Ein alter Alutopf und eine riesige, rote Couch

In ihren Romanen „Mama Odessa“ und „Baumgartner“ erschaffen Maxim Biller und Paul Auster vielfältige Wege zur Erinnerung und zeigen einige Gemeinsamkeiten

An­na war an sei­ner Sei­te, auf der gan­zen Rei­se gin­gen sie ne­ben­ein­an­der­her, spra­chen mit­ein­an­der, hör­ten ein­an­der zu, wäh­rend sie durch die Räu­me und schwach be­leuch­te­ten Kor­ri­do­re des Pa­lasts der Er­in­ne­rung zo­gen und Hun­der­te gro­ße und klei­ne Din­ge auf­such­ten, die sie in die­sen vier­zig Jah­ren er­lebt hat­ten. Selbst­ver­ständ­lich war sie nicht in Fleisch und Blut bei ihm, aber als er zum ers­ten Mal nach weiß Gott wie lan­ger Zeit ih­re Brie­fe und Ma­nu­skrip­te las, fand er im­mer­hin ih­re Stim­me wie­der, und als er sich in die zahl­lo­sen Fo­tos ver­tief­te, die er und an­de­re Zeit ih­res Le­bens von ihr ge­macht hat­ten, fand er auch ih­ren Kör­per wie­der.“ (Paul Aus­ter, Baumgartner)

„Ich stand jetzt, fast fünf­zig Jah­re spä­ter, vor den bei­den Bil­dern im al­ten Ar­beits­zim­mer mei­ner Mut­ter in der Bie­ber­stra­ße und sah sie mi­nu­ten­lang an. Da­bei ver­such­te ich, mich an mei­ne rus­si­sche Kind­heit zu er­in­nern, oder we­nigs­tens an ein paar Mo­men­te, Ge­rü­che, Bli­cke. Aber da war nichts, gar nichts. Mei­ne Er­in­ne­run­gen be­stan­den fast nur aus al­ten Fo­tos und den Bil­dern, die mein Groß­va­ter nach ih­nen ge­malt hat­te. War ich nicht, dach­te ich plötz­lich, manch­mal bei ihm im Ate­lier in der Mol­do­wan­ka ge­we­sen? Ja, rich­tig. Das Ate­lier war im Erd­ge­schoss, hin­ten, am En­de des Hofs, (…) War­um hat­te ich das ver­ges­sen? War­um er­in­ner­te ich mich plötz­lich dar­an?“ (Ma­xim Bil­ler, Ma­ma Odessa)

Manch­mal, es mag Zu­fall sein, of­fen­ba­ren zwei Ro­ma­ne, die ich oh­ne be­stimm­te Ab­sicht nach­ein­an­der ge­le­sen ha­be, star­ke Ge­mein­sam­kei­ten, die mich ein­fach nicht mehr los­las­sen und zum Wei­ter­den­ken an­re­gen. So er­ging es mir auch mit den neu­en Ro­ma­nen von Ma­xim Bil­ler und Paul Aus­ter, „Ma­ma Odes­sa“ und „Baum­gart­ner“.

Die stärks­te Ge­mein­sam­keit liegt dar­in, wie in den bei­den Wer­ken Er­in­ne­run­gen auf­ge­ru­fen wer­den. Sie die­nen als Mo­vens und Mo­tiv, sie trei­ben die Ro­ma­ne vor­an, er­zäh­len Ge­schich­ten über die Fi­gu­ren und setz­ten Bio­gra­phien und Be­zie­hun­gen in Zu­sam­men­hang. Wie un­ter­schied­lich und doch wie­der­rum ähn­lich Paul Aus­ter und Ma­xim Bil­ler dies um­set­zen, ist für mich die in­ter­es­san­tes­te Fra­ge, doch es exis­tie­ren noch wei­te­re Gemeinsamkeiten.

Bei­de Wer­ke kön­nen als An­denken für ei­nen ge­lieb­ten Men­schen ge­le­sen wer­den. Bil­lers Er­zäh­ler, Mischa Grin­baum, trau­ert um den Tod sei­ner Mut­ter Al­jo­na und die Flucht aus Odes­sa. Seit den sieb­zi­ger Jah­ren leb­te die Fa­mi­lie in Ham­burg, für Al­jo­na war es ein Schick­sal, das ih­re ei­gent­li­che Be­stim­mung blo­ckier­te. „Ma­ma wur­de als Schrift­stel­le­rin ge­bo­ren, aber sie wur­de es zu spät, um wirk­lich ei­ne zu wer­den“, so der Sohn, des­sen Fi­gur eben­so bio­gra­phi­sche An­lei­hen beim Au­tor zeigt, wie Al­jo­na bei Ra­da Bil­ler, die mit 70 ih­ren ers­ten Ro­man ver­öf­fent­lich­te. Auch Bil­lers El­tern flo­hen einst aus der So­wjet­uni­on, leb­ten ei­ni­ge Jah­re in Prag, wo der Schrift­stel­ler ge­bo­ren wur­de, und seit 1970 in Hamburg.

Au­to­fik­tio­na­le Ele­men­te fin­den sich in bei­den Ro­ma­nen und bei­de Au­toren spie­len mit die­sen Über­schnei­dun­gen. Al­jo­na be­kennt, „Und so ist das gan­ze Buch: Al­les stimmt im­mer nur ein biss­chen. Oder halb. Oder gar nicht. (…) Und was heißt hier wahr oder nicht wahr. Als ob es dar­um je­mals im Le­ben und auch sonst ge­gan­gen wä­re.“ Und Baum­gart­ner be­merkt, „Was soll man glau­ben, wenn man sich nicht si­cher sein kann, ob ei­ne an­geb­li­che Tat­sa­che wahr oder nicht wahr ist? Man­gels jeg­li­cher Fak­ten, die die Ge­schich­te als wahr oder falsch er­wei­sen könn­ten, glau­be ich dem Dichter.“ 

Bil­ler und Aus­ter bli­cken auf Vor­fah­ren zu­rück, die als Ju­den in Ost­eu­ro­pa, vor al­lem in der heu­ti­gen Ukrai­ne Tod und Ter­ror aus­ge­setzt wa­ren. Bil­ler er­in­nert an das Mas­sa­ker vom Tol­buch­in­platz 1941, im glei­chen Jahr er­folg­te der Blut­sonn­tag in Sta­nis­law, dem Aus­ter ei­ne Bin­nen­er­zäh­lung in sei­nem neu­en Ro­man wid­met. Des­sen Ti­tel „Baum­gart­ner“ ist der Na­me der Haupt­fi­gur, ei­nes eme­ri­tier­ten Phi­lo­so­phie-Pro­fes­sors, den die Trau­er um den Ver­lust sei­ner vor 10 Jah­ren ver­un­glück­ten Frau er­star­ren ließ. Er fühlt sich als „ein mensch­li­cher Stumpf, ein hal­ber Mann, der die Hälf­te sei­ner selbst, die ihn zu ei­nem Gan­zen mach­te, ver­lo­ren hat“. Sei­ne Frau An­na leb­te wie er für die Li­te­ra­tur, als Über­set­ze­rin, aber auch als Ver­fas­se­rin von Er­zäh­lun­gen und Ge­dich­ten, die al­ler­dings un­ver­öf­fent­licht blie­ben. Als Baum­gart­ner be­schließt, sich sei­nem Schmerz zu stel­len, be­tritt er An­nas Ar­beits­zim­mer und fin­det in den Re­ga­len und Schub­la­den ih­re Ma­nu­skrip­te. Die­se Tex­te, die von An­nas ers­ter Lie­be, aber auch von der ers­ten Be­geg­nung mit Baum­gart­ner han­deln, öff­nen für ihn „die Räu­me und schwach be­leuch­te­ten Kor­ri­do­re des Pa­lasts der Er­in­ne­rung“, wo sie, als sei An­na an sei­ner Sei­te, „gro­ße und klei­ne Din­ge auf­such­ten, die sie in die­sen vier­zig Jah­ren er­lebt hat­ten“. An­nas Tex­te zu le­sen und Tei­le da­von zu ver­öf­fent­li­chen hel­fen Baum­gart­ner sei­ne Trau­er an­zu­neh­men. Er über­win­det die Ab­ge­schie­den­heit und öff­net sich Neuem.

Wie Sy Baum­gart­ner sei­ner Frau An­na, so be­geg­net Mischa Grin­baum sei­ner Mut­ter Al­jo­na in de­ren nach­ge­las­se­nen Schrif­ten. Durch die un­ver­öf­fent­lich­ten Blät­ter und die Brie­fe, die sei­ne Mut­ter nie an ihn ab­schick­te, er­fährt er von ih­rer Ein­sam­keit und ih­rer gro­ßen Wut. Die­se lag im fremd­ge­blie­be­nen Exil und vor al­lem in der Fremd­be­stim­mung be­grün­det. Es wa­ren die po­li­ti­schen Ak­ti­vi­tä­ten ih­res Man­nes Ge­na, die sie zwan­gen, nicht nur ih­re Hei­mat und ih­ren Va­ter, son­dern auch ih­re Kar­rie­re als Wis­sen­schaft­le­rin hin­ter sich zu las­sen. Als Ge­na sie Jah­re spä­ter ver­ließ, schien sie vor Ver­zweif­lung ge­lähmt. Mischa fragt sich, „War­um (..) war kei­ner von uns Drei­en je­mals wie­der nach Odes­sa ge­fah­ren, wenn es uns in Deutsch­land so we­nig ge­fiel?“ So saß Al­jo­na in der gro­ßen Ham­bur­ger Woh­nung auf dem So­fa und hing ih­ren Ge­dan­ken vol­ler Wut und Trau­rig­keit nach, wäh­rend ihr Mann mit ei­ner an­de­ren leb­te und der Sohn weit entfernt.

In bei­den Ro­ma­nen er­schei­nen ei­gen­stän­di­ge Bin­nen­tex­te. Bei Aus­ter han­delt es sich so­wohl um die Ma­nu­skrip­te der ver­stor­be­nen An­na, wie auch um Tex­te Baum­gart­ners. In „Ma­ma Odes­sa“ fin­den sich aus­schließ­lich Er­zäh­lun­gen von Al­jo­na. Zu­dem wer­den Brie­fe und Ro­ma­ne der Prot­ago­nis­ten bei­der Wer­ke er­wähnt und zum Teil re­fe­riert. Die­se Ele­men­te sind kei­ner Chro­no­lo­gie ver­pflich­tet. Sie fol­gen den ge­lenk­ten oder un­will­kür­li­chen Er­in­ne­run­gen der Haupt­fi­gu­ren und tau­chen sie und die Le­ser in Ver­gan­ge­nes ein. So ver­setzt sich Baum­gart­ner im som­mer­li­chen Gar­ten in ei­ne traum­glei­che Träg­heit, die ihn in sei­ne Kind­heit führt, wäh­rend Mischa durch die Ge­mäl­de sei­nes Groß­va­ters zu sei­nen frü­hen Er­in­ne­run­gen findet.

Bei­de Ro­ma­ne zeich­net aus, daß in ih­nen Er­in­ne­rungs­pro­zes­se auf viel­fäl­ti­ge Wei­se aus­ge­löst wer­den. Manch­mal scheint, wie bei Proust, die Mé­moi­re in­vo­lon­tai­re an ei­nen Ge­gen­stand ge­knüpft. Was bei Bil­ler ei­ne „rie­si­ge, ro­te Rolf-Benz-Couch“ ver­mag, be­wirkt bei Aus­ter ein al­ter Alu­mi­ni­um­topf. Doch funk­tio­nie­ren sie wie Prousts Made­lei­ne? Löst der An­blick des Topfs in Baum­gart­ner und der Couch in Mischa das aus, was Proust Er­zäh­ler Mar­cel be­fällt, wenn er die in Tee ge­tunk­te Made­lei­ne riecht und schmeckt? Baum­gart­ners Blick auf den Topf ist mit ei­ner Ver­bren­nung ver­knüpft, das ist, ganz zu schwei­gen von dem nach­fol­gen­den Trep­pen­sturz, ein durch­aus mul­ti­sen­so­ri­sches Er­leb­nis. Und Mischa Grin­baum riecht viel­leicht auf dem ro­ten So­fa die Kim-Zi­ga­ret­ten von Al­jo­na, als ihn die fa­mi­li­en­ei­ge­ne Me­lan­cho­lie be­fällt. „Könn­te es sein, dach­te ich plötz­lich, dass ich in­zwi­schen auch so ein ver­wirr­ter, trau­ri­ger Er­wach­se­ner war wie mei­ne El­tern? Denn jetzt war ich es, der in Ham­burg, in der Bie­ber­stra­ße, auf dem fünf­zig Jah­re al­ten ro­ten, noch im­mer ziem­lich fes­ten und fast wie neu strah­len­den So­fa saß und die ty­pi­schen Kat­sch­mo­ri­an-Ge­füh­le hat­te, wie mei­ne Mut­ter das nann­te, auch aus ei­ge­ner Er­fah­rung. Was sie da­mit mein­te? Mein schö­ner, fröh­li­cher ar­me­ni­scher Groß­va­ter – Jaa­kow Gai­ko­witsch -, und ob­wohl er es sich nach Ma­mas Wor­ten nie an­mer­ken ließ, dach­te er ge­nau­so oft an Selbst­mord wie an­de­re Leu­te an Lie­be und Es­sen. Oder viel­leicht so­gar noch öf­ter.“ Bil­ler ruft die „ro­te Rolf-Benz-Couch“ häu­fig auf, um die Schleu­sen zur Er­in­ne­rung zu öff­nen, wäh­rend der Topf bei Aus­ter zur In­iti­al­zün­dung dient. „und schließ­lich bleibt er (sein Blick) an dem ver­seng­ten Topf auf dem Fuß­bo­den hän­gen. Das war der An­fang, sagt er sich, das ers­te Miss­ge­schick des Ta­ges, das zu al­len an­de­ren Miss­ge­schi­cken die­ses Ta­ges vol­ler Miss­ge­schi­cke ge­führt hat, und wäh­rend sein Blick auf dem ge­schwärz­ten Alu­mi­ni­um­topf am an­de­ren En­de des Zim­mers ruht, wan­dern sei­ne Ge­dan­ken lang­sam von den Slap­stick-Pan­nen des Mor­gens in die Ver­gan­gen­heit, die fer­ne Ver­gan­gen­heit, die am Au­ßen­rand sei­ner Er­in­ne­rung flim­mert, und in win­zi­gen Bruch­stü­cken setzt sie sich eins ums an­de­re zu­sam­men, die ver­lo­re­ne Welt des Damals.“

Es gibt viel zu ent­deck­ten in den Ro­ma­nen „Baum­gart­ner“ und „Ma­ma Odes­sa“, in de­nen Paul Aus­ter und Ma­xim Bil­ler nicht nur Le­sens­wer­tes er­zäh­len, son­dern in der ih­nen ei­ge­nen li­te­ra­ri­schen Art zei­gen, wie viel­fäl­tig ge­stal­te­te Er­in­ne­rung gelingt.

Paul Auster, Baumgartner, übers. v. Werner Schmitz, Rowohlt 2023
Maxim Biller, Mama Odessa, Kiepenheuer&Witsch 2023

 

 

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