft den Partner, gewinnt aber die Nähe zu der entfremdeten Mutter.
Und dann ist da noch Kadiatou, eine aus Guinea eingewanderte Frau, die mit ihrer Tochter in prekären Verhältnissen lebt. In ihrem Job als Zimmermädchen trifft sie auf Chiamaka, die sie als Hausangestellte engagiert, wodurch eine freundschaftliche Beziehung entsteht. Adichie legt dieser Figur den Fall Diallo-Strauss-Kahn zu Grunde. Im Nachwort erläutert die Autorin, daß der breit publizierte Missbrauch ihr nicht nur als Inspiration diente, sondern daß sie den Hergang der Vergewaltigung getreu der Aussage Diallos übernommen habe. Die Vorgeschichte ihrer Protagonistin Kadiatou sowie deren Reaktion auf die Niederschlagung des Verfahrens seien hingegen schriftstellerische Phantasie und haben nichts mit dem Vorbild zu tun.
Gemeinsam ist den vier Frauen des Romans die Suche nach Lebenserfüllung. „Lebst du das Leben, das du dir für dich vorgestellt hast?“ lautet die Kernfrage. Die Antwort fällt weniger unterschiedlich aus als erwartet. Für Chiamaka liegt die Erfüllung darin, von einem Mann „erkannt zu werden“, Omelogor wünscht sich die Freiheit zur Selbstbestimmung, Zikora Mann und Kind und Kadiatou einfach ein friedliches Leben. Jede von ihnen kämpft gegen fremde aber auch eigene Erwartungen, sei es die Abstammungslinie fortzuführen, der katholischen Moral zu entsprechen oder Männern gegenüber gefügig zu sein.
Wie universell diese Ansprüche sind, beweist Adichie durch die Wahl ihrer Handlungsorte, neben den USA sind dies Nigeria, Guinea und die Länder, die Chiamaka bereist. Ebenso ruft sie unterschiedliche Milieus auf, die Welt der Superreichen, der Akademiker, des Banken‑, Justiz- und des Verlagswesens. Überall sind Frauen Ressentiments und Diskriminierungen ausgesetzt, seien sie rassistischer oder genderbedingter Natur.
Adichie zeigt dies durch die Gefühle, mit denen die Erzählerinnen ihr Leben reflektieren. Chiamaka vollführt dabei die stärkste Selbstanalyse und rutscht durch ihren Drang, erkannt zu werden, zuweilen in melodramatische Gefilde. So sieht sie sich für eine Trennung verantwortlich, „weil ich diesen außerordentlichen Schmerz nicht länger ignorieren konnte, der darin liegt, einen lieben Menschen lieben zu wollen, den man nicht liebt.“ Adichie schafft mit Chiamaka eine Frau, die sich bis zur Selbstdemontage seziert und schnell bereit ist, Schuld zu übernehmen. „Wenn ich jetzt zurückblicke, sehe ich meine Schwäche in aller Deutlichkeit, meine Nachgiebigkeit und Fügsamkeit im Austausch für nichts.“
Den Gegenpart zu Chiamaka bildet in vielerlei Hinsicht Omelogor, die sich mit Schlagfertigkeit gegen männliches Dominanzgehabe wehrt. Emotionale Verletzbarkeit vermeidet sie durch den Verzicht auf feste Beziehungen. Das in ihrer Selbstbestimmung gegründete Glück teilt sie mit anderen, die unter schlechten Bedingungen leiden. Da sind zum einen Frauen, denen sie mit Micro-Spenden zum Aufbau eines Unternehmens verhilft. Zum anderen Männer, und hierin liegt eine feine Ironie, denen sie in ihrem Blog „Only for men“, zur Verhaltensänderung gegenüber Frauen rät. Omelogor, die sich nach ihrer Karriere in Nigeria dazu entschließt, Kulturwissenschaft in den USA zu studieren, ist die stärkste Figur des Romans.
Neben dem sich ergänzenden Duo Omelogor und Chiamaka, fallen die anderen beiden Protagonistinnen stark ab. So fügt Adichie durch Zikora lediglich eine weitere Beziehungsvariante, die der vom Partner im Stich gelassenen Schwangeren, hinzu. Ansonsten wäre die Figur in der Dramaturgie des Romans verzichtbar, wenn man von ihrer Rolle als juristische Beraterin im Vergewaltigungsfall absieht. Interessant ist, daß sowohl Zikora als auch Kadiatou nicht als Ich-Erzählerinnen auftreten, sondern von einer personalen Erzählstimme vertreten werden. Soll das die Passivität der Figuren ausdrücken oder ihre jeweilige Nebenrolle? Das Kapitel Kadiatou gerät so, abgesehen von der Vergewaltigungsszene, die Adichie bewegend nacherzählt, zum schwächsten literarischen Element des Romans. Die Vorgeschichte Kadiatous in Guinea, eines armen Mädchens in unterdrückten Verhältnissen, ist voller Klischees. Auf den Unfalltod des Vaters folgen Kinderarbeit, Beschneidung, ein alkoholkranker Gatte, eine Fehlgeburt, ein unzuverlässiger Partner und der Auftritt einer Wohltäterin. Auch wenn die Autorin Zeitsprünge und Rückblicke einbaut, fühle ich mich an einen sehr einfach gestrickten Genreroman erinnert. Warum hat man Adichie nicht geraten, auf diese beiden Figuren zu verzichten, und sich auf die interessanten Ich-Erzählerinnen und den aufgegriffenen Fall zu konzentrieren?
Auch sprachlich findet sich Schreckliches, wie „ein Laut, so alt wie die noch nicht geformte Erde“. Derart krude Formulierungen, die durch die Übersetzung oft noch gesteigert werden, durchziehen leider den Roman. Da fehlt es nicht an Erkenntnissen wie „Menschen sterben und Menschen feiern Geburtstag“, „Wir sind verliebt, und dann sind wir nicht mehr verliebt“ oder „Ich wollte nicht das, von dem ich wollte, dass ich es wollte“. Neben dieser Pathosprosa finden sich Verweise auf Hesse, Proust und Kundera, aber auch Sätze seltsamer Logik. Ich frage mich, was unter einem „unbekanntem Warten“ zu verstehen ist oder warum ich nie „aufgeregt und voller Erwartung“ bin, wenn ich „eine süße Frucht schäle“? Vielleicht handelt es sich aber auch um Übersetzungsfehler, wie der „Schambecher“, „ein funkelnder, überschäumender Krug des Humors“ oder der „Wunsch, die Löcher mit einem anwesenden Mann zu stopfen“. Auch der „Wehrmachtssoldat“, der von Omelogor zwar deutsch, aber mit V‑Laut ausgesprochen wird, ‑was im Original korrekt wäre, in der deutschen Übersetzung aber nun mal nicht funktioniert‑, wirft die Frage auf, was mit den beiden Übersetzern los war? Wurde ihnen etwa zu wenig Zeit gelassen? An dem Einsatz einer KI kann es nicht gelegen haben, denn selbst diese empfiehlt, „a cup of shame“ keinesfalls wörtlich ins Deutsche zu übersetzten, da es „eine absurde Mischung aus „Scham“ und einem Trinkgefäß erzeugen würde, was leicht zu unfreiwilliger Komik führt oder sogar Assoziationen weckt, die ins Körperliche kippen“.
Wen diese Dinge jedoch nicht stören, erhält mit „Dream Count“ einen Schmöker mit vier Frauenstimmen, Blogbeiträgen, Reiseberichten und einem auf einer Quelle basierendem Bericht, der mit Humor, guten Dialogen, viel Pathos und noch mehr Klischees von bestehenden Machtverhältnissen erzählt.
Chimamanda Ngozi Adichie, Dream Count, aus dem Amerikanischen übers. v. Asal Dardan und Jan Schönherr, S. Fischer Verlag 2025