Erinnern ist Licht“

In „Ein junger Herr in Neapel“ erzählt Andrea Giovene vom Erwachen eines jungen Schriftstellers

Zur Spit­ze hin hat­ten Feuch­tig­keits­fle­cken gan­ze Ge­ne­ra­tio­nen über­wäl­tigt, sie gli­chen gan­zen Schwär­men mit ei­nem Schrot­schuss durch­sieb­ter Spat­zen. Der Baum kräu­sel­te sich, er trüb­te sich ein und schlug Wel­len. Die jüngs­ten Ge­ne­ra­tio­nen wa­ren am un­le­ser­lichs­ten. Und ich? Wie soll­te ich mich da auf sei­ner Spit­ze ein­nis­ten, die nur in die Zim­mer­de­cke hin­ein hö­her wach­sen konn­te, im Leeren?“

Dies sind die Ge­dan­ken des zu Be­ginn des Ge­sche­hens 9‑jährigen Ich-Er­zäh­lers in An­drea Gio­ve­nes (1904–1995) „Ein jun­ger Herr in Nea­pel“, dem ers­ten Teil sei­ner Ro­man­fol­ge „Die Au­to­bio­gra­phie des Giu­lia­no di San­se­vero“, wel­che in den Jah­ren 1903–1957 spielt. Als Giu­lia­no und sei­ne klei­ne Schwes­ter Chec­chi­na durch die zer­fal­len­den Fluch­ten des Fa­mi­li­en­pa­laz­zos strei­fen, ge­lan­gen sie zum Stamm­baum, „dem muf­fi­gen To­tem“, das die kom­plet­te Wand ei­nes Sa­lons ein­nimmt. Die Be­schrei­bung der ent­le­ge­nen, ver­staub­ten Räu­me er­in­nert an die Ent­de­ckungs­tour von Tancre­di und An­ge­li­ca im Som­mer­sitz der Sa­li­na. Zwar spielt Lam­pe­du­sas „Il Gat­to­par­do“ ein hal­bes Jahr­hun­dert vor „Die Au­to­bio­gra­phie des Giu­lia­no di San­se­vero“, doch steht in bei­den Ro­man­wer­ken der Zer­fall ei­nes Adels­ge­schlechts im Vor­der­grund. Ei­ne wei­te­re Par­al­le­le be­steht in der per­sön­li­chen Ver­bin­dung der Schrift­stel­ler zu ih­rem Su­jet. Giu­sep­pe To­ma­si di Lam­pe­du­sa ent­stammt ei­nem si­zi­lia­ni­schen Adels­ge­schlechts, An­drea Gio­ve­ne di Gi­ra­so­le ei­nem nea­po­li­ta­ni­schen. Die Trans­for­ma­ti­on, die Lam­pe­du­sa mit dem be­rühm­ten Satz, „Wenn al­les blei­ben soll, wie es ist, muß sich al­les än­dern“, an­deu­tet, zeigt Gio­ve­ne durch die Eman­zi­pa­ti­on sei­nes Er­zäh­lers. Bei­de Au­toren be­rich­ten vom Schick­sal ei­ner Fa­mi­lie nach ein­schnei­den­den Er­in­nern ist Licht““ weiterlesen

Zwischen Fakt und Interpretation

Ulrike Sprenger bietet in „Das Proust-ABC“ einen kompakten und anregenden Zugang zu Prousts Roman

Die Lek­tü­re er­scheint als ein Vor­gang, bei dem nicht die Welt re­pro­du­ziert wird, die der Au­tor sich beim Schrei­ben vor­ge­stellt hat, son­dern bei dem der Le­ser den Text zum An­lass nimmt, sich dar­aus as­so­zia­tiv ei­ne ei­ge­ne sub­jek­ti­ve Welt zu bauen.“

Je­de Proust-Lek­tü­re wird von Hilfs­mit­teln be­glei­tet. Die­se be­stehen pri­mär aus den Kom­men­ta­ren der Über­set­zun­gen, da­ne­ben aus den Quel­len, den Brie­fen und wei­te­ren Wer­ken Prousts. Zu­dem kann die Le­se­rin zahl­lo­se Wer­ke der Se­kun­där­li­te­ra­tur be­fra­gen oder gar in an­de­re Ro­ma­ne über den Ro­man ein­tau­chen. Bü­cher über Proust und sein Werk bil­den ei­nen reiz­vol­len Kos­mos, in den man sich ger­ne ver­liert. Wer al­ler­dings die Lek­tü­re der Re­cher­che nicht all‘ zu lan­ge un­ter­bre­chen will, ist für knapp ge­hal­te­ne Aus­künf­te dankbar.

Sol­che bie­tet „Das Mar­cel-Proust-Le­xi­kon“ von Phil­ip­pe Mi­chel-Thi­riet, das 1992 bei Suhr­kamp er­schien. The­ma­tisch ge­ord­net ver­bin­det es Bio­gra­phi­sches, wie Le­bens­lauf, Fa­mi­lie und Be­zie­hun­gen Prousts, mit fik­tio­na­len Per­so­nen, Or­ten und The­men sei­nes Werks.

Ei­nen ähn­lich kom­pak­ten und doch an­de­ren Zu­gang legt Ul­ri­ke Spren­ger in „Das Proust-ABC“ vor. Das 1997 von Re­clam her­aus­ge­ge­be­ne Werk liegt in ei­ner ak­tua­li­sier­ten Neu­aus­ga­be vor. Alex­an­der Klu­ge ver­or­tet im Vor­wort ganz pan­dä­mie-ak­tu­ell Spren­gers Ge­gen­stand in un­se­re Zeit. Er ver­weist auf Prousts selbst­ge­wähl­te Qua­ran­tä­ne und er­in­nert an die Be­mü­hun­gen von Adri­en Proust „Zwi­schen Fakt und In­ter­pre­ta­ti­on“ weiterlesen

Schillernde Persönlichkeiten im Paris der Jahrhundertwende

Julian Barnes betreibt in „Der Mann im roten Rock“ einen Streifzug durch die Belle Époque

Ma­chen wir al­so wei­ter mit dem Greif­ba­ren, dem Spe­zi­fi­schen, dem All­täg­li­chen: dem ro­ten Rock. Denn so bin ich dem Bild und dem Mann zum ers­ten Mal be­geg­net: 2015 in der Na­tio­nal Por­trait Gal­lery in Lon­don als Leih­ga­be aus Ame­ri­ka. (…) Das Mo­dell – der Bür­ger­li­che mit dem ita­lie­ni­schen Na­men – ist 35, sieht gut aus, trägt ei­nen Bart und schaut selbst­be­wusst über un­se­re rech­te Schulter.“

Ju­li­an Bar­nes neu­es Werk, „Der Mann im ro­ten Rock“, weck­te mein In­ter­es­se durch sei­ne ti­tel­ge­ben­de Fi­gur. Die­se sei, so las ich, ei­ne von Prousts In­spi­ra­ti­ons­quel­len für die Fi­gur des Dok­tor Cot­tard ge­we­sen. Wie die­ser war auch Dr. Sa­mu­el Poz­zi, den der ame­ri­ka­ni­sche Ma­ler John Sin­ger-Sar­gent im auf­fäl­li­gen ro­ten Haus­ge­wand ver­ewig­te, ein be­rühm­ter Me­di­zi­ner. Sein Fach­ge­biet war al­ler­dings an­ders als das des Proust‘schen Arz­tes die Gy­nä­ko­lo­gie. Bei­de wa­ren Frau­en­hel­den, Cot­tards Er­obe­run­gen sind al­ler­dings we­ni­ger sei­nem Äu­ße­ren zu­zu­schrei­ben. Es gibt al­so wohl so vie­le Un­ter­schie­de zwi­schen der his­to­ri­schen Per­son Poz­zi und der fik­ti­ven Fi­gur Cot­tard wie es Ge­mein­sam­kei­ten gibt. Das gilt für die meis­ten Per­so­nen, die Proust por­trä­tier­te. Ei­ne Aus­nah­me bil­det viel­leicht Mme Cot­tard, der Phil­ip­pe Mi­chel-Thi­riet als Vor­bild Poz­zis Ehe­frau Thé­rè­se  zu­schreibt, „die ganz in ih­ren Pflich­ten als Ge­mah­lin auf­geht und die von ih­rem Gat­ten eben­so be­tro­gen wird“.

Die­se hier in we­ni­gen Zei­len auf­ge­zähl­ten Ei­gen­schaf­ten bil­den die Fa­ma Poz­zis. Er galt als fort­schritt­li­cher Arzt, der sich nicht nur be­ruf­lich den Frau­en wid­me­te, als ex­tra­va­gan­ter Sti­list, was sich in sei­ner Klei­dung eben­so „Schil­lern­de Per­sön­lich­kei­ten im Pa­ris der Jahr­hun­dert­wen­de“ weiterlesen

Proust — Herzflimmern in Balbec

Arrhythmien des Herzens an der Küste von Gomorrha, Bd. IV, 219–367

Ich er­in­ner­te mich an die letz­te Zeit im Le­ben mei­ner Groß­mutter und an al­les, was mit ihr zu­sam­men­hing, an die Trep­pen­haus­tür, die of­fen ge­blie­ben war, als wir zu ih­rem letz­ten Spa­zier­gang hin­aus­gin­gen. Im Ver­gleich da­zu er­schien der Rest der Welt kaum wirk­lich, und mein Lei­den ver­gif­te­te ihn gänz­lich. Schließ­lich dräng­te mei­ne Mut­ter mich, hin­aus­zu­ge­hen. Doch bei je­dem Schritt hin­der­te mich wie ein Wind, ge­gen den man nicht an­kom­men kann, ir­gend­ein ver­ges­se­ner Aspekt des Ka­si­nos oder der Stra­ße, in der ich sie am ers­ten Abend er­war­tet hat­te und auf der ich bis zum Denk­mal für Du­gu­ay-Trouin ge­gan­gen war, am Wei­ter­ge­hen; ich senk­te die Au­gen, um nicht zu sehen.“

Beim zwei­ten Auf­ent­halt in Bal­bec ist für Mar­cel vie­les ähn­lich und doch al­les an­ders. Als Stamm­gast von Rang holt ihn der Di­rek­tor des Grand-Hô­tel per­sön­lich am Bahn­hof ab. Ort und Ge­pflo­gen­hei­ten sind Mar­cel ver­traut, er be­zieht so­gar das­sel­be Zim­mer wie beim Auf­ent­halt mit sei­ner Groß­mutter. Nur ihr be­ru­hi­gen­des Klop­fen vom Nach­bar­raum wird er nicht mehr hö­ren kön­nen. Die vom Ort aus­ge­lös­te, leb­haf­te Er­in­ne­rung an die Ver­stor­be­ne macht ihm be­wusst, „dass sie nie­mals wie­der in mei­ner Nä­he sein wür­de, (…) dass ich sie für im­mer ver­lo­ren hat­te.“ Die Trau­er lähmt ihn.

Da­bei ist er mit gro­ßen Er­war­tun­gen in die Nor­man­die ge­reist. Ei­nen Abend bei den Ver­durins hat er sich vor­ge­nom­men. Nicht weil ihn „Proust — Herz­flim­mern in Bal­bec“ weiterlesen

Weltliteratur lebendig umgesetzt

Sodom und Gomorrha“ als Hörspiel-Inszenierung

Auf das Hör­spiel „So­dom und Go­mor­rha“, ei­ner Ge­mein­schafts­pro­duk­ti­on von SWR, Dra­dio Kul­tur und Der Hör­ver­lag, bin ich wäh­rend mei­ner Lek­tü­re des vier­ten Bands von Mar­cel Proust „Auf der Su­che nach der ver­lo­re­nen Zeit“ ge­sto­ßen. Die­ser Klas­si­ker be­schäf­tigt mich schon seit ei­ni­ger Zeit, ge­nau ge­nom­men war er so­gar der An­lass mein Blog ins Le­ben zu ru­fen, wo­durch wie­der­rum an­de­re Bü­cher in mein Le­se­le­ben tra­ten. So schrei­tet mei­ne Proust-Lek­tü­re ge­mäch­lich vor­an, mitt­ler­wei­le bin ich im vier­ten Band ge­lan­det, aber nicht gestrandet.

Das Hör­spiel mit sei­nen 318 Mi­nu­ten auf 5 CDs holt mich al­so da ab, wo ich bin. Es ba­siert auf der bei Re­clam er­schie­ne­nen Neu­über­set­zung von Bernd-Jür­gen Fi­scher, die Man­fred Hess für die Pro­duk­ti­on be­ar­bei­te­te. Un­ter der Re­gie von Iris Drö­ge­kamp spre­chen ne­ben an­de­ren Mi­cha­el Rot­schopf (Mar­cel), Li­lith Stan­gen­berg (Al­ber­ti­ne), Gerd Wa­me­ling (Char­lus), Ste­fan Ko­nar­s­ke (Mo­rel) und Mat­thi­as Ha­bich (Swann). Das En­sem­ble Mo­dern stimmt mu­si­ka­lisch in die At­mo­sphä­re der Bel­le Épo­que ein.

Der vier­te Band der Re­cher­che mit dem Ti­tel „So­dom und Go­mor­rha“ spielt auf For­men gleich­ge­schlecht­li­cher Lie­be an. Er lässt sei­ne Le­se­rin auf gut 700 Sei­ten Neu­es ent­de­cken, be­zieht sich aber eben­so mit vie­len Mo­ti­ven, Per­so­nen und Or­ten auf die vor­aus­ge­gan­ge­nen Bände.

Wir be­geg­nen Ba­ron de Char­lus und ver­fol­gen, wie Mar­cel ent­deckt, was „Welt­li­te­ra­tur le­ben­dig um­ge­setzt“ weiterlesen

Proust – Sodom und Israel

Die Soiree der Prinzessin von Guermantes, Bd. 4, II. 1

Die An­ge­hö­ri­gen der Ge­sell­schaft stel­len sich Bü­cher gern als ei­ne Art Ku­bus vor, des­sen ei­ne Sei­te ent­fernt ist, so dass der Au­tor nichts Ei­li­ge­res zu tun hat, als die Per­so­nen, de­nen er be­geg­net, hineinzustecken.“

An die­sem Abend er­füllt sich ein lang ge­heg­ter Wunsch des jun­gen Mar­cel. Er ist Gast bei der Soi­ree der Prin­zes­sin von Guer­man­tes, auch wenn er sich nicht si­cher ist, tat­säch­lich ein­ge­la­den zu sein zu die­sem höchst an­ge­se­hen Sa­lon. Hö­her geht es kaum im Rang der Pa­ri­ser Er­eig­nis­se. Das abend­li­che Tref­fen beim Prin­zen und der Prin­zes­sin von Guer­man­tes wird nur durch die an­schlie­ßen­de Teil­nah­me am Sou­per über­trof­fen. Auch dies wird Mar­cel an­ge­bo­ten, doch er schlägt es aus Ge­fühls­grün­den aus.

Wäh­rend der Soi­ree trifft er vie­le Be­kann­te, al­len vor­an Ba­ron de Char­lus. Er führt län­ge­re Ge­sprä­che mit Swann, Saint-Loup und Bloch. Ne­ben den Be­geg­nun­gen amü­siert er sich beim Be­ob­ach­ten der an­de­ren Gäs­te, folgt ih­ren Ge­sprä­chen und ih­rem Ver­hal­ten. Be­son­ders das der ver­steckt Ho­mo­se­xu­el­len er­scheint ihm nun „Proust – So­dom und Is­ra­el“ weiterlesen

Hummel und Orchidee

Jähe Enthüllung der wahren Natur des Monsieur de Charlus“ — Proust 4. Band, I.

Zu­dem be­griff ich jetzt, wie­so ich vor­hin, als ich Mon­sieur de Char­lus von Ma­dame de Vil­le­pa­ri­sis hat­te her­aus­kom­men se­hen, fin­den konn­te, er se­he aus wie ei­ne Frau: Er war ei­ne! Er ge­hör­te zu der Ras­se je­ner Men­schen (sie sind we­ni­ger wi­der­spruchs­voll, als es den An­schein hat), de­ren Ide­al männ­lich ist, ge­ra­de weil sie von weib­li­chem Tem­pe­ra­ment sind, und sie im Le­ben nur schein­bar den an­de­ren Män­nern glei­chen; (…) ei­ne Ras­se auf der ein Fluch liegt und die in Lü­ge und Mein­eid le­ben muß, da sie weiß, daß ihr Ver­lan­gen, das, was für je­des Ge­schöpf die höchs­te Be­see­li­gung im Da­sein aus­macht, für sträf­lich und schmach­voll, für ganz un­ein­ge­steh­bar gilt.“ (Kel­ler 4, 26f., Suhrkamp)

Wer hät­te ge­dacht, daß Proust die­se Ent­hül­lung, ‑für die end­gü­li­ge Aus­ga­be ver­warf er den obi­gen Ti­tel des Ka­pi­tels, das auf den Es­says „Über die Päd­eras­tie“ zurückgeht‑, mit der be­kann­ten Me­ta­pher von Blü­te und Bien­chen be­bil­dern wür­de? Bei­des spe­zi­fi­ziert er, aus der Blü­te wird ei­ne Or­chi­dee, wenn nicht gar ein Kna­ben­kraut, und aus der Bie­ne ei­ne Hum­mel. Es ist klar, wor­um es geht. Um die Be­fruch­tung, oder um wie­der vom Spe­zi­fi­schen ins All­ge­mei­ne zu kom­men, um die Se­xua­li­tät. Wür­den wir uns hier über die fran­zö­si­sche Ori­gi­nal­aus­ga­be un­ter­hal­ten, wüss­ten wir, daß Proust ‑aber das wis­sen wir so­wie­so- auch im All­ge­mei­nen das Be­son­de­re sieht. So müs­sen die Kom­men­ta­re, den vier­ten Band der Re­cher­che le­se ich in der Re­clam- und in der Suhr­kamp-Aus­ga­be, helfen.

Mar­cel steht am Trep­pen­haus­fens­ter des Pa­lais, weil er die her­zög­li­che An­kunft ab­pas­sen will. Wir er­in­nern uns, er möch­te die Ein­la­dung bei der Fürs­tin son­die­ren. Wäh­rend er war­tet, schweift sein Blick im Hof um­her und fällt auf ei­ne Or­chi­dee, die ih­rer­seits auf ei­ne Hum­mel war­tet. Die­se Bou­don, das Wort be­zeich­net im Fran­zö­si­schen auch Pe­nis, er­scheint zu­nächst nicht, um ih­ren Rüs­sel in die Blü­ten­öff­nung zu ste­cken. Da­für taucht Ba­ron de Char­lus auf, des­sen hin­te­re Par­tie hum­mel­ar­tig aus­ragt. Mar­cel duckt sich, er möch­te auf kei­nen Fall von Char­lus auf­ge­spürt wer­den, hat­te der sich doch ihm ge­gen­über in der Ver­gan­gen­heit mehr­fach selt­sam ver­hal­ten. Wie er­in­nern uns an sei­nen schon et­was län­ger zu­rück­lie­gen­den abend­li­chen Be­such in Mar­cels Zim­mer im Grand-Ho­tel so­wie an den kürz­lich er­folg­ten Be­such Mar­cels bei Char­lus.

Mar­cel späht er­neut durchs Fens­ter und sieht, daß sei­ne Vor­sicht gar nicht von Nö­ten ge­we­sen wä­re. Char­lus’ Auf­merk­sam­keit ist voll­kom­men von an­de­rem ge­fan­gen. Es ist Ju­pi­en, der auf dem Weg ins Bü­ro, vom Blick auf den Ba­ron in ei­nen balz­ähn­li­chen Zu­stand ver­setzt wur­de. Die bei­den, könn­te man sa­gen, „Hum­mel und Or­chi­dee“ weiterlesen

Geifernder Apoll gegen Zylinderzertrampler

Proust – Besuch bei Baron de Charlus, Bd. 3, 774–793

Nach dem Di­ner bei der Her­zo­gin von Guer­man­tes macht sich Mar­cel auf den Weg zu Char­lus. Über Saint-Loup hat­te er ihm den Ter­min aus­rich­ten las­sen. Aus­ge­rech­net am Abend des Di­ners er­war­te er ihn we­gen ei­ner drin­gen­den Unterredung.

Nun sitzt Mar­cel vol­ler Span­nung im Vor­zim­mer, um Char­lus von Oria­nes Be­mer­kun­gen zu be­rich­ten. Die­se war er­staunt, so­gar be­sorgt, zu hö­ren, daß die Bei­den seit ei­ni­ger Zeit mit­ein­an­der be­kannt sind. Doch der Ba­ron lässt ihn war­ten. Mar­cel kann sich von sei­nem „Wort­rausch“ nicht be­frei­en. Er hät­te ge­nug Zeit, über die Be­mer­kun­gen wäh­rend der zu­rück­lie­gen­den Stun­den bei den Guer­man­tes nach­zu­den­ken. Oria­ne ent­deck­te in ih­rem Schwa­ger „das Herz ei­ner Frau“, die tür­ki­sche Bot­schaf­te­rin warn­te: „Er ist ein Mann, dem man oh­ne Be­den­ken sei­ne Toch­ter an­ver­trau­en kann, aber nicht sei­nen Sohn“.

Erst nach ei­ner hal­ben Stun­de, Mar­cel will fast wie­der ge­hen, be­rei­tet ihm Char­lus „Gei­fern­der Apoll ge­gen Zy­lin­der­zer­tramp­ler“ weiterlesen

Diner bei Guermantes

Parsifal unter Blumenmädchen

GuermantesDa erst be­merk­te ich, daß rings um mich her, um mich, der ich bis zu die­sem Ta­ge – ab­ge­se­hen von mei­nem Prak­ti­kum im Sa­lon von Ma­dame Swann – bei mei­ner Mut­ter, in Com­bray und in Pa­ris, ein ganz an­de­res, ent­we­der gön­ner­haf­tes oder re­ser­vier­tes Ver­hal­ten von Sei­ten mür­ri­scher Da­men der bür­ger­li­chen Ge­sell­schaft ge­wohnt war, die mich als Kind be­han­del­ten, ein Sze­nen­wech­sel sich voll­zo­gen hat­te, dem­je­ni­gen ver­gleich­bar, der Par­si­fal plötz­lich un­ter die Blu­men­mäd­chen ver­setzt. Die­je­ni­gen, die mich nun um­ga­ben, ganz de­kol­le­tiert (ih­re ent­blöß­ten Schul­tern zeig­ten sich zu bei­den Sei­ten ei­nes ge­wun­de­nen Mi­mo­sen­zwei­ges oder un­ter den wei­ten Blü­ten­blät­tern ei­ner Ro­se) be­grüß­ten mich mit lau­ter lan­gen, da­hin­schmel­zen­den und zärt­li­chen Bli­cken, als hin­de­re sie ein­zig ih­re Schüch­tern­heit, mich zu küssen.“

Mar­cels Traum von der Her­zo­gin wahr­ge­nom­men zu wer­den er­füllt sich mit der Ein­la­dung zum Di­ner bei den Guer­man­tes. Das Idol, dem er seit der Be­geg­nung in Com­bray und mehr noch wäh­rend sei­ner mor­gend­li­chen Ver­fol­gun­gen er­le­gen war, ist Mme de Guer­man­tes je­doch längst nicht mehr. Die Be­geg­nun­gen bei Mme de Vil­le­pa­ri­sis zeig­ten ihm, daß die von ihm ver­ehr­te Hei­li­ge ei­ne ober­fläch­li­che „Di­ner bei Guer­man­tes“ weiterlesen

Proust – Standesschranken

Ein Abend mit Robert de Saint-Loup, Bd. 3, 555–580

GuermantesDie sel­te­nen mit ihm zu zweit ver­brach­ten Stun­den, be­son­ders aber die­se, sind mir seit­her un­ver­gess­lich ge­blie­ben. Für ihn wie für mich war dies ein Abend der Freund­schaft. Und doch brach­te ich ihm wohl (aus die­sem Grund auch von Ge­wis­sens­bis­sen ge­plagt) in je­nem Au­gen­blick kaum, so fürch­te ich, ei­ne Freund­schaft von der Art ent­ge­gen, wie er sie mir am liebs­ten ein­ge­flößt ha­ben würde.“

Saint-Loup ist auf Front­ur­laub, sei­nen ein­zi­gen Abend in Pa­ris will er mit Mar­cel ver­brin­gen. Er bit­tet, ihn in ein Re­stau­rant zu be­glei­ten. In die­sem Gast­haus trifft sich Ro­bert sehr oft mit sei­nen ad­li­gen Freun­den, Mar­cel hin­ge­gen war noch nie dort. Als die Kut­sche vor dem Ein­gang die­ses Lo­kals, ei­ner neu­mo­di­schen Re­vol­ver­tür, hält, for­dert Ro­bert den Freund auf schon ein­zu­tre­ten, wäh­rend er den Kut­scher be­zahlt. Es ist sehr kalt an die­sem Abend und Mar­cel sehr empfindlich.

Ob­gleich das Re­stau­rant nur ei­nen ein­zi­gen Gast­raum be­sitzt, be­her­bergt es zwei „Proust – Stan­des­schran­ken“ weiterlesen