Erinnern ist Licht“

In „Ein junger Herr in Neapel“ erzählt Andrea Giovene vom Erwachen eines jungen Schriftstellers

Zur Spit­ze hin hat­ten Feuch­tig­keits­fle­cken gan­ze Ge­ne­ra­tio­nen über­wäl­tigt, sie gli­chen gan­zen Schwär­men mit ei­nem Schrot­schuss durch­sieb­ter Spat­zen. Der Baum kräu­sel­te sich, er trüb­te sich ein und schlug Wel­len. Die jüngs­ten Ge­ne­ra­tio­nen wa­ren am un­le­ser­lichs­ten. Und ich? Wie soll­te ich mich da auf sei­ner Spit­ze ein­nis­ten, die nur in die Zim­mer­de­cke hin­ein hö­her wach­sen konn­te, im Leeren?“

Dies sind die Ge­dan­ken des zu Be­ginn des Ge­sche­hens 9‑jährigen Ich-Er­zäh­lers in An­drea Gio­ve­nes (1904–1995) „Ein jun­ger Herr in Nea­pel“, dem ers­ten Teil sei­ner Ro­man­fol­ge „Die Au­to­bio­gra­phie des Giu­lia­no di San­se­vero“, wel­che in den Jah­ren 1903–1957 spielt. Als Giu­lia­no und sei­ne klei­ne Schwes­ter Chec­chi­na durch die zer­fal­len­den Fluch­ten des Fa­mi­li­en­pa­laz­zos strei­fen, ge­lan­gen sie zum Stamm­baum, „dem muf­fi­gen To­tem“, das die kom­plet­te Wand ei­nes Sa­lons ein­nimmt. Die Be­schrei­bung der ent­le­ge­nen, ver­staub­ten Räu­me er­in­nert an die Ent­de­ckungs­tour von Tancre­di und An­ge­li­ca im Som­mer­sitz der Sa­li­na. Zwar spielt Lam­pe­du­sas „Il Gat­to­par­do“ ein hal­bes Jahr­hun­dert vor „Die Au­to­bio­gra­phie des Giu­lia­no di San­se­vero“, doch steht in bei­den Ro­man­wer­ken der Zer­fall ei­nes Adels­ge­schlechts im Vor­der­grund. Ei­ne wei­te­re Par­al­le­le be­steht in der per­sön­li­chen Ver­bin­dung der Schrift­stel­ler zu ih­rem Su­jet. Giu­sep­pe To­ma­si di Lam­pe­du­sa ent­stammt ei­nem si­zi­lia­ni­schen Adels­ge­schlechts, An­drea Gio­ve­ne di Gi­ra­so­le ei­nem nea­po­li­ta­ni­schen. Die Trans­for­ma­ti­on, die Lam­pe­du­sa mit dem be­rühm­ten Satz, „Wenn al­les blei­ben soll, wie es ist, muß sich al­les än­dern“, an­deu­tet, zeigt Gio­ve­ne durch die Eman­zi­pa­ti­on sei­nes Er­zäh­lers. Bei­de Au­toren be­rich­ten vom Schick­sal ei­ner Fa­mi­lie nach ein­schnei­den­den his­to­ri­schen Um­brü­chen, der Na­tio­na­len Ei­ni­gung Ita­li­ens in der Mit­te des 19. Jahr­hun­derts, be­zie­hungs­wei­se wäh­rend der Krie­ge in der ers­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts, de­nen je­weils ei­ne Neu­ord­nung der Ge­sell­schaft folgt. Gio­ve­nes Werk setzt, wenn man so will, ein, wo Lam­pe­du­sas en­det, das ei­ne in Nea­pel und das an­de­re in Palermo.

Der Nie­der­gang des einst wohl­ha­ben­den Adels­ge­schlechts der San­se­ve­r­os ist im Jahr 1912 be­reits ein­ge­tre­ten, als Fol­ge der Macht­ver­schie­bun­gen des Ri­sor­gi­men­to. Gi­an Lui­gi, der Va­ter des jun­gen Er­zäh­lers, übt als Ar­chi­tekt ei­nen bür­ger­li­chen Be­ruf aus. Von sei­nen Kin­dern er­war­tet er tra­di­tio­nell pa­tri­ar­chal, sei­nen Plä­nen für ih­re Zu­kunft zu fol­gen. Ferran­te, der Äl­tes­te, soll das Fa­mi­li­en­er­be zu­sam­men­hal­ten, von Giu­lia­no ver­langt er das Ju­ra­stu­di­um. Die Töch­ter Cris­ti­na und Chec­chi­na war­ten nach Jah­ren stren­ger Non­nen-Zucht auf ei­ne gu­te Par­tie, so wie einst ih­re Mut­ter An­ni­na. Die­se bringt tra­gi­sche Ge­stal­ten in die Fa­mi­lie. Ihr Bru­der Fe­der­i­co wird we­gen sei­ner Lie­be zu ei­ner Tän­ze­rin ge­äch­tet und ist auf Ga­ben sei­ner Schwes­ter an­ge­wie­sen, die wie­der­rum auf das Er­be ih­rer Tan­te Eu­do­sia war­tet. Giu­lia­no ist in die­ser Fa­mi­lie ein Au­ßen­sei­ter. Als sei­ne Lieb­lings­schwes­ter Chec­chi­na im Klos­ter­in­ter­nat ver­schwin­det, ver­liert er sei­ne ein­zi­ge Ver­trau­te. Wäh­rend die Di­stanz zu sei­nen El­tern un­über­wind­lich bleibt, schätzt er um so mehr On­kel Fe­der­i­co als bo­den­stän­di­gen Rat­ge­ber und Gi­an Mi­che­le, den Zwil­lings­bru­der sei­nes Va­ters. Am nächs­ten steht ihm al­ler­dings Ge­de­one, „der Ein­zi­ge der Fa­mi­lie, der die Sün­de der Hof­art nicht be­ging“ und sei­nem Nef­fen die schö­nen Küns­te näherbringt.

In „Ein jun­ger Herr in Nea­pel“, dem ers­ten Ro­man der fünf­tei­li­gen Rei­he „Die Au­to­bio­gra­phie des Giu­lia­no di San­se­vero“ schil­dert An­drea di Gio­ve­ne das Er­wach­sen­wer­den des Er­zäh­lers. Die Ti­tel der Ka­pi­tel be­zeich­nen die ein­zel­nen Etap­pen. Von der Kind­heit Gíu­gí­us im al­ten Pa­laz­zo er­zählt „Der Stamm­baum“. Es fol­gen die Jah­re im In­ter­nat auf dem „Giglio“, wo er die klös­ter­li­che Struk­tur und Bil­dung zu schät­zen lernt, aber zum Ein­zel­gän­ger wird. Wer zu ihm durch­dringt, wird durch die Kriegs­wir­ren ent­ris­sen, wie sein Ka­me­rad Et­to­ri­no. Auch bei den Pa­tres fin­det er nur we­nig Rück­halt. Ei­ne Aus­nah­me bil­det Pa­ter Ber­nar­do, der Ar­chi­var, der Giu­lia­no in die Schrif­ten ein­führt. Die Will­kür und Här­te der an­de­ren Leh­rer hin­ge­gen füh­ren ihn in Iso­la­ti­on und An­triebs­lo­sig­keit. „Doch weil nichts ge­schah, durch­streif­te ich wei­ter­hin das Klos­ter, so als wür­de ich in sei­ner Klau­sur hof­fen, den Schlüs­sel zum ge­sam­ten Pro­blem des Seins und des Le­bens zu fin­den.“ Nach vier Jah­ren ver­lässt er das In­ter­nat und kommt in das neue Haus in Nea­pel, wo er ei­ge­ne Räu­me be­wohnt, die durch ei­nen „Schwe­ben­den Kor­ri­dor“ vom Rest des Do­mi­zils iso­liert wer­den, eben­so wie er selbst. Die El­tern sind be­schäf­tigt, sein Bru­der ab­we­send und die Lieb­lings­schwes­ter in der Tos­ka­na weg­ge­sperrt. Sei­ne ein­zi­gen Kon­tak­te sind ei­ne jun­ge Haus­leh­re­rin, der al­te Pri­vat­leh­rer Co­li­ca, den er in der Nach­bar­schaft auf­sucht, und sein Die­ner Giu­s­ti­no. Die Na­men sind Pro­gramm, Co­li­ca haust in ärm­li­chen Ver­hält­nis­sen, die den Pa­laz­zos um­ge­ben. Giu­s­ti­no ist Giu­lia­no recht­schaf­fen er­ge­ben. Er weiß um Rat, wenn es um neue Be­kann­te geht, de­nen Giu­lia­no auf un­ge­wöhn­li­chen We­gen be­geg­net. Doch die meis­te Zeit ver­bringt der jun­ge Herr hin­ter dem hän­gen­den Kor­ri­dor, dort kann er sich „fu­rio­sen men­ta­len Or­gi­en des Le­sens, des Schrei­bens oder der Phan­ta­sien hin­ge­ben“. So ent­ste­hen ver­schie­de­nen Tex­te, die er als „Be­ob­ach­tun­gen“, „Ana­lo­gien“ und „Hy­po­the­sen“ ord­net, er­gänzt von ei­nem „Traum­ta­ge­buch“. Es sind die­se Auf­zeich­nun­gen, auf die der Ich-Er­zäh­ler in sei­ner Au­to­bio­gra­phie zurückgreift.

Wie bei Proust ist das Er­in­nern das Mo­vens des Er­zäh­lens. Wie Proust be­herrscht Gio­ve­ne den schar­fen, bis­wei­len sar­kas­ti­schen Blick auf die obe­ren Krei­se, was sich auch im vier­ten Ka­pi­tel, „Der Ball“, ver­fol­gen lässt. Nach Kriegs­en­de emp­fängt An­ni­na all­abend­lich vie­le Gäs­te, die Giu­lia­no Ma­te­ri­al für sei­ne Be­ob­ach­tun­gen lie­fern. Un­ter die­sen bie­tet be­son­ders der Mar­che­se Le­ri­ci „Bon­mots, Spitz­zün­gig­kei­ten und un­glaub­li­che Hä­re­si­en, auch wenn die­se nichts als bren­nen­de Wahr­hei­ten wa­ren“. Wer denkt da nicht an Prousts Ba­ron de Charlus?

Doch der schö­ne Schein trügt. Die po­li­ti­schen Un­ru­hen neh­men zu, die Mo­ral ab, das fi­nan­zi­el­le Pols­ter der San­se­ve­r­os eben­so. Giu­lia­no er­kennt, daß das Geld bei den Hand­wer­kern und Händ­lern liegt und längst nicht mehr der Aris­to­kra­tie vor­be­hal­ten ist, de­ren Exis­tenz­be­rech­ti­gung höchs­tens noch Ma­nie­ren und rit­ter­li­cher Ruhm aus­ma­chen. Da hilft auch kein „Bü­ßer­gür­tel“.

So en­det der ers­te Teil der au­to­bio­gra­phi­schen Ro­man­rei­he mit Re­si­gna­ti­on, aber in Auf­bruch­stim­mung. Aus der Rück­schau er­zählt, er­schließt sich, daß aus dem ad­li­gen Au­ßen­sei­ter ein Schrift­stel­ler wer­den wird. Gio­ve­nes ge­nau­er Blick mün­det in at­mo­sphä­ri­sche Be­schrei­bun­gen von Räu­men und Sze­nen und setzt die­se mit den in­ne­ren Wel­ten des Her­an­wach­sen­den in Ver­bin­dung. Ne­ben Ver­wei­sen auf Li­te­ra­tur, die Gui­lia­no jen­seits des Kor­ri­dors ver­schlingt, fin­den sich zahl­rei­che Ver­wei­se auf Wer­ke der Bil­den­den Kunst. Auch dies ist ei­ne Par­al­le­le zu Proust. Im­mer wie­der knüpft An­drea Gio­ve­ne Ver­bin­dun­gen zwi­schen die­sen bei­den Kunst­gat­tun­gen. Den My­thos sei­nes ei­ge­nen Schrei­bens fin­det er in Ca­ra­vag­gi­os Nar­ziss ver­bild­licht. So wie die­ser „vor ei­nem Brun­nen schwar­zen Was­sers sich selbst at­met“ emp­fin­det Gio­ve­ne sei­ne Li­te­ra­tur als ei­ne Art Selbst­be­spie­ge­lung. Sei­ne star­ke Hin­wen­dung zur Bild­kunst zeigt sich nicht zu­letzt dar­in, daß der Au­tor in sei­nen letz­ten Le­bens­jah­ren selbst zum Ma­ler wur­de. Dies schil­dert Ul­ri­ke Vos­win­ckel in ih­rem aus­führ­li­chen Nach­wort, das zu­gleich ei­ne Ein­füh­rung in die ge­sam­te fünf­tei­li­ge Ro­man­bio­gra­phie bietet.

Andrea Giovene, Ein junger Herr in Neapel, übers. v. Moshe Kahn, mit einem Nachwort v. Ulrike Voswinckel, Galiani Berlin 2022

So könnte es gewesen sein“

In einer dunkelblauen Stunde“ errichtet Peter Stamm „ein verwinkeltes Gedankengebäude“, in dem die Leserin „auf Entdeckungstour geht“

Nicht der Au­tor er­zählt, al­le Men­schen und Er­eig­nis­se erzählen.“
„Es geht beim Schrei­ben nicht dar­um, et­was zu ma­chen, son­dern et­was zu finden.“
„Die Wirk­lich­keit schreibt kei­ne Ge­schich­ten. In der Fik­ti­on kann man nicht le­ben, aber auch nicht sterben.“

Wel­che Er­war­tun­gen weckt Li­te­ra­tur? Wie wirkt sie? Wie kann man dar­über re­den? Fra­gen, die sich mir beim Le­sen und Schrei­ben stel­len und die wäh­rend un­se­rer Dis­kus­sio­nen im Li­te­ra­tur­kreis oft gro­ße Ver­blüf­fung aus­lö­sen. Wer sich mit his­to­ri­schen Tex­ten be­schäf­tigt, neigt zur Ana­ly­se. Wer hat wann was wem und vor al­len Din­gen war­um ge­sagt? Erst wenn dies ge­klärt ist, kann man Rück­schlüs­se zie­hen und in­ter­pre­tie­ren. Bei ei­nem li­te­ra­ri­schen Text al­ler­dings kann die Ana­ly­se be­reits die In­ter­pre­ta­ti­on sein, falls er so ge­baut ist wie Pe­ter Stamms Ro­ma­ne al­le­mal. Die elen­de Gret­chen­fra­ge „was will uns der Au­tor da­mit sa­gen“ führt bei Stamm ins La­by­rinth, Ari­ad­ne­fa­den nicht in Sicht.

Pünkt­lich zu sei­nem sech­zigs­ten Ge­burts­tag legt der Schwei­zer Pe­ter Stamm sei­nen neu­en Ro­man vor. Das Ge­schenk an sich selbst wie an sei­ne Le­ser raunt ge­heim­nis­voll „In ei­ner dun­kel­blau­en Stun­de“ und ist in ei­nem be­son­de­ren Pa­pier ver­packt, wel­ches das Por­trät „Pe­ter Stamm“ der Ma­le­rin An­ke Dober­au­er zeigt. Als Schrift­stel­ler be­kannt wur­de Stamm durch So könn­te es ge­we­sen sein““ weiterlesen

Unerinnerbarer Horror“

Emmanuel Carrère erzählt in „Yoga“ von seinem Kampf gegen innere Irrlichter

Es ist ein dor­nen­rei­ches Un­ter­fan­gen ei­ner so irr­lich­tern­den Be­we­gung wie der un­se­res Geis­tes zu fol­gen, ihm in die ver­bor­ge­nen Win­kel nach­zu­drin­gen und noch die win­zigs­ten Er­schei­nungs­for­men sei­ner Un­ru­he au­zu­ma­chen und auf­zu­zeich­nen. Meh­re­re Jah­re sind es schon, dass ich mei­nen Ge­dan­ken nur mich selbst zum Ge­gen­stand ge­setzt ha­be, dass ich nichts an­de­res un­ter­su­che und er­for­sche als mich, und er­for­sche ich doch et­was an­de­res, dann nur, um es auf mich zu be­zie­hen.“ (Mon­tai­gne)

Ich wür­de ger­ne et­was an­de­res den­ken als das, was ich den­ke, denn was ich den­ke und oft ge­nug auf­ge­zählt ha­be ist sinn­los, es ist im­mer das­sel­be und über­trie­ben selbstbezogen.“(Carrère)

Yo­ga“, der Ti­tel des jüngs­ten von Em­ma­nu­el Car­rè­re ver­fass­ten Ro­mans mag den Le­ser in die fal­sche Rich­tung füh­ren. Man lernt zwar ei­ni­ges über Yo­ga oder bes­ser über Me­di­ta­ti­on, das stil­le sich von al­len in­ne­ren Irr­lich­tern frei ma­chen­de Sit­zen, wie es be­reits in ei­nem Ro­man von Tim Parks be­schrie­ben wur­de. Doch Car­rè­res Auf­ent­halt in ei­nem klos­ter­glei­chen „Ge­he­ge“, wo al­les, was Spaß macht, ver­bo­ten ist, bil­det nur den ers­ten der vier Tei­le des Buchs die­ses auf au­to­fik­tio­na­les Er­zäh­len abon­nier­ten Au­tors. Sei­nem ich-er­zäh­len­den Ro­man-Ego ist be­wusst, daß sei­ne Art al­le Sät­ze mit Ich zu be­gin­nen, zu­min­dest was das Brie­fe­schrei­ben be­trifft, ent­ge­gen al­len Re­geln ist. Re­geln der Höf­lich­keit und der Rück­sicht, ge­gen die auch der Ro­man ver­stößt, wo­von die Le­se­rin al­ler­dings nur se­kun­där und durch Un­erin­ner­ba­rer Hor­ror““ weiterlesen

Saftige Lesefrucht

Stephen Fry legt mit „Helden“ den zweiten Band seiner Trilogie antiker Mythen vor

Die Göt­ter in den grie­chi­schen My­then ste­hen für mensch­li­che Mo­ti­ve und An­trie­be, die uns im­mer noch rät­sel­haft vorkommen.“

Als Kind bin ich mit Gus­tav Schwab in die Welt der an­ti­ken My­then ein­ge­taucht. Sie ha­ben mich seit­dem nicht mehr los­ge­las­sen, wie sich un­schwer am Ti­tel mei­nes Blogs er­ken­nen lässt. Ata­lan­te, die ar­ka­di­sche Jä­ge­rin, fehlt auch nicht bei Fry, doch da­zu spä­ter mehr.

Die li­te­ra­ri­schen, aber auch die bild­li­chen Dar­stel­lun­gen an­ti­ker My­then, bie­ten im­mer wie­der An­lass, sich mit ih­nen zu be­schäf­ti­gen. Sei­en es die Spiel­sze­ne zwi­schen Ajax und Achill auf der schwarz­fi­gu­ri­gen Exe­ki­as-Am­pho­re, der Sar­ko­phag aus Per­ge mit den Ta­ten des He­ra­kles oder auch Ti­zi­ans be­rühm­tes Ge­mäl­de „Bac­chus und Ari­ad­ne“. Wer die Ge­schich­ten kennt, die ei­ne Viel­zahl von Bild­wer­ken er­zäh­len, ist „Saf­ti­ge Le­se­frucht“ weiterlesen

Dichter-Dogge

Sigrid Nunez komponiert in „Der Freund“ Eigenes und Fremdes zu einem Buch über Schriftsteller und ihr Schreiben

Aber auf die­sen Sei­ten fin­det sich vie­les, von dem ich nie je­man­dem er­zählt ha­be. Es ist selt­sam, wie der Akt des Schrei­bens zu Ge­ständ­nis­sen führt. Nicht, dass es nicht auch da­zu führt, das Blaue vom Him­mel herunterzulügen.“

Man­chem Le­ser mag beim Blick auf das Buch un­wohl wer­den, wenn auch nicht so sehr wie mei­nem Freund. Mit Schre­cken denkt die­ser dar­an zu­rück, wie ein paar mun­te­re Er­wach­se­ne, al­len vor­an sei­ne El­tern, ihn auf den Rü­cken ei­nes rie­si­gen Hun­des hiev­ten. Das Ge­schrei des Drei­jäh­ri­gen war groß, das Reit­tier blieb je­doch ge­las­sen. Es war ei­ne Dog­ge, und da die Ge­schich­te im süd­li­chen Skan­di­na­vi­en spiel­te, ei­ne dä­ni­sche, auch wenn, wie Sig­rid Nunez in ih­rem Ro­man Der Freund er­klärt, die­se Ras­se als deutsch be­zeich­net wird. Ob der sanf­te Rie­se von da­mals, wie der Hund im Ro­man ei­ne Har­le­kin­dog­ge mit schwar­zen Fle­cken auf wei­ßem Fell  war, ist nicht mehr im Ge­dächt­nis. Ge­blie­ben ist je­doch die Pho­bie. Mein Freund wür­de al­so nie­mals das tun, was in Nunez‘ Buch ge­schieht, ei­nen hin­ter­las­se­nen Hund aufnehmen.

Sig­rid Nunez‘ Ich-Er­zäh­le­rin, wie die­se Schrift­stel­le­rin und Do­zen­tin für Krea­ti­ves Schrei­ben, steht zu­nächst wi­der­wil­lig die­sem Er­be ge­gen­über, nach­dem ihr bes­ter Freund den Tod ge­wählt hat. Noch wäh­rend sie trau­ert und nach Ant­wor­ten sucht, er­hält sie die Bot­schaft, daß „Dich­ter-Dog­ge“ weiterlesen

Gemeinsam anders

Wir sagen uns Dunkles“ — Helmut Böttigers aufschlussreiche Analyse der Beziehung Bachmann-Celan

Ich ha­be ei­nen Mann ge­kannt, der hieß Hans, und er war an­ders als al­le an­de­ren. Noch ei­nen kann­te ich, der war auch an­ders als al­le an­de­ren. Dann ei­nen, der war ganz an­ders als al­le an­de­ren und er hieß Hans, ich lieb­te ihn.“ 

Die­se Zei­len in In­ge­borgs Bach­manns Er­zäh­lung „Un­di­ne geht“ wei­sen auf die gro­ßen Lie­ben der Au­torin hin, Hans We­igel, Paul Ce­lan und Hans Wer­ner Hen­ze. Ih­nen räumt auch Hel­mut Böt­ti­ger in sei­nem neu­en Buch „Wir sa­gen uns Dunk­les“ ei­nen Platz ein. Das Er­geb­nis von Böt­tin­gers viel­fäl­ti­gen Ana­ly­sen zeigt al­ler­dings, daß Paul Ce­lan, der Mitt­le­re in Bach­manns Zi­tat, wie kein an­de­rer die Frau und die Schrift­stel­le­rin In­ge­borg Bach­mann präg­te et vice versa.

Hel­mut Böt­ti­ger, Li­te­ra­tur­kri­ti­ker und Ver­fas­ser meh­re­rer Wer­ke zur deutsch­spra­chi­gen Nach­kriegs­li­te­ra­tur, wid­met sich in sei­ner neu­es­ten Stu­die der Be­zie­hung von In­ge­borg Bach­mann und Paul Ce­lan. Er be­leuch­tet dar­in die Sta­tio­nen ih­rer Vi­ta als Lie­ben­de wie als Schrift­stel­ler, ih­re ge­gen­sei­ti­ge Be­ein­flus­sung und die Aus­wir­kung auf ih­re Li­te­ra­tur. Die, so zeigt Böt­ti­ger, oft­mals in Chif­fren Re­ak­tio­nen auf die Äu­ße­run­gen des „Ge­mein­sam an­ders“ weiterlesen

Konstrukt Weltliteratur

Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen“ — Tim Parks über Literatur

Es ist ei­ne Wei­le her, da ha­be ich un­ter dem Ti­tel „Wor­über wir re­den, wenn wir über Bü­cher re­den“ ein Buch be­spro­chen, wel­ches nicht nur wie das vor­lie­gen­de im Kunst­mann Ver­lag er­scheint, son­dern des­sen Au­tor, Pierre Ba­yard wie Tim Parks auch wis­sen­schaft­lich der Li­te­ra­tur zu­ge­wandt ist. Wäh­rend Ba­yard zur Lü­cke an­lei­tet un­ter dem ori­gi­nal­ge­treu über­setz­ten Ti­tel „Wie man über Bü­cher spricht, die man nicht ge­le­sen hat“, er­läu­tert Parks in „Whe­re I’m Re­a­ding from“ sei­ne Sicht aufs Le­sen. Sei­ne Es­says zu fast al­len Aspek­ten des Le­sens und Schrei­bens lie­gen nun in der Über­set­zung von Ul­ri­ke Be­cker und Ruth Keen als „Wor­über wir spre­chen, wenn wir über Bü­cher spre­chen“ vor. Ein wirk­lich schö­ner Titel.

Parks Buch ist nur un­we­sent­lich län­ger als die char­man­te Schum­mel­fi­bel sei­nes fran­zö­si­schen Kol­le­gen. Gut 230 Sei­ten, por­tio­niert in vier Tei­le mit 33 Ka­pi­teln, wid­men sich dem Buch und der Welt. Wie ist ein Ro­man ge­macht? Wie­so wird er ein Er­folg? Was macht uns auf ihn so auf­merk­sam, daß wir ihn le­sen und über ihn re­den wol­len? Parks Kern­the­ma wird bald klar. In der glo­ba­li­sier­ten Welt dro­he ei­ne „Kon­strukt Welt­li­te­ra­tur“ weiterlesen

Augenstern

In „Königsallee“ erweist Hans Pleschinski einem grossen Schriftsteller und einem grossen Gefühl Reverenz

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Und was ist Treue? Sie ist Lie­be, oh­ne zu se­hen, der Sieg über ein ver­haß­tes Ver­ges­sen. Wir be­geg­nen ei­nem An­ge­sicht, das wir lie­ben, und wir wer­den wie­der da­von ge­trennt. Das Ver­ges­sen ist si­cher, al­ler Tren­nungs­schmerz ist nur Schmerz über si­che­res Ver­ges­sen. Un­se­re Ein­bil­dungs­kraft, un­ser Er­in­ne­rungs­ver­mö­gen sind schwä­cher, als wir glau­ben möch­ten. Wir wer­den nicht mehr se­hen und auf­hö­ren zu lie­ben. Was bleibt, ist die Ge­wiß­heit, daß je­des neue Zu­sam­men­tref­fen un­se­rer Na­tur mit die­ser Le­bens­er­schei­nung mit Si­cher­heit un­ser Ge­fühl er­neu­ern, uns wie­der, oder ei­gent­lich noch im­mer, sie lie­ben las­sen wird.“

1927 ver­brach­ten die Manns ih­re Som­mer­fri­sche auf Sylt. Wäh­rend sich Frau Ka­tia in der Strand­ge­sell­schaft lang­weil­te, fand Tho­mas Mann dort sei­nen Au­gen­stern. In vor­sich­ti­gen Ge­sprä­chen nä­her­te er sich dem jun­gen Klaus Heu­ser, es folg­te ei­ne Ein­la­dung in die Münch­ner Fa­mi­li­en­vil­la. Schließ­lich mach­te ein Kuss den Jun­gen zu ei­ner un­ver­ges­se­nen Begegnung.

Die­se un­er­füll­te Lie­be ver­wan­del­te Tho­mas Mann in Li­te­ra­tur und er­schuf man­che sei­ner Fi­gu­ren nach dem Vor­bild je­nes Kna­ben. Hans Plesch­in­ski sei­ner­seits formt aus der rea­len Lie­be und aus „Au­gen­stern“ weiterlesen

Gabinetto Segreto der Literatur

Im Dienst der Literatur erforscht Rainer Moritz „Wer hat den schlechtesten Sex“

9783421046444_CoverIm Nea­p­ler Mu­seo Na­zio­na­le fin­det sich ne­ben Mo­sai­ken und Ma­le­rei­en aus den vom Ve­suv zer­stör­ten Städ­ten ein spe­zi­el­ler Aus­stel­lungs­raum. Die­ses Ga­binet­to Se­gre­to war zum Schutz emp­find­sa­mer See­len lan­ge nur mit Son­der­er­laub­nis zu be­tre­ten. Wer die­se je­doch er­hielt, konn­te sich an ero­ti­schen bis derb se­xu­el­len an­ti­ken Ar­te­fak­ten er­göt­zen. Ein der­ar­ti­ges ero­ti­sches Ge­heim­ka­bi­nett im li­te­ra­ri­schen Sin­ne hat Rai­ner Mo­ritz zu­sam­men­ge­tra­gen. Der Ti­tel Wer hat den schlech­tes­ten Sex? weist auf die spe­zi­fi­sche Aus­rich­tung sei­nes Sammelgebiets.

Rai­ner Mo­ritz, Kri­ti­ker und Lei­ter des Li­te­ra­tur­hau­ses Ham­burg, wur­de nicht erst in sei­nem Stu­di­um der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaf­ten mit li­te­ra­ri­schen Feucht­ge­bie­ten kon­fron­tiert. Wie vie­le lei­den­schaft­li­che Le­ser such­te und fand er schon in jun­gen Jah­ren die bes­ten Stel­len in hei­mi­schen Bü­cher­ber­gen. Sei­ne In­itia­ti­on er­folg­te beim eher sof­ten Sex in Nar­ziß und Gold­mund, deut­li­che­re Fin­ger­zei­ge hin­ge­gen lie­fer­te ihm Da­ni­el De­foe. Ich ge­hö­re zur glei­chen Ge­ne­ra­ti­on wie Mo­ritz und er­in­ne­re mich an ähn­li­che Er­fah­run­gen. Je­doch stieß ich „Ga­binet­to Se­gre­to der Li­te­ra­tur“ weiterlesen

Feuerwanzenbetriebsamkeit

Die Betrogenen“ — Michael Maars anspielungsreicher Roman über Liebe und Leid im Literaturbetrieb

maar, die betrogenenFeu­er­wan­zen trei­ben es som­mers ger­ne über­all. Wer sie da­bei stört, dem dan­ken sie es mit pe­ne­tran­tem Geruch.

Ähn­li­ches be­schreibt Mi­cha­el Maar in sei­nem an Na­tur­be­ob­ach­tun­gen rei­chen Ro­man Die Be­tro­ge­nen. Maar, als Li­te­ra­tur­his­to­ri­ker für sei­ne Es­says zu Grö­ßen wie Tho­mas Mann, Mar­cel Proust, Vla­di­mir Na­bo­kov und an­de­ren be­kannt, lässt in sei­nem bel­le­tris­ti­schen De­büt an­spie­lungs­vol­le Pro­sa er­war­ten. Be­reits der Ti­tel er­in­nert an die letz­te Er­zäh­lung Tho­mas Manns, Die Be­tro­ge­ne . Hier wie dort spielt die Na­tur ei­ne Rol­le und hier wie dort ist es trotz des bei To­des­fäl­len not­wen­di­gen Ernsts, iro­nisch und amü­sant, wenn es eben­falls hier wie dort um die Lie­be geht.

In Mi­cha­el Maars pi­kan­ter Pro­sa spielt die­se im Li­te­ra­tur­be­trieb. Wir be­geg­nen ei­nem Kri­ti­ker mitt­le­ren Al­ters, der sich an­schickt zum Bio­gra­phen des Groß­au­tors Ar­thur Bitt­ner zu avan­cie­ren. Der Ver­trag mit dem Ver­lag und die Über­ein­kunft mit Bitt­ner sind schon ge­trof­fen. Da er­for­dert der plötz­li­che Tod des Ver­le­gers den Be­such des Bio­gra­phen auf der Be­er­di­gung und ein nach­fol­gen­des Tref­fen mit dem Schrift­stel­ler. Bitt­ner will sei­ne ei­ge­ne „Feu­er­wan­zen­be­trieb­sam­keit“ weiterlesen