Ein Leben lang mittags Pasta und man überlebt alles“

Adriana Altaras jüdisch-deutsch-italienisches Erinnerungsbuch „Besser allein als in schlechter Gesellschaft. Meine eigensinnige Tante“

Im­mer wie­der fängt Adria­na da­von an, ich sol­le nach Deutsch­land kom­men. Dass es mir in ei­nem deut­schen Al­ters­heim schme­cken wür­de, wa­ge ich zu be­zwei­feln. Ich ha­be nichts ge­gen Kar­tof­feln, aber je­den Tag? Mei­ne Schwes­ter Thea lieb­te Kar­tof­feln. Kein Wun­der, dass sie nach Deutsch­land aus­ge­wan­dert ist. Dort ist sie auch ge­stor­ben. Ich will nicht be­haup­ten, die Kar­tof­feln hät­ten ihr ge­scha­det, aber ein län­ge­res Le­ben hat man ein­deu­tig mit Pasta.“

Die Pan­de­mie ist vor­bei, die App ab­ge­schal­tet, je­de Ein­schrän­kung auf­ge­ho­ben. In Pfle­ge­hei­men ist der Zu­gang wie­der un­ein­ge­schränkt mög­lich, le­dig­lich ei­ne Mas­ke müs­sen die Be­su­cher noch tra­gen. Wer wie ich dort ei­nen Men­schen zu be­su­chen hat­te, wird sich an die Stu­fen des Re­gle­ments gut er­in­nern kön­nen. Dem Be­suchs­ver­bot folg­te ein be­grenz­tes Ren­dez­vous an ei­ner dik­ta­tor­lan­gen Ta­fel mit Spuk­schutz­schei­be bis schließ­lich die Kom­bi­na­ti­on aus Test­pflicht, Mas­ke und ei­des­staat­li­cher Ge­sund­heits­er­klä­rung ein Zu­sam­men­sein wie­der mög­lich mach­te. Die­se Pha­sen, die den un­auf­halt­sa­men Ver­fall ei­nes Men­schen be­glei­te­ten und er­schwer­ten, be­schreibt Adria­na Al­ta­ras in ih­ren Ro­man „Bes­ser al­lein als in schlech­ter Ge­sell­schaft“. Der Ti­tel stammt aus der Schatz­kis­te ih­rer Tan­te Jel­ka. Sie lebt im ita­lie­ni­schen Man­tua, ih­re Nich­te in Ber­lin. Die eben­so fer­nen wie un­ter­schied­li­chen Städ­te wur­den für bei­de zur Hei­mat, nach­dem ih­re jü­di­sche Fa­mi­lie vor Jahr­zehn­ten Za­greb ver­ließ. Die schö­ne und stol­ze Jel­ka wur­de in ein La­ger ver­schleppt, von dort ret­te­te sie ein ita­lie­ni­scher Sol­dat und brach­te sie in sein Dorf in Nord­ita­li­en. Mehr aus Dank­bar­keit, denn aus Lie­be hei­ra­te­te sie Gi­or­gio und ar­ran­gier­te sich mit den Verhältnissen.

Durch­hal­ten, nach vor­ne schau­en und das Bes­te dar­aus ma­chen wur­den die Le­bens­prin­zi­pi­en, die der 99-Jäh­ri­gen auch in der Ca­sa di Cu­ra hel­fen. Nach ei­nem lan­gen selbst­be­stimm­ten Le­ben stahl ein Sturz ihr die Un­ab­hän­gig­keit und be­för­der­te sie in die Vil­la Pa­radi­so. Doch das Vi­rus ver­hin­dert den Be­such von Adria­na und de­ren Söh­nen, ih­ren letz­ten ver­blie­be­nen Angehörigen.

Adria­na Al­ta­ras, Schau­spie­le­rin, Opern- und Thea­ter­re­gis­seu­rin, hat be­reits meh­re­re, au­to­bio­gra­phisch in­spi­rier­te Ro­ma­ne ver­fasst. Ihr neu­es Buch wid­met sie der Be­zie­hung zu ih­rer Tan­te Jel­ka Mot­ta-Fuhr­mann. Es spielt in den letz­ten Mo­na­ten von Jel­kas Le­ben, in de­nen Tan­te und Nich­te we­gen Co­ro­na auf Te­le­fo­na­te an­ge­wie­sen sind. Die­se Ge­sprä­che prä­gen auch die Struk­tur des Ro­mans, denn bei­de Stim­men kom­men wech­sel­wei­se zu Wort. Aus­ge­hend von Ak­tu­el­lem tau­chen sie in die viel­stu­fi­gen Ebe­nen der Er­in­ne­rung. Bei Adria­na bil­det ne­ben der be­son­de­ren be­ruf­li­chen Pan­de­mie-Si­tua­ti­on, vor al­lem pri­va­ter Kum­mer den Rah­men. Ihr Mann hat sie ver­las­sen, die bei­den er­wach­se­nen Söh­ne wer­den selbst­stän­dig, sie bleibt al­lein in der Ber­li­ner Woh­nung zu­rück. Mit Te­ta Je­le, wie sie ih­re Tan­te lie­be­voll nennt, te­le­fo­niert sie oft, auch wenn die Un­ter­hal­tun­gen we­gen des Al­ters und sei­ner Ge­bre­chen im­mer schwie­ri­ger wer­den. An­schlie­ßend denkt sie an die Kin­der­jah­re bei Je­le, die ih­re im­mer noch en­ge Bin­dung be­grün­de­ten. Eben­so er­in­nert sie sich an all‘ die Ge­schich­ten, die die­se ihr über die Jah­re hin­weg erzählte.

Es ist ei­ner der Rei­ze die­ses Buchs, daß wir die­se auch in der Ori­gi­nal­ver­si­on hö­ren, al­ler­dings sind sie oh­ne Zwei­fel mit ih­rer Haupt­fi­gur ge­al­tert. Die Ge­dan­ken­sprün­ge der fast Hun­dert­jäh­ri­gen sind groß und ge­wal­tig. Auch hier ver­ur­sacht das All­ein­sam, ver­schärft durch die Hin­fäl­lig­keit der Hoch­be­tag­ten, die Er­in­ne­rungs­bil­der, „ob­wohl nichts pas­siert den lie­ben, lan­gen Tag, wer­de ich nicht fer­tig mit dem Den­ken. Ich den­ke nicht chro­no­lo­gisch. Sonst wä­re es auch schreck­lich lang­wei­lig. Al­les pas­siert gleich­zei­tig in mei­nem Kopf. Was lan­ge vor­bei ist, was ges­tern war, was heu­te ist“. Der Ver­lust von Selbst­stän­dig­keit löst Scham in ihr aus und Trau­er. Doch sie macht das Bes­te dar­aus. Wäh­rend sie ge­duscht wird, schwei­fen ih­re Ge­dan­ken an den Gar­da­see, wo sie die Som­mer ver­brach­te, oft in Ge­sell­schaft von Adria­na. Der Ge­dan­ke an die Nich­te wie­der­um trägt sie zu ei­ner Sze­ne, in der sie die Vier­jäh­ri­ge badete.

Dass Jel­ka die Ga­be be­sitzt, vom Schwe­ren ins Schö­ne zu glei­ten, ist zum Vor­teil der Le­ser. Sie pro­fi­tie­ren von ih­ren An­ek­do­ten, ih­rer amü­san­ten Art des Er­zäh­lens. Vie­les hat sie er­lebt. Ih­re Nich­te Adria­na, die trotz Psych­ia­te­rin nicht aus dem Kum­mer fin­det, denkt an die dunk­len Din­ge im Le­ben der Tan­te, zwei Seu­chen, ei­nen Welt­krieg, die Sho­ah und das KZ. Doch Jel­ka er­in­nert sich lie­ber an die vie­len Ver­eh­rer, an treue Hun­de und teu­re Klei­der. Die un­schö­nen Sei­ten ih­res Le­bens, den Pro­vinz­mief des Dor­fes, die bies­ti­ge Schwie­ger­mut­ter und den lang­wei­li­gen Gi­or­gio ver­drängt sie, da­mals wie heu­te. „Alt­ro gi­ro, alt­ro re­ga­lo“ – neu­es Jahr, neu­es Glück, die­ses Mot­to sol­le auch Adria­na be­her­zi­gen, an­statt ei­nem Mann hin­ter­her zu trau­ern. Für je­de La­ge hat Jel­ka den pas­sen­den Spruch be­reit, ne­ben ganz kon­kre­ter Lie­bes­kum­mer­hil­fe mit Son­ne, See und Pas­ta. Selbst ein lan­ges Le­ben ist zu kurz, um ver­pass­te Chan­cen zu be­wei­nen. Der Tod naht. „Er sitzt ent­spannt auf der Bett­kan­te. Ab neun­und­neun­zig Jah­ren kann man sich auf sei­nen un­an­ge­mel­de­ten Be­such einstellen.“

Adria­na Al­ta­ras Ro­man, der sich nicht nur mit dem Tod und dem noch im­mer pro­ble­ma­ti­schen Ver­hält­nis zwi­schen Ju­den und Deut­schen aus­ein­an­der­setzt, er­zeugt wie ein gu­ter Wein ei­nen an­ge­neh­men Fluss. Er ist nicht zu schwer, hat ei­ne ele­gan­te Säu­re und kei­nes­falls zu viel Zu­cker. Mit Leich­tig­keit ver­mag er Erns­tes zu er­zäh­len, le­bens­wei­se und mit Witz und Ironie.

Adriana Altaras, Besser alleine als in schlechter Gesellschaft. Meine eigensinnige Tante. Kiepenheuer & Witsch 2023

Liebe und Schmerz

Itō Hiromi erzählt in „Dornauszieher“ von den ambivalenten Gefühlen eines alternden Ichs

Mut­ters Qual. Va­ters Qual. Ehe­manns Qual.
Ein­sam­keit, Angst, Frustration.
Die­se Qua­len be­fal­len mich zwar, aber neu­er­dings quä­len sie mich nicht wirk­lich. All die Qua­len, mit de­nen ich mich her­um­schla­ge, so wur­de mir klar, sind ja mein Stoff. Ich bin da­mit be­schäf­tigt, die­se Qua­len zu fi­xie­ren und von ih­nen zu er­zäh­len, und in­dem ich von ih­nen er­zäh­le, ver­ges­se ich die Qua­len, ist das nicht doch der Se­gen von Ji­zō, dem Dornauszieher?“

Dorn­aus­zie­her“, der Ti­tel des Ro­mans der Ja­pa­ne­rin Itō Hi­ro­mi, weckt bei mir die As­so­zia­ti­on zu ei­ner be­rühm­ten Skulp­tur der An­ti­ke. Mei­ne west­li­che, durch Vor­lie­ben ge­präg­te Ver­knüp­fung liegt der von Itō in­ten­dier­ten Fi­gur räum­lich wie my­tho­lo­gisch ziem­lich fern. Sie denkt an den im Un­ter­ti­tel ge­nann­ten Ji­zō von Su­ga­mo, ei­nen Gott, an den sich der Gläu­bi­ge wen­det, um ei­ne Pla­ge los­zu­wer­den. Ich den­ke an den Jüng­ling, der ei­nen Dorn aus sei­nem Fuß zieht. Bei­den ge­mein­sam ist der Schmerz, der zu­gleich als Haupt­mo­tiv des Ro­mans ge­se­hen wer­den kann.

Hi­ro­mi Itō oder bes­ser Itō Hi­ro­mi, ge­mäß der ja­pa­ni­schen Na­mens­fol­ge, wur­de 1955 in To­kyo ge­bo­ren. Eben­so wich­tig wie die kor­rek­te Stel­lung des Vor- und Nach­na­mens, die be­wusst für die Haupt­fi­gur des Ro­mans ge­tauscht wur­de, ist die Be­to­nung. Die west­li­che Ge­wohn­heit, die zwei­te Sil­be her­vor­zu­he­ben, bringt Hi­ro­mi be­son­ders auf die Pal­me, wenn ihr eng­li­scher Ehe­mann dies nicht be­herrscht. Die­se und an­de­re, schmerz­vol­le­re „Lie­be und Schmerz“ weiterlesen

Ein hinreißender Hurrikan

In John Grishams „Das Manuskript” ist die Schilderung des Hurrikans spannender als die eigentliche Story

Mit­ten im Sturm, als wä­re das Heu­len, Klap­pern und Knal­len nicht schon ge­nug, be­gann sich ein selt­sa­mer Rhyth­mus her­aus­zu­bil­den: zu­erst ein durch­drin­gen­des Brül­len, das im­mer lau­ter wur­de, dann zog un­ge­fähr im Mi­nu­ten­takt ein Wol­ken­band mit noch stär­ke­ren Wind­bö­en durch, als woll­te es da­vor war­nen, dass drau­ßen auf dem Meer und nicht weit da­hin­ter noch viel Schlim­me­res lauerte.“

Wie schon so oft, be­wegt sich in die­sen Ta­gen wie­der ein Tro­pen­sturm auf die Küs­te Flo­ri­das zu. Eta hat be­reits in Ni­ca­ra­gua, Hon­du­ras und Ku­ba ei­ne Spur der Ver­wüs­tung hin­ter­las­sen und zieht mo­men­tan in den Golf von Me­xi­ko. Dort wird er neue Kraft tan­ken und könn­te als Hur­ri­kan Kurs auf die Fest­land­küs­te Flo­ri­das mit ih­ren un­zäh­li­gen Keys nehmen.

In die­ser In­sel­grup­pe liegt auch Ca­mi­no Is­land, der fik­ti­ve Hand­lungs­ort von John Gris­hams neu­em Ro­man „Das Ma­nu­skript“. Das mon­dä­ne Strand­städt­chen San­ta Ro­sa mit der nicht min­der mon­dä­nen Buch­hand­lung „Bay Books“ ken­nen Gris­ham-Le­ser be­reits aus dem vor we­ni­gen Jah­ren er­schie­ne­nen Vor­gän­ger „Das Ori­gi­nal“. Der Be­sit­zer der Buch­hand­lung, Bruce Ca­ble, do­mi­niert als bi­blio­phi­ler Bon­vi­vant das Li­te­ra­tur­ge­sche­hen weit über das Ei­land hin­aus. Auch dies­mal „Ein hin­rei­ßen­der Hur­ri­kan“ weiterlesen

Von Verlust und Vertrauen

In „Dankbarkeiten“ erzählt Delphine de Vigan mit zärtlicher Zuneigung von Verlust und Freundschaft

Es dau­ert nicht mehr lan­ge bis zum En­de, das weißt du, Ma­rie. Ich mei­ne das En­de des Ver­stands, der ist dann futsch und al­le Wör­ter ver­flo­gen. Wann mit dem Kör­per Schluss ist, weiß man na­tür­lich nicht, aber es hat an­ge­fan­gen, mit dem Ver­stand zu En­de zu gehen.“

Wer je er­lebt hat, wie ein al­ter Mensch Ab­schied von sei­ner Woh­nung nimmt und in ein Heim ein­zieht, für den wird „Dank­bar­kei­ten“ von Del­phi­ne de Vi­gan ei­ne sehr be­we­gen­de Lek­tü­re sein. Vol­ler Em­pa­thie und den­noch mit kla­ren Wor­ten schil­dert die Au­torin, wie ih­re Prot­ago­nis­tin Misch­ka, ei­ne al­lein­le­ben­de, selbst­be­wuss­te Frau, ih­re Un­ab­hän­gig­keit ge­gen stän­dig prä­sen­te Un­ter­stüt­zung ein­tauscht. Ver­trau­te Be­glei­ter ih­res neu­en Le­bens sind Ma­rie und Jé­ro­me, die ne­ben Misch­ka die Er­zähl­stim­men des klei­nen Ro­mans bilden.

Die jun­ge Ma­rie fand als ver­nach­läs­sig­tes Kind Hil­fe und Für­sor­ge bei Misch­ka, ih­rer da­ma­li­gen Nach­ba­rin. Die Bin­dung der Bei­den blieb über die Jah­re be­stehen. So ist es auch Ma­rie, die in­for­miert wird, als Misch­ka hilf­los „Von Ver­lust und Ver­trau­en“ weiterlesen

Wenn wir krepieren, werden wir alle zu Kompost”

In „La pozza del Felice“ feiert Fabio Andina die Zufriedenheit am Ende des Lebens

Che poi, che la po­li­ti­ca l’è tut­ta una gran por­ca­da, e che il mon­do è in ma­no ai so­li­ti due o tre fa­ra­but­ti, ques­to lo san­no an­che i pe­sci di ques­to fi­ume, per con­to mio, ir­rom­pe il Fe­li­ce guar­dan­do l’aqua.” – Und au­ßer­dem, dass die Po­li­tik ei­ne ein­zi­ge Saue­rei ist und die Welt in den Hän­den der üb­li­chen zwei oder drei Schur­ken liegt, das wis­sen so­gar die Fi­sche in die­sem Fluss, wenn man mich fragt, un­ter­brach Fe­li­ce und blick­te aufs Wasser.

Je äl­ter wir wer­den, um­so mehr wird un­ser Le­ben von Ri­tua­len ge­prägt. Es meh­ren sich die im­mer­glei­chen We­ge, Be­geg­nun­gen und Hand­lun­gen, die den All­tag struk­tu­rie­ren. Im Val­le di Blenio, ein­ge­bet­tet in die Berg­zü­ge des Schwei­zer Tes­sin, sind es die Glo­cken der zahl­rei­chen Dorf­kir­chen, die Ori­en­tie­rung in Raum und Zeit bie­ten, auch den Be­woh­nern des klei­nen Or­tes Le­on­ti­ca. Dort ver­bringt Fa­bio An­di­na, der Au­tor von La poz­za del Fe­li­ce”, seit sei­ner Kind­heit die Fe­ri­en, ganz wie sein Erzähler.

An­di­na ist ver­traut mit dem Ort und der Na­tur, die er als Sze­ne­rie für sei­nen Ro­man über­nimmt. Sei­ne Fi­gu­ren je­doch hat er Wenn wir kre­pie­ren, wer­den wir al­le zu Kom­post”“ weiterlesen

Alte Freundinnen

Charlotte Wood konfrontiert in „Ein Wochenende“ drei Freundinnen mit sich selbst und ihrer in die Jahre gekommenen Freundschaft

So wür­den die Ta­ge oh­ne Syl­vie al­so sein, mit die­ser Di­stanz zwi­schen ih­nen, die sich aus­wei­te­te und ver­tief­te. Sie blieb ste­hen und be­ob­ach­te­te, wie der Ab­stand zu den bei­den an­de­ren im­mer grö­ßer wur­de. Auch sie gin­gen nicht ge­mein­sam. Bis jetzt hat­te sie nie dar­über nach­ge­dacht, dass sich das aus­ge­lei­er­te Gum­mi­band ih­rer Freund­schaft ei­nes Ta­ges auf­lö­sen könn­te. Es schien un­mög­lich. Aber et­was To­tes hat­te sich in ih­re Ge­füh­le für­ein­an­der ein­ge­schli­chen und schien sich auszudehnen.“

Die meis­ten Men­schen ha­ben ei­ne Hand­voll en­ger Freun­de, oft so­gar we­ni­ger. Al­les, was die Zahl drei über­steigt, so scheint es, sprengt den Rah­men. Oft er­wei­sen sich die un­ter­schied­li­chen Ei­gen­ar­ten, Vor­lie­ben, kurz die Per­sön­lich­kei­ten der Freun­de als Stör­fak­tor. Dies zeigt sich bei ge­mein­sa­men Un­ter­neh­mun­gen. Und was macht erst das Al­ter dar­aus? Die lan­gen Jah­re des Le­bens? Die zu­neh­men­de Starrköpfigkeit?

Von ei­ner der­ar­ti­gen Ge­menge­la­ge er­zählt der neue Ro­man der aus­tra­li­schen Au­torin Char­lot­te Wood. Mit sei­nen knapp 300 Sei­ten hat er die rich­ti­ge Län­ge, um sei­ne Le­se­rin­nen wie sei­ne Le­ser — auch wenn im Buch be­haup­tet wird, daß Män­ner kaum „Al­te Freun­din­nen“ weiterlesen

Rekonstruktion. (Herrlich) Unkorrekt

Julia Wolf lässt in ihrem Roman „Walter Nowak bleibt liegen“ das Hirn ihres Protagonisten erzählen

Den Riss in der De­cke woll­te ich längst, und nun lie­ge ich hier und kann mich nicht rüh­ren, ich hab’s nicht pro­biert. Ich lie­ge jetzt mal hier und rüh­re mich nicht, ich star­re ein­fach den Riss an.“

Der Ti­tel die­ses kur­zen, in­ten­si­ven Ro­mans ist Pro­gramm. Ein Mann an die 70 stürzt im Bad und bleibt lie­gen. Es ist we­ni­ger sein Al­ter, das ihn zu Fall bringt, son­dern ei­ne Ab­len­kung durch ei­ne Frau oder bes­ser Wal­ter No­waks Re­ak­ti­on auf die­se. Spä­ter wird er er­zäh­len, er ha­be sich beim Schwim­men ver­schätzt und sich den Kopf am Be­cken­rand gestoßen.

Ju­lia Wolf, die 2016 mit ei­nem Aus­schnitt aus ih­rem da­mals noch un­ver­öf­fent­lich­ten Ro­man den 3sat Preis beim Bach­mann-Wett­be­werb ge­wann, wur­de mit dem voll­ende­ten Werk ein Jahr spä­ter für den Deut­schen Buch­preis no­mi­niert. Ihr Er­zähl­stil wirkt er­fri­schend neu, auch wenn er be­rühm­ten Vor­gän­gern ver­haf­tet ist.

Die Au­torin führt den Le­ser mit­ten hin­ein in Wal­ter No­waks Hirn und lässt ihn an ei­nem Strom von Er­in­ne­run­gen und As­so­zia­tio­nen teil­ha­ben. Für die bio­gra­phi­sche Au­then­ti­zi­tät der Fi­gur gibt sie kei­ne Ga­ran­tie, sie un­ter­läuft sie mit den Träu­men und Phan­ta­sien ih­res Hel­den. Wal­ters bio­gra­phi­sches „Re­kon­struk­ti­on. (Herr­lich) Un­kor­rekt“ weiterlesen

Damnatio Memoriae

Bodo Kirchhoffs „Widerfahrnis“ — über Schuld und den Versuch der Erinnerung zu entfliehen

jpeg_1718_160429Wi­der­fahr­nis ist mein ers­tes Buch von Bo­do Kirch­hoff und ich weiß gar nicht so recht, war­um? Aber ich weiß nach der Lek­tü­re, daß es nicht mein letz­tes sein wird.

Ge­wählt ha­be ich Kirch­hoffs neu­es­tes Werk nicht, weil er da­mit den Deut­schen Buch­preis ge­won­nen hat, son­dern weil mir die Le­se­pro­be im zu­ge­hö­ri­gen Heft sehr gut ge­fiel. Zu­dem steht der Ti­tel in zwei Dis­kus­si­ons­run­den auf dem Pro­gramm. Die ei­ne fin­det vir­tu­ell bei Whatch­are­a­din statt, die an­de­re dem­nächst in un­se­rem Literaturkreis.

Auch im vor­lie­gen­den Buch taucht ei­ne sol­che Run­de auf. Leo­nie Palm, ei­ne der bei­den Haupt­fi­gu­ren, ist de­ren „trei­ben­de Kraft“. So be­zeich­net sie je­den­falls Ju­li­us Reit­her, an des­sen Tür Leo­nie ei­nes Abends klopft. Der 70jährige hat vor kur­zem sei­nen Ver­lag ge­schlos­sen und sich in ein no­bles Apart­ment in den Ber­gen zu­rück­ge­zo­gen. Hier lebt er in der Na­tur und in den Er­in­ne­run­gen, die er re­di­giert wie einst als Lek­tor neue Tex­te. Ein schmerz­haf­ter Pro­zess. Reit­her „Dam­na­tio Me­mo­riae“ weiterlesen

Der ganze Walser in einem Roman

Walser zeigt in Ein sterbender Mann viele Facetten seiner Literatur

U1_XXX.inddIch schrieb ehr­geiz­los. Ich schrieb, wie mir zu­mu­te war. Die Leu­te lesen’s gern. Im­mer noch. Li­te­ra­tur, Dich­tung, kei­ne Spur. Mich ver­steht jeder.“

Auf dem Vor­satz­blatt sei­nes neu­en Ro­mans dankt Mar­tin Wal­ser sei­ner Un­ter­stüt­ze­rin Thek­la Chab­bi. Ob man sie ken­nen muss, be­ant­wor­tet rasch ei­ne Su­che im In­ter­net. Sie of­fen­bart, daß sich bei­de 2014 auf ei­nem Kon­gress in Hei­del­berg ken­nen­lern­ten und wie es zur Ko­ope­ra­ti­on kam.

Ein ster­ben­der Mann“, so der Ti­tel des neu­es­ten Werks, wid­met Wal­ser dem Tod, auch und vor al­lem dem selbst­be­stimm­ten. Die­sem sieht sein Held, Theo Schadt, nicht we­gen sei­ner 72 läp­pi­schen Len­ze ‑wie man an­ge­sichts des 89-jäh­ri­gen Ver­fas­ser sa­gen darf- ent­ge­gen. Ein Ver­rat durch den bes­ten Freund zer­stör­te sei­ne Exis­tenz, die ge­schäft­li­che und die männ­li­che, wie er spä­ter ge­steht. „Ich kann nicht le­ben, wenn das, was mir pas­siert ist, mög­lich ist“, ent­schei­det Schadt. Dann sitzt er im Tan­go­la­den sei­ner Frau und re­cher­chiert zwi­schen Bo­le­ros und hoch­ha­cki­gen Schu­hen nach ef­fek­ti­ven Tö­tungs­tech­ni­ken. Hil­fe fin­det Theo Schadt in ei­nem Sui­zid­fo­rum. Von dem vir­tu­el­len Treff­punkt all’ de­rer, de­nen „nichts mehr grü­nen kann“ –hier klärt sich die Rol­le der zu Be­ginn Ge­nann­ten- er­fuhr Wal­ser durch Chab­bi. Mehr noch, im pri­va­ten Mail-Ver­kehr schlüpft sie in die Rol­le ei­ner Prot­ago­nis­tin und ant­wor­tet so dem Au­tor wie sei­ner Figur.

Wal­ser schiebt das Me­taka­rus­sell sei­nes Brief­ro­mans ge­hö­rig an. Schon im ers­ten „Der gan­ze Wal­ser in ei­nem Ro­man“ weiterlesen

Die Wirklichkeit ist nicht die Wahrheit“

Sándor Márai entfacht in „Die Glut“ ein grandioses Drama im Kopf

Die GlutJa, du hast wohl viel er­lebt. In der Welt drau­ßen. Da ver­gißt man rasch.“ „Nein“, sagt der an­de­re. „Die Welt ist nichts. Das Wich­ti­ge ver­gißt man nie. Das ha­be ich erst spä­ter ge­merkt. Als ich schon um ei­ni­ges äl­ter war.“

Auch Hen­rik, der 75jährige Prot­ago­nist in Sán­dor Má­rais Ro­man Die Glut kann das ein­schnei­den­de Er­eig­nis sei­nes Le­bens nicht ver­ges­sen. Es ba­siert auf ei­nem Ver­dacht, für den dem al­ten Ge­ne­ral aber je­der Be­weis fehlt. Lie­fern könn­te ihn der ein­zi­ge noch le­ben­de Zeu­ge, sein Freund Kon­rád, der sich nach sei­nem Ver­schwin­den vor 41 Jah­ren zu ei­nem Be­such an­kün­digt. In den ver­gan­ge­nen Jah­ren füg­ten sich Er­in­ne­run­gen und Phan­ta­sien zu ei­nem Dra­ma in Hen­riks Kopf, das Má­rai als psy­cho­lo­gi­sches Kam­mer­spiel in­sze­niert. 1942 er­schien der Ro­man in Un­garn, wur­de 1950 mit dem Ti­tel „Die Ker­zen bren­nen ab“ von Eu­gen Gör­cz ins Deut­sche über­tra­gen und 1999 in der Neu­über­set­zung von Chris­ti­na Vi­ragh vom Pi­per Ver­lag wie­der­ent­deckt und be­rühmt. Ein Jahr­zehnt zu­vor hat­te Sán­dor Má­rai den Frei­tod ge­wählt. Ein Welt­bür­ger, den es nach Deutsch­land, Pa­ris, Ita­li­en und den USA führ­te und der doch im­mer ein Un­gar blieb. „Die Glut“ spielt in der Ver­gan­gen­heit sei­nes Hei­mat­lan­des, im ös­ter­rei­chisch-un­ga­ri­schen Glanz der Jahr­hun­dert­wen­de und dem we­nig glanz­vol­len gro­ßen Krieg. Doch die­se po­li­ti­schen Er­eig­nis­se sind Mar­gi­na­li­en in ei­nem Werk, in dem ein 75jähriger Mann die Fra­gen sei­nes Le­bens stellt.

Mit die­sen kon­fron­tiert er sei­nem Gast, den gleich­alt­ri­gen Kon­rád. Der hat­te die Freund­schaft jäh ver­ra­ten, als er vor 41 Jah­ren oh­ne Er­klä­rung die Ge­gend ver­ließ. Es war im Ju­li 1899 als das Un­ge­heu­re Die Wirk­lich­keit ist nicht die Wahr­heit““ weiterlesen