Ein Brite in Japan

Chris Broad erzählt in „Abroad in Japan“ von seinen „Erfahrungen bei der Erkundung einer Kultur und seiner unablässigen Selbstdemütigung“

Bis zu die­sem Au­gen­blick hat­te mich mein Stolz dar­auf, für das JET-Pro­gramm aus­ge­wählt wor­den zu sein, zu der Vor­stel­lung ver­führt, ich wä­re et­was Be­son­de­res. Doch als ich nun in der Lob­by des Keio Pla­za Ho­tels stand als ei­nes von tau­send frem­den Ge­sich­tern, däm­mer­te mir, dass ich nur ein win­zi­ges Räd­chen in ei­ner wohl­ge­öl­ten Ma­schi­ne­rie war.“

Der Au­tor die­ses Ja­pan­buchs, Chris Broad, kam 2012 erst­mal in das Land. Aus­ge­wählt vom „Ja­pan Ex­ch­an­ge and Tea­ching Pro­gramm“ soll­te er ja­pa­ni­sche Leh­rer beim Eng­lisch-Un­ter­richt un­ter­stüt­zen. Mitt­ler­wei­le lebt er im­mer noch in Ja­pan und dreht Do­ku­men­tar­fil­me. Be­rühmt wur­de er, ins­be­son­de­re in sei­ner neu­en Hei­mat, durch sei­ne You­Tubes über sei­ne Er­leb­nis­se in dem an­fangs für ihn so frem­den Land. In „Ab­road in Ja­pan“ lie­gen die­se nun in li­te­ra­ri­scher Form vor.

All‘ das wuss­te ich nicht, als ich zu dem Buch griff. Der Ti­tel weck­te in mir Er­in­ne­run­gen an die Rei­se­be­rich­te von Mark Twa­in und Bill Bry­son. Der Ver­gleich liegt na­he, nicht nur, was den Ti­tel an­geht. In iro­ni­schem Ton, der sich selbst als Ziel des Spotts kaum aus­spart, schil­dert Broad sei­ne Be­geg­nun­gen mit der ja­pa­ni­schen Kul­tur. Wir be­glei­ten ihn bei sei­nem Be­mü­hen, mit die­ser ver­traut zu wer­den, über zehn Jah­ren hinweg.

Den größ­ten Teil neh­men sei­ne drei Jah­re als Leh­rer an der Saka­ta Se­ni­or High in der Prä­fek­tur Ya­ma­ga­ta ein. Es folgt sein Weg in die Selbst­stän­dig­keit. Zu­nächst dreht Broad Vi­de­os für ei­ne Tou­ris­mus­agen­tur, dann Do­ku­men­tar­fil­me über den Wie­der­auf­bau nach der Fu­ku­shi­ma-Ka­ta­stro­phe. Zwi­schen­durch ver­öf­fent­licht er im­mer wie­der You­Tubes, so über die Scho­ko-Pom­mes von McDonald’s oder über den Test­flug ei­ner nord­ko­rea­ni­schen Interkontinentalrakete.

Die Lek­tü­re ist un­ter­halt­sam wie in­for­ma­tiv, amü­sant und den­noch fein­füh­lig, denn Board ge­lingt es, die Aben­teu­er in der Fer­ne mit Ein­sich­ten in sich selbst zu ver­bin­den. Selbst­iro­nie prägt sei­nen Blick, er stellt sich nicht über das zu­wei­len ver­stö­ren­de Un­be­kann­te, son­dern dar­auf ein. Ei­ne die­ser Her­aus­for­de­run­gen ist die Sprach­bar­rie­re auf bei­den Sei­ten. Chris spricht kein Ja­pa­nisch, die meis­ten Eng­lisch-Leh­rer, de­nen er be­geg­net, kaum Eng­lisch. „So an­ge­nehm die meis­ten mei­ner Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen auch wa­ren, of­fen­bar ge­hör­te es nicht zur Ein­stel­lungs­vor­aus­set­zung ei­nes Eng­lisch­leh­rers in Ja­pan, auch Eng­lisch zu spre­chen.(…) Mir wur­de klar, dass mei­ne üb­li­che spöt­ti­sche, sar­kas­ti­sche Sprach­per­sön­lich­keit, an­ge­füllt mit Me­ta­phern und bri­ti­schem Non­sens-Slang, hier un­an­ge­bracht war. Um kom­mu­ni­zie­ren zu kön­nen, muss­te ich mein Vo­ka­bu­lar dras­tisch ver­ein­fa­chen – was da­zu führ­te, dass ich noch lang­wei­li­ger wirk­te, als ich oh­ne­hin schon bin.“

Als Leh­rer un­ter­rich­tet Chris auch au­ßer­halb der Schu­le und ge­langt so an ei­nen Sprach­kurs, des­sen Mit­glie­der sei­ne ers­ten pri­va­ten Kon­tak­te wer­den. „Der Hö­he­punkt des ei­kai­wa je­den Mo­nats wa­ren die Haus­par­tys, die Na­o­ko oder ei­ne der an­de­ren äl­te­ren Da­men der Grup­pe ver­an­stal­te­ten. Wir tra­fen uns al­le und brach­ten selbst ge­ba­cke­nen Ku­chen und Snacks mit, die wir dann ge­nüss­lich ver­speis­ten. Das war nicht nur ei­ne deut­lich bes­se­re Ku­lis­se als die ste­ri­le Stadt­hal­le, son­dern die Ein­la­dung in die Woh­nung der Kurs­teil­neh­me­rin­nen gab mir auch das Ge­fühl, in die ört­li­che Ge­mein­schaft in­te­griert zu sein. Mit ei­nem Mal war ich nicht mehr der geis­ter­haf­te Frem­de, der al­lein durch die Stra­ßen zog, son­dern eher ein Teil der Gemeinschaft.“

Ei­ner der Teil­neh­mer wird ihn spä­ter beim Ja­pa­nisch-Ler­nen un­ter­stüt­zen. Denn ob­gleich Chris sich in sei­nem ers­ten schnee­rei­chen ja­pa­ni­schen Win­ter un­zäh­li­ge Kan­ji-Zei­chen ein­prägt und im All­tag stets von der Spra­che um­ge­ben ist, fällt es ihm schwer, sie an­zu­wen­den. Das mag auch an der Ge­sprächs­kul­tur der Ja­pa­ner lie­gen. „Das ja­pa­ni­sche Sprich­wort »Es ist bes­ser, vie­le Din­ge un­aus­ge­spro­chen zu las­sen« fasst das chin­mo­ku wun­der­bar zu­sam­men. In Ja­pan ist Schwei­gen al­les an­de­re als un­an­ge­nehm, son­dern viel­mehr Teil des täg­li­chen Umgangs.“

Ge­prägt von Hier­ar­chie und so­zia­ler Kon­trol­le zei­gen sich vie­le dem Frem­den ge­gen­über zu­rück­hal­tend. Sein aus­tra­li­scher Kol­le­ge Roy und al­ko­ho­li­sche Ge­trän­ke wir­ken je­doch als Brü­cken­bau­er. So ent­wi­ckeln sich in ei­ner Knei­pe beim Fei­er­abend-Bier die ers­ten Un­ter­hal­tun­gen und bei der gro­ßen Fei­er am Jah­res­en­de spre­chen ihn plötz­lich die Kol­le­gen frei­mü­tig an. „Im Lau­fe der Jah­re ha­ben wir durch je­de Men­ge Spio­na­ge­fil­me ge­lernt, dass der si­chers­te Weg, um je­man­dem die Wahr­heit zu ent­lo­cken, ei­ne Sprit­ze mit Thio­pen­tal ist – und schon of­fen­bart der Be­trof­fe­ne sei­ne tiefs­ten, dun­kels­ten Ge­heim­nis­se. In Ja­pan braucht man da­zu nur zwei Glä­ser Bier.“ 

Ne­ben die­sen lehr­rei­chen In­for­ma­tio­nen über Ja­pan, zu de­nen zählt, daß ein Arzt­be­such meist mit dem Kon­sum ei­ner In­fu­si­on ein­her­geht, lie­fert Broad auch Amü­san­tes. Sei­en es die Kon­fron­ta­ti­on mit Köst­lich­kei­ten aus dem Bauch des Tin­ten­fischs, die Vor­zü­ge ei­nes Kei-Car und der Trick ein eben­sol­ches ge­schickt und oh­ne Schau­fe­lei aus ei­ner Schnee­we­he zu ma­nö­vrie­ren. Na­tür­lich fin­det sich auch Er­wart­ba­res, wie die „Stra­ßen­schuh-Ver­bots­kul­tur“ oder das auf Gar­tem­pe­ra­tur ge­brach­te Was­ser ei­nes On­sen. Und wer nicht mehr la­chen mag, kann sich ge­nüss­lich über die En­ge ei­ner Schlaf­kap­sel gruseln.

Da un­ser Ja­pan-Bumm­ler in den Jah­ren al­le 47 Prä­fek­tu­ren be­reist, kom­men­tiert und ge­filmt hat, ha­ben auch Flo­ra und Fau­na ih­ren Auf­tritt. So be­geg­net Broad wie einst Bill Bry­son ei­nem Bä­ren so­wie ei­ner un­gleich grö­ße­ren An­zahl von mehr oder we­ni­ger be­rühm­ten Kat­zen. Der Biss in ei­ne der schöns­ten und teu­ers­ten Erd­bee­ren Ja­pans und so­mit zu­gleich der Welt mag als Ent­schä­di­gung für die­se Bes­ti­en in­ter­pre­tiert wer­den. Ge­nau­so wie Broads Be­mü­hun­gen um In­te­gra­ti­on in das Land der auf­ge­hen­den Son­ne ih­ren Lohn in der Freund­schaft zu ei­nem Ja­pa­ner finden.

Chris Broad, Abroad in Japan. Meine Abenteuer im Land der aufgehenden Sonne, übers. v. Jörn Pinnow, Kiepenheuer&Witsch 2025

Die durchsichtige Frau

In „Die Spielerin“ erzählt Isabelle Lehn von einer Frau, die sich zurücknimmt, um nach vorne zu gelangen

Man um­schreibt sie als Frau mitt­le­ren Al­ters. In die­se Rol­le fügt sie sich ein, ihr be­zeich­nen­des Merk­mal ist ih­re Durch­schnitt­lich­keit. Man könn­te sie für die Ge­richts­pro­to­kol­lan­tin hal­ten, die le­dig­lich den fal­schen Platz ge­wählt hat, und wür­de man ihr auf der Stra­ße be­geg­nen, dann könn­te man sie leicht übersehen. 
Jetzt aber sind al­le Au­gen auf sie ge­rich­tet. A. wirft die Bli­cke zu­rück, sie ver­wei­gert die Aus­sa­ge, nun, da man ihr zu­hö­ren wür­de. Lie­ber will sie die Leer­stel­le blei­ben, der blin­de Fleck im Sys­tem, den sie jah­re­lang dar­ge­stellt hat, und so­lan­ge sie schweigt, ver­flüch­tigt sie sich zu den Ge­schich­ten, die an­de­re von ihr er­zäh­len, um die Leer­stel­le A. zu um­stel­len. Es könn­te kein bes­se­res Ver­steck für A. geben.“

Eben­so ge­schickt wie die Haupt­fi­gur in Isa­bel­le Lehns Ro­man „Die Spie­le­rin“ sich hin­ter ih­rer Un­auf­fäl­lig­keit zu ver­ste­cken weiß, in­sze­niert die Au­torin die­se Ca­mou­fla­ge. Sie er­streckt sich über den gan­zen Ro­man und ent­hüllt sich noch nicht ein­mal auf den zwei­ten Blick, denn ihr Po­ten­ti­al ent­wi­ckelt die­se in­tel­li­gen­te Frau im Ver­bor­ge­nen. Zu Be­ginn des Ro­mans der 1979 ge­bo­re­nen Rhe­to­ri­ke­rin und Schrift­stel­le­rin Isa­bel­le Lehn steht das En­de der Ge­schich­te, das mit dem En­de des Er­folgs ih­rer Fi­gur zu­sam­men­fällt. Doch auch in die­ser Si­tua­ti­on als An­ge­klag­te vor Ge­richt ver­hält sie sich ge­schickt bedeckt.

Le­dig­lich ei­nem Un­be­kann­ten hat sie vor ih­rer Fest­nah­me „Die durch­sich­ti­ge Frau“ weiterlesen

Puzzle-Appassionato

Wackelkontakt Wolf Haas‘ meisterhafte Mise en abyme

Ist ja ir­re, die hal­be Kunst­ge­schich­te als Puz­zle. Wer stellt so was her? Das ist ja echt ein biss­chen – ich pack das ir­gend­wie nicht.“ „Such dir ei­nes aus“, sag­te Escher groß­mü­tig und öff­ne­te ge­dan­ken­ver­lo­ren die Tor­ten­schach­tel, ob­wohl er das Süß­zeug doch auf spä­ter ver­schie­ben woll­te. „Aber nimm lie­ber ei­nes von de­nen da un­ten. Da sind die mit fünf­hun­dert Tei­len. Das kön­nen wir auf dem Tisch ma­chen. Dann müs­sen wir nicht auf dem Bo­den her­um­krie­chen.“ „Das hat schon was, oder?“, lach­te Nel­lie Wie­sel­bur­ger kin­disch. „Soll ich dir viel­leicht mei­ne Puz­zle­samm­lung zei­gen? Das ist wie mit der Brief­mar­ken­samm­lung, oder?“

Muss man noch et­was zu Wolf Haas‘ Wa­ckel­kon­takt sa­gen, ei­nem Buch, das be­reits sämt­li­che Bes­ten- und Best­sel­ler­lis­ten er­klom­men hat und für Buch­prei­se no­mi­niert ist? Un­be­dingt, denn die­ses Auf­ein­an­der­tref­fen ei­nes Trau­er­red­ners und ei­nes Ex-Ma­fio­so ist ein gro­ßer Spaß. Das gilt für die Hand­lung, die aber­wit­zi­ge Vol­ten schlägt, für die nicht min­der aber­wit­zi­ge „Puz­zle-Ap­pas­sio­na­to“ weiterlesen

Im Land des nachdenklichen Halbschattens“

Bei Anita Brookner durchläuft „Ein tugendhafter Mann“ seine innere Heldenreise

Er dach­te an die un­aus­ge­spro­che­ne Über­ein­kunft, (…), dass er der Mann im Haus sein muss­te, dass er das Fort­be­stehen ih­res klei­nen Haus­halts si­chern muss­te. So ver­hiel­ten sich Hel­den nicht. Hel­den ver­lie­ßen früh ihr Zu­hau­se, voll­brach­ten gu­te Ta­ten, ver­lieb­ten sich und star­ben, oder sie schick­ten spä­ter nach ih­ren Müt­tern, wenn es sich ab­so­lut nicht ver­mei­den ließ. Er sah nicht ein, war­um ihm die­se Mög­lich­keit ver­wehrt sein soll­te, auch wenn die Ein­zel­hei­ten die­ses Le­bens­ent­wurfs hart­nä­ckig un­scharf blieben.“

Ani­ta Brook­ner, die re­nom­mier­te Pro­fes­so­rin für Kunst­ge­schich­te, wel­che spät zur Ro­man­au­to­rin wur­de, konn­te mich be­reits für ih­ren Ro­man „Seht mich an!“ be­geis­tern. Die­ser er­zählt von ei­ner Ein­zel­gän­ge­rin, die in fa­mi­liä­ren Ver­hal­tens­mus­tern ge­fan­gen, nach dem Tod der Mut­ter de­ren Le­bens­wei­se fort­führt. Ein ein­sa­mes, wenn auch kom­for­ta­bles Da­sein mit ei­nem aus­kömm­li­chen, aber ein­tö­ni­gen Be­ruf. Die Sehn­sucht nach Ge­sell­schaft führt sie schließ­lich zu fal­schen Freun­den, die ein ma­ni­pu­la­ti­ves Spiel mit ihr treiben.

Le­wis Per­cy, der Na­me der Haupt­fi­gur ist zu­gleich der Ti­tel des 1989 er­schie­ne­nen eng­li­schen Ori­gi­nals ‑die deut­sche Ver­si­on trägt den viel­sa­gen­den Ti­tel „Ein tu­gend­haf­ter Mann“-, ver­sucht eben­falls sei­ne Ein­sam­keit zu über­win­den. Von der Su­che nach ei­nem Ge­gen­über ge­trie­ben zeigt er Im Land des nach­denk­li­chen Halb­schat­tens““ weiterlesen

Wirkmächtige Schatten

Mit „Unmöglicher Abschied“ errichtet Han Kang den Opfern ein Mahnmal zwischen Traum und Realität

Es schnei­te stark. Ich stand auf ei­nem Acker, an des­sen ei­nem En­de sich ein nied­ri­ger Berg an­schloss. Auf die­ser Sei­te war er vom Fuß bis zur Kup­pe mit Tau­sen­den von schwar­zen Baum­stäm­men be­stan­den, die et­wa so dick wie Ei­sen­bahn­schwel­len und ver­schie­den hoch wa­ren, wie Men­schen un­ter­schied­li­chen Al­ters. Zu­gleich wa­ren sie nicht ker­zen­ge­ra­de ge­wach­sen, son­dern leicht ge­bo­gen oder ge­neigt und wirk­ten, als hät­te man am Hang Tau­sen­de von Män­nern, Frau­en und ma­ge­ren Kin­dern im Schnee aus­ge­setzt, die die Schul­tern hoch­zo­gen. Ist das hier ein Fried­hof?, fra­ge ich mich.“

Den Li­te­ra­tur-No­bel­preis des ver­gan­ge­nen Jah­res er­hielt Han Kang, de­ren Ro­ma­ne in ih­rer Hei­mat Süd­ko­rea sehr er­folg­reich sind und die mit „Die Ve­ge­ta­rie­rin“ welt­weit Fu­ro­re mach­te. Die 1970 ge­bo­re­ne Schrift­stel­le­rin stu­dier­te Ko­rea­ni­sche Li­te­ra­tur und un­ter­rich­te­te Krea­ti­ves Schrei­ben. Sie de­bü­tier­te mit Ge­dich­ten und ver­fass­te meh­re­re Ro­ma­ne. Der No­bel­prei­ses „für ih­re in­ten­si­ve Pro­sa, die sich his­to­ri­schen Trau­ma­ta stellt und die Zer­brech­lich­keit des mensch­li­chen Le­bens auf­zeigt“, schenk­te al­ler­dings nicht nur der Au­torin selbst Auf­merk­sam­keit. Er lenk­te den Blick auf die his­to­ri­sche Ver­gan­gen­heit Süd­ko­re­as, die eu­ro­päi­schen Le­sern weit­ge­hend un­be­kannt sein dürfte.

Es ist vor al­lem die Ge­walt­ge­schich­te des Lan­des, die Han Kang im­mer wie­der in ih­re Wer­ke ein­flie­ßen lässt. So auch in ih­rem jüngst auf Deutsch ver­öf­fent­lich­ten Ro­man „Un­mög­li­cher Ab­schied“. In Süd­ko­rea er­schien er be­reits 2021, sein ins Eng­li­sche tran­skri­bier­ter Ti­tel lau­tet „We do not part“„Wir tren­nen uns nicht“.

Kei­ne Tren­nung, kein Ver­ab­schie­den, kein Ver­ges­sen! Das gilt auch für die Op­fer des 1948 auf der In­sel Je­ju durch­ge­führ­ten Mas­sa­kers. Gan­ze Dör­fer wur­den vom Mi­li­tär­re­gime Ko­re­as un­ter ja­pa­ni­schem Mit­wir­ken und us-ame­ri­ka­ni­scher Dul­dung zer­stört, 30000 Men­schen hin­ge­rich­tet. Die­sen „Wirk­mäch­ti­ge Schat­ten“ weiterlesen

Abhängige Verhältnisse

Clare Chambers erzählt in „Scheue Wesen“ von der Macht der Erwachsenen und der Ohnmacht von Kindern

In ALLEN GESCHEITERTEN BEZIEHUNGEN (sic!) gibt es ei­nen zu­nächst noch un­be­merk­ten Punkt, in dem man spä­ter je­doch den An­fang vom En­de er­kennt. Für He­len war es das Wo­chen­en­de, an dem der Ver­steck­te Mann nach West­bu­ry Park kam.“

 Die­ser ers­te Satz in ge­ra­de­zu tol­stoi­schem Ton be­nennt die Haupt­the­men von Cla­re Cham­bers neu­em Ro­man „Scheue We­sen“. Es sind pro­ble­ma­ti­sche Be­zie­hun­gen, ge­prägt von Ab­hän­gig­kei­ten, und ei­ne kas­par-hau­ser-ar­ti­ge Fi­gur, de­ren at­tri­bu­ier­te Rät­sel­haf­tig­keit das In­ter­es­se der Le­se­rin weckt. Die Ver­lags­an­kün­di­gung, es han­de­le sich „um ei­ne Lie­bes­ge­schich­te aus dem Lon­don der Sech­zi­ger“, greift viel zu kurz und wird der Kom­ple­xi­tät des Ro­mans nicht ge­recht. Um so prä­zi­ser er­scheint mir der dem eng­li­schen Ori­gi­nal ent­spre­chen­de Ti­tel „Scheue We­sen“. Er klingt ge­heim­nis­voll und greift da­durch sein wich­tigs­tes Ge­stal­tungs­ele­ment auf.

Die eng­li­sche Au­torin Cla­re Cham­bers lehr­te Eng­li­sche Li­te­ra­tur in Ox­ford und war als Lek­to­rin tä­tig. Ihr vor­lie­gen­der zwei­ter Ro­man be­ein­druckt durch die klu­ge Kon­struk­ti­on ei­ner un­ge­wöhn­li­chen Ge­schich­te. Eben­so wie in Cham­bers Erst­ling „Klei­ne Freu­den“ be­geg­nen wir ei­ner be­son­de­ren Frauenfigur.

He­lens Hans­ford ar­bei­tet noch nicht lan­ge als Kunst­the­ra­peu­tin in der psych­ia­tri­schen Kli­nik West­bu­ry Park. Ge­gen den Wunsch ih­rer El­tern hat sie ih­ren Leh­rer­be­ruf auf­ge­ge­ben, be­gibt sich je­doch in ei­ne neue Ab­hän­gig­keit, „Ab­hän­gi­ge Ver­hält­nis­se“ weiterlesen

Protokoll einer Zerrüttung

CoverLjuba Arnautović macht in „Erste Töchter“ aus großen Leben eine kleine Geschichte

Spä­ter hat er über sein Le­ben ein Buch ge­schrie­ben und dar­über, wie po­li­ti­sche Ver­hält­nis­se mensch­li­che Schick­sa­le bestimmen.“

Die­ses Zi­tat könn­te das Mo­tiv von Lju­ba Ar­n­au­to­vićs Schrei­ben sein und so­mit auch das ih­res Buchs „Ers­te Töch­ter“. Zu­ge­schrie­ben hat sie es Wolf­gang Le­on­hard, ei­ner ih­rer Ne­ben­fi­gur, der durch sei­nen au­to­bio­gra­phi­schen Be­richt „Die Re­vo­lu­ti­on ent­lässt ih­re Kin­der“ be­kannt wur­de. Au­to­bio­gra­phisch ist auch Ar­n­au­to­vićs Werk. Wie be­reits in „Im Ver­bor­ge­nen“ und in „Ju­ni­schnee“ er­zählt die in Wien le­ben­de und 1954 in Kursk ge­bo­re­ne Au­torin von ih­rer Fa­mi­lie, die, so der Klap­pen­text, vom „Dra­ma des 20. Jahr­hun­derts in Wien, Mos­kau und im Gu­lag“ ge­prägt wur­de. Der letz­te Band die­ser Tri­lo­gie fügt Mün­chen als Hand­lungs­ort hinzu.

Dort lebt Karl mit sei­ner neu­en Frau und ei­ner sei­ner ers­ten Töch­ter. Zu­vor hat­te er die­se und ih­re jün­ge­re Schwes­ter erst von de­ren Mut­ter Ni­na, dann von der Er­satz­mut­ter Eri­ka ge­trennt und nun so­gar von­ein­an­der. La­ra geht nach Wien, Lu­na bleibt in Mün­chen. Ei­ne Kon­stel­la­ti­on wie in Erich Käst­ners „Pro­to­koll ei­ner Zer­rüt­tung“ weiterlesen

Willkommen im Auenland“

Markus Thielemann erzählt in „Von Norden rollt ein Donner” auf spannende Weise über die Ambivalenz eines vermeintlichen Idylls

Un­ten drän­gen sich die Tie­re an­ein­an­der. He­ra und Kasch, die bei­den Hüte­hun­de, um­krei­sen den Pulk. Jan­nes blickt hin­un­ter, die Be­we­gun­gen er­in­nern ihn an Bil­der aus ei­ner Do­ku­men­ta­ti­on über den Welt­raum. Wie Mon­de oder Pla­ne­ten krei­sen sie um die Her­de, das Zen­trum des Alls. Und dann schweift er ab: er hat sei­nen ei­ge­nen dunk­len Wan­de­rer, ei­nen Ge­dan­ken, der seit Ta­gen kommt und geht auf el­lip­ti­scher Bahn, des­sen Gra­vi­ta­ti­on drückt und lähmt, bis ihn die Flieh­kraft ein­mal mehr zu­rück in die Nacht schleu­dert: Pa­pa geht zum Arzt.“

Die Welt, in der Jan­nes kreist, ist ei­ne be­grenz­te. Es ist die Hei­de süd­lich von Lü­ne­burg, in der er mit den Schnu­cken des Fa­mi­li­en­be­triebs um­her­zieht. Fa­mi­lie und Tra­di­ti­on ma­chen ihn zum Schä­fer in die­ser ver­meint­lich idyl­li­schen Land­schaft. Ei­ne Su­che nach der ei­ge­nen Iden­ti­tät, wie sie sei­ne Al­ters­ge­nos­sen un­ter­neh­men, ist un­ter die­sen Um­stän­den nicht nur nicht nö­tig, son­dern un­mög­lich. Das Le­ben scheint vor­ge­zeich­net für den 19-jäh­ri­gen Prot­ago­nis­ten in „Von Nor­den rollt ein Don­ner“, dem zwei­ten und für den dies­jäh­ri­gen Deut­schen Buch­preis no­mi­nier­ten Ro­man des jun­gen Au­tors Mar­kus Thie­le­mann.

Auch wenn der Ti­tel, wie die ört­li­chen Ge­ge­ben­hei­ten und der Ver­lauf der Ge­schich­te zei­gen, in dop­pel­ter Wei­se deut­bar ist, er­zeugt er zu­nächst ei­nen star­ken Be­zug zur Na­tur. Die Na­tur be­stimmt den Be­ruf des Schä­fers, in­dem sie mit Wet­ter und Jah­res­zei­ten den Rhyth­mus dik­tiert. Jan­nes und sei­ne Her­de sind ab­hän­gig von der Flo­ra, dem Ge­dei­hen der Fut­ter­pflan­zen, wie von der Fau­na, die sich im Wohl der Schnu­cken und im Ge­schick der Hüte­hun­de of­fen­bart und mit dem Wolf de­ren Ha­bi­tat be­droht. Jan­nes ist ihm schon Will­kom­men im Au­en­land““ weiterlesen

Zurück zu Mutter Natur

In „Man kann auch in die Höhe fallen“ erzählt Joachim Meyerhoff von der magischen Macht seiner Mutter

Was für ein Spek­ta­kel, dach­te ich, Milch, Blut, Re­gen, Don­ner, Pla­zen­ta und Blit­ze, Mut­ter­glück, neu­es Le­ben und ein nas­ser Mann Mit­te fünfzig.“

Die­ser Satz, der ge­gen En­de von Joa­chim Mey­er­hoffs neu­em Ro­man fällt, kom­pri­miert den In­halt auf wun­der­ba­re Wei­se. Als Prot­ago­nis­ten tau­chen ein Mann Mit­te fünf­zig und sei­ne Mut­ter eben­so auf wie das Thea­ter, des­sen Spek­ta­kel Mey­er­hoff als An­ek­do­ten voll Blitz und Don­ner in­sze­niert, um mit Milch, Blut und Pla­zen­ta, ei­ne be­son­de­re le­bens­lan­ge Ver­bin­dung zu fei­ern. Sie gilt in „Man kann auch in die Hö­he fal­len“, dem sechs­ten Teil der Fa­mi­li­en­ro­man-Rei­he „Al­le To­ten flie­gen hoch“ in be­son­de­rem Ma­ße Mey­er­hoffs Mut­ter wie sei­ner ei­ge­nen Rol­le als Sohn und als Vater.

Mit sei­nen Be­ru­fen, viel­leicht soll­te man bes­ser von Be­ru­fun­gen spre­chen, ha­dert er al­ler­dings eben­so wie mit der deut­schen Haupt­stadt, die nach den Jah­ren in Wien zum neu­en Wohn­ort wur­de. Er möch­te weg von Ber­lin und von sei­nem Busi­ness. Sei­ne Schau­spie­le­rei stellt er eben­so in Fra­ge wie das Schrei­ben, das ihm mit sei­nen au­to­bio­gra­phi­schen Ro­ma­nen bis­lang stets Er­fol­ge be­schert hat. Al­les zerrt an ihm. Er fühlt sich gleich­zei­tig ge­stresst und gelähmt.

Oh­ne wirk­lich zu be­grei­fen, wie es da­zu ge­kom­men war, war ich zu ei­nem Ner­ven­bün­del ge­wor­den, des­sen Un­aus­ge­gli­chen­heit für die mir na­he­ste­hen­den Men­schen mehr und mehr zur Zu­mu­tung wur­de. (…) Angst und Lan­ge­wei­le ver­tru­gen sich ganz aus­ge­zeich­net. Nie hät­te ich es für mög­lich ge­hal­ten, dass man wo­chen­lang auf der fau­len Haut lie­gen und der­art ent­spannt vor sich hin im­plo­die­ren konn­te. Die auf dem So­fa ver­brach­ten Stun­den nah­men bi­zar­re For­men an, und oft wuss­te ich nicht mehr, wo ich auf­hör­te und die Couch be­gann. Wie ein ge­schmol­ze­ner Kä­se war ich in je­de Rit­ze des So­fas hin­ein­ge­flos­sen, hat­te das Sitz­mö­bel mit mir selbst über­ba­cken. Und doch woll­te ich mei­ne Ver­stimmt­heit nicht De­pres­si­on nen­nen oder gar Mid­life­cri­sis, denn es wa­ren ja hand­fes­te Pro­ble­me, die ich hat­te. Seit Wo­chen hat­te ich nichts ge­schrie­ben, und das, ob­wohl sich in mei­nem Kopf die Ge­schich­ten tum­mel­ten. Ber­lin al­ler­dings ent­pupp­te sich als Säu­re­bad, das tag­täg­lich mei­ne In­spi­ra­ti­on zerfraß.“

Viel­leicht ver­mag ei­ne Flucht den Kno­ten lö­sen? Der Er­zäh­ler ent­schei­det sich für nichts Ge­rin­ge­res als die Welt­flucht, die ihn aus der „Zu­rück zu Mut­ter Na­tur“ weiterlesen

Bekenntnisse einer Selbstbezogenen

Rachilde grenzt sich in „Nein, ich bin keine Feministin“ gegen die Frauen ihrer Zeit ab

Aber, wenn man dar­über nach­denkt – hat die mo­der­ne Frau über­haupt ein Ide­al? Ge­wiss, sie möch­te ihr Le­ben aus­kos­ten, lu­xu­ri­ös, oh­ne je­de an­de­re Re­li­gi­on als die ih­rer an­geb­li­chen Gleich­heit. Doch zu­gleich ist sie auch wun­der­lich, ih­rem Ge­hirn fehlt an der Stel­le et­was, wo man Gott, viel­leicht auch die Lie­be und die Lei­den­schaft ent­fernt hat. 
Sie wer­den mir sa­gen, dass der mo­der­ne Mann…
…Aber man hat mich ja nicht ge­be­ten, Ih­nen et­was vom mo­der­nen Mann zu er­zäh­len, nicht wahr?“ 

Ei­nen ver­ges­se­nen Text ei­ner hier­zu­lan­de fast ver­ges­se­nen, aber zu ih­rer Zeit be­rühm­ten Au­torin und Sa­lon­niè­re des Fin de Siè­cle neu zu über­set­zen und auf­zu­le­gen, hat Alex­an­dra Beil­harz mit dem 1928 erst­mals er­schie­nen „Nein, ich bin kei­ne Fe­mi­nis­tin“ von Ra­chil­de (1860–1953) rea­li­siert. Dem Text von knapp 100 Sei­ten geht ein Vor­wort der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin Bar­ba­ra Vin­ken vor­aus. Nach­ge­stellt fin­den sich zwei zeit­ge­nös­si­sche Re­zen­sio­nen aus dem Jahr der Ver­öf­fent­li­chung, ei­ne edi­to­ri­sche No­tiz, ein Bild­nach­weis so­wie ei­ne Kurz­bio­gra­phie über Bar­ba­ra Vin­ken. Über die Au­torin Ra­chil­de bie­tet nur der Klap­pen­text we­ni­ge Zei­len. Er­staun­lich aus­führ­li­che In­for­ma­tio­nen fin­den sich in der eng­li­schen Wi­ki­pe­dia.

Nicht nur als Em­ma-Le­se­rin der Acht­zi­ger fin­de ich ei­nen his­to­ri­schen Text, der sich mit Fe­mi­nis­mus be­schäf­tigt, in­ter­es­sant. Die Ver­lags­an­kün­di­gung spricht von ei­ner „Streit­schrift, in der sie (die Au­torin) den Fe­mi­nis­mus ih­rer Epo­che pro­vo­kant und hu­mor­voll zu­gleich be­schreibt“. Vin­ken spricht im Vor­wort gar von ei­ner „Tra­ves­tie“. Folg­lich er­war­te­te ich ein, wenn auch als Par­odie oder Sa­ti­re ver­klei­de­tes Plä­doy­er für die Gleich­be­rech­ti­gung der Frau. Mein Feh­ler oder ei­ne Fra­ge der De­fi­ni­ti­on? Viel­leicht zäh­le auch ich zu den „Be­kennt­nis­se ei­ner Selbst­be­zo­ge­nen“ weiterlesen