In John Grishams „Das Manuskript” ist die Schilderung des Hurrikans spannender als die eigentliche Story
„Mitten im Sturm, als wäre das Heulen, Klappern und Knallen nicht schon genug, begann sich ein seltsamer Rhythmus herauszubilden: zuerst ein durchdringendes Brüllen, das immer lauter wurde, dann zog ungefähr im Minutentakt ein Wolkenband mit noch stärkeren Windböen durch, als wollte es davor warnen, dass draußen auf dem Meer und nicht weit dahinter noch viel Schlimmeres lauerte.“
Wie schon so oft, bewegt sich in diesen Tagen wieder ein Tropensturm auf die Küste Floridas zu. Eta hat bereits in Nicaragua, Honduras und Kuba eine Spur der Verwüstung hinterlassen und zieht momentan in den Golf von Mexiko. Dort wird er neue Kraft tanken und könnte als Hurrikan Kurs auf die Festlandküste Floridas mit ihren unzähligen Keys nehmen.
In dieser Inselgruppe liegt auch Camino Island, der fiktive Handlungsort von John Grishams neuem Roman „Das Manuskript“. Das mondäne Strandstädtchen Santa Rosa mit der nicht minder mondänen Buchhandlung „Bay Books“ kennen Grisham-Leser bereits aus dem vor wenigen Jahren erschienenen Vorgänger „Das Original“. Der Besitzer der Buchhandlung, Bruce Cable, dominiert als bibliophiler Bonvivant das Literaturgeschehen weit über das Eiland hinaus. Auch diesmal stimmt ein opulentes Gelage mit mehr oder minder bekannten Schriftstellern, überwiegend Residenten von Camino Island, in das Geschehen ein. Grisham bindet den neuen Roman durch wenige Fäden an den Vorgänger. Diese lässt er jedoch bald wieder fallen und kaum zum weiteren Geschehen beitragen. Doch die Serienjunkies, sofern sich bei zwei Bänden von einer Serie sprechen lässt, treffen auf bekanntes Personal. Allen voran die junge Mercer, deren schriftstellerisches Talent sich in „Das Original“ entwickelt und die jetzt als Dozentin für Kreatives Schreiben arbeitet. Ihr neuer Freund begleitet sie, so bleiben die Avancen des Buchhändlers eine Reminiszenz. Spätestens hier fragte ich mich, warum ich eigentlich zu diesem zweiten Camino-Roman gegriffen habe. Doch noch vor einer Antwort, der vielleicht ein entschiedenes Zuklappen gefolgt wäre, hatte mich der Roman gefangen.
Süffig und detailreich schildert der Autor nicht nur die Speisen und Weine auf edlen Tellern und in kristallenen Kelchen mit der Bruce Cables als Antiquitätenspezialistin vorwiegend in der Provence tätige attraktive Ehefrau Noelle die Tafel in der gemeinsamen Strandvilla schmückt. Eben so viel Akribie widmet Grisham dem Hurrikan Leo, der auf Camino Island zurast und den Großteil der Bewohner in die Flucht treibt. Bruce harrt aus, gemeinsam mit Nick, einem jungen Studenten, der als Aushilfe in der Buchhandlung jobbt. Grisham schildert dieses Ereignis mit einer der Naturgewalt ebenbürtigen ungeheuren Wucht. Mit großer Spannung verfolgt man das Schicksal der Insel und der wenigen Bewohner, die über ihre Häuser wachen. Ich hatte das Gefühl mittendrin zu stecken und war umso mehr erstaunt, daß dieser intensive Teil des Romans doch nur wenige Seiten dauert. Trotzdem überstrahlt er den Rest.
Dieser entwickelt sich zu einem Kriminalfall und sei deshalb nur kurz angerissen. In den Wirren des Hurrikans kommt ein Bekannter von Bruce zu Tode. Der Schriftsteller war früher ein hohes Tier in der Wirtschaft und schrieb an einem Schlüsselroman. Dank der Findigkeit des jungen Nick, einem passionierten Leser von Kriminalromanen, schöpfen Bruce und Nick Verdacht und betätigen sich als Privatermittler in einem Mordfall.
Es entspannt sich ein Krimi, der trotz seines Verschwörungsgehalts mich nicht fesseln konnte. Verglichen mit dem Drive des zuvor so spannend inszenierten Sturms konnte die Kombination aus Mord, Pflegenotstand und den miesen Machenschaften der Pharmaindustrie trotz aller realitätsnaher Brisanz nur schwer mein Interesse wecken.
Grisham hat einfach zu viele Themen in einen Roman gepackt und darüber leider seine Figuren, die zu Beginn noch als Persönlichkeiten fassbar waren, vernachlässigt.
Bleibt zu wünschen, daß John Grisham demnächst einen reinen Hurrikan-Roman schreibt, gerne auf Camino Island, aber lieber ohne Bruce Cable.