Puzzle-Appassionato

Wackelkontakt Wolf Haas‘ meisterhafte Mise en abyme

Ist ja ir­re, die hal­be Kunst­ge­schich­te als Puz­zle. Wer stellt so was her? Das ist ja echt ein biss­chen – ich pack das ir­gend­wie nicht.“ „Such dir ei­nes aus“, sag­te Escher groß­mü­tig und öff­ne­te ge­dan­ken­ver­lo­ren die Tor­ten­schach­tel, ob­wohl er das Süß­zeug doch auf spä­ter ver­schie­ben woll­te. „Aber nimm lie­ber ei­nes von de­nen da un­ten. Da sind die mit fünf­hun­dert Tei­len. Das kön­nen wir auf dem Tisch ma­chen. Dann müs­sen wir nicht auf dem Bo­den her­um­krie­chen.“ „Das hat schon was, oder?“, lach­te Nel­lie Wie­sel­bur­ger kin­disch. „Soll ich dir viel­leicht mei­ne Puz­zle­samm­lung zei­gen? Das ist wie mit der Brief­mar­ken­samm­lung, oder?“

Muss man noch et­was zu Wolf Haas‘ Wa­ckel­kon­takt sa­gen, ei­nem Buch, das be­reits sämt­li­che Bes­ten- und Best­sel­ler­lis­ten er­klom­men hat und für Buch­prei­se no­mi­niert ist? Un­be­dingt, denn die­ses Auf­ein­an­der­tref­fen ei­nes Trau­er­red­ners und ei­nes Ex-Ma­fio­so ist ein gro­ßer Spaß. Das gilt für die Hand­lung, die aber­wit­zi­ge Vol­ten schlägt, für die nicht min­der aber­wit­zi­ge Haas’sche Sprach­akro­ba­tik und be­son­ders für die Kon­struk­ti­on des Ro­mans. Die­ser nimmt durch den Na­men ei­nes sei­ner Prot­ago­nis­ten Be­zug auf den Künst­ler M. C. Escher und des­sen un­mög­li­che Wirk­lich­kei­ten. Die Re­pro­duk­tio­nen sei­ner gra­fi­schen Bild­wer­ke, bei­spiels­wei­se der als Per­pe­tu­um Mo­bi­le ver­lau­fen­de Was­ser­fall oder die sich ge­gen­sei­tig zeich­nen­den Hän­de zier­ten in den 1980er Jah­ren des letz­ten Jahr­hun­derts zahl­rei­che Zim­mer­wän­de. Zu die­ser Zeit er­hält auch Haas‘ Held Franz Escher zum Ge­burts­tag „ein Puz­zle des be­rühm­ten Täu­schungs­künst­lers“, die Dra­wing Hands.

Und so wie M. C. Escher in der 1948 ent­stan­de­nen Gra­fik ei­ne Hand die an­de­re zeich­nen lässt, kon­stru­iert Wolf Haas ei­ne Ge­schich­te mit ei­ner an­de­ren, in­dem er sei­ne Fi­gu­ren das je­weils an­de­re Buch le­sen lässt. An­fangs gönnt Haas sei­nen Le­sern zwi­schen den Per­spek­tiv­wech­seln län­ge­re Ab­schnit­te, um sich an die Hand­lun­gen zu ge­wöh­nen. Doch die Ra­sanz des Ro­mans nimmt zu, je län­ger man liest, was ge­nau wie beim Be­trach­ten von Eschers Pa­ra­do­xien ein ir­ri­tiert reiz­vol­les Ver­gnü­gen auslöst.

Fol­gen wir den Hel­den des Ro­mans, Franz Escher, dem pas­sio­nier­ten Puz­zler und pro­fes­sio­nel­len Trau­er­red­ner, des­sen Ge­schick sich durch Un­ge­schick mit dem von Elio Rus­so ver­knüpft, ei­nem fin­di­gen Tüft­ler, vor­mals in Diens­ten der Ma­fia und seit sei­ner Aus­sa­ge ge­gen die­se als Kron­zeu­ge auf dem Weg in die Se­rio­si­tät. Dies be­schert ihm nicht nur ei­ne neue Iden­ti­tät und ein neu­es Ge­sicht, son­dern auch ei­ne neue Spra­che. Der Weg zu die­ser ist min­des­tens so be­schwer­lich, wie der zwi­schen Si­zi­li­en und Duis­burg lang ist, selbst wenn er in Pa­ler­mo von sei­nem Zel­len­ge­nos­sen Sven ers­te Wor­te im Dro­gen­dea­ler-Deutsch ge­lernt hat­te. Dass die­ses bei der Iden­ti­täts­ver­tu­schung hin­dert, wird klar, als Elio sei­ne Kennt­nis­se bei der Sprach­leh­re­rin Schna­bel kon­kre­ti­siert: „Ich kann ver­ste­hen. Ich kann le­sen. Aber quat­schen issnich“.

Von dem in Si­zi­li­en ein­sit­zen­den Sven hat­te Elio auch ein deut­sches Buch er­hal­ten, des­sen In­halt er im Lauf sei­nes Ler­nens im­mer bes­ser ver­ste­hen wird, und das im Wech­sel mit dem Ma­fia­buch Eschers die Kon­struk­ti­on von „Wa­ckel­kon­takt“ be­stimmt. Die Le­se­rin folgt al­ter­nie­rend mal die­sem mal je­nem Er­zähl­fa­den, off – on, wie die bei­den Tei­le des Ro­mans ge­ti­telt sind, wie ein hin und her fla­ckern­der Wa­ckel­kon­takt, der die gan­ze Ge­schich­te auslöst.

Die Über­gän­ge ge­stal­ten sich un­spek­ta­ku­lär. Die Le­ser Escher und Elio, so­wie die nach­fol­gen­den, grei­fen aus Lan­ge­wei­le zur Lek­tü­re, um sich zu be­ru­hi­gen oder wäh­rend sie war­ten, sel­ten aus Schlaf­lo­sig­keit. So ent­steht ein Ro­man aus zwei Ge­schich­ten, die, was erst im Ver­lauf er­sicht­lich wird, von sich selbst er­zäh­len. Ein Kunst­werk im Kunst­werk, wie bei M. C. Eschers Dra­wing Hands, das zu Be­ginn der Ge­schich­te Franz Eschers Puz­zle-Pas­si­on be­grün­det. Es tau­chen, dies nur ne­ben­bei be­merkt, vie­le wei­te­re ver­puz­zel­te Kunst­wer­ke auf, dar­un­ter ein be­son­ders wert­vol­les, und man­ches, an de­nen der Au­tor durch den Kopf sei­nes Hel­den kein gu­tes Haar lässt.

Am meis­ten Spaß bie­tet die Spra­che, die Haupt­at­trak­ti­on auch in die­sem Haas-Ro­man. Ge­nuss­voll ze­le­briert er sie in den Be­mü­hun­gen des Si­zi­lia­ners beim Er­ler­nen des Deut­schen, wenn dem Gleich­klang der Wor­te, der Miss­klang ge­gen­über­steht, wenn Elio über die un­ter­schied­li­chen Be­deu­tun­gen ei­nes Wor­tes nach­denkt oder über die Zeit­form der „Vor­zu­kunft“. Die sei, laut sei­ner Leh­re­rin, zu ver­nach­läs­si­gen. Da soll­te sie mal „Wa­ckel­kon­takt“ le­sen! Denn in die­sem Ro­man wird sie spä­tes­tens dann re­le­vant, wenn es Escher „wie ein kal­ter Wind durch sein Ge­hör zog“. „Er woll­te wis­sen, wie der Dreck wei­ter ging“, sein ei­ge­nes Schick­sal, die Vor­zu­kunft sozusagen.

Ein we­nig ge­spoi­lert ha­be ich jetzt schon, doch kei­ne Ban­ge. Der mit viel Span­nung ge­la­de­ne „Wa­ckel­kon­takt“ lässt auch bei wie­der­hol­tem Aus­lö­sen Fun­ken sprühen.

Wer, an­ders als die Re­zen­sen­tin, Puz­zeln nicht als ver­nach­läs­si­gungs­wür­di­gen Zeit­ver­treib an­sieht, fin­det bei Han­ser ein au­ßer­ge­wöhn­li­ches Mo­tiv.

Wolf Haas, Wackelkontakt, Hanser Verlag 2025

Wirkmächtige Schatten

Mit „Unmöglicher Abschied“ errichtet Han Kang den Opfern ein Mahnmal zwischen Traum und Realität

Es schnei­te stark. Ich stand auf ei­nem Acker, an des­sen ei­nem En­de sich ein nied­ri­ger Berg an­schloss. Auf die­ser Sei­te war er vom Fuß bis zur Kup­pe mit Tau­sen­den von schwar­zen Baum­stäm­men be­stan­den, die et­wa so dick wie Ei­sen­bahn­schwel­len und ver­schie­den hoch wa­ren, wie Men­schen un­ter­schied­li­chen Al­ters. Zu­gleich wa­ren sie nicht ker­zen­ge­ra­de ge­wach­sen, son­dern leicht ge­bo­gen oder ge­neigt und wirk­ten, als hät­te man am Hang Tau­sen­de von Män­nern, Frau­en und ma­ge­ren Kin­dern im Schnee aus­ge­setzt, die die Schul­tern hoch­zo­gen. Ist das hier ein Fried­hof?, fra­ge ich mich.“

Den Li­te­ra­tur-No­bel­preis des ver­gan­ge­nen Jah­res er­hielt Han Kang, de­ren Ro­ma­ne in ih­rer Hei­mat Süd­ko­rea sehr er­folg­reich sind und die mit „Die Ve­ge­ta­rie­rin“ welt­weit Fu­ro­re mach­te. Die 1970 ge­bo­re­ne Schrift­stel­le­rin stu­dier­te Ko­rea­ni­sche Li­te­ra­tur und un­ter­rich­te­te Krea­ti­ves Schrei­ben. Sie de­bü­tier­te mit Ge­dich­ten und ver­fass­te meh­re­re Ro­ma­ne. Der No­bel­prei­ses „für ih­re in­ten­si­ve Pro­sa, die sich his­to­ri­schen Trau­ma­ta stellt und die Zer­brech­lich­keit des mensch­li­chen Le­bens auf­zeigt“, schenk­te al­ler­dings nicht nur der Au­torin selbst Auf­merk­sam­keit. Er lenk­te den Blick auf die his­to­ri­sche Ver­gan­gen­heit Süd­ko­re­as, die eu­ro­päi­schen Le­sern weit­ge­hend un­be­kannt sein dürfte.

Es ist vor al­lem die Ge­walt­ge­schich­te des Lan­des, die Han Kang im­mer wie­der in ih­re Wer­ke ein­flie­ßen lässt. So auch in ih­rem jüngst auf Deutsch ver­öf­fent­lich­ten Ro­man „Un­mög­li­cher Ab­schied“. In Süd­ko­rea er­schien er be­reits 2021, sein ins Eng­li­sche tran­skri­bier­ter Ti­tel lau­tet „We do not part“„Wir tren­nen uns nicht“.

Kei­ne Tren­nung, kein Ver­ab­schie­den, kein Ver­ges­sen! Das gilt auch für die Op­fer des 1948 auf der In­sel Je­ju durch­ge­führ­ten Mas­sa­kers. Gan­ze Dör­fer wur­den vom Mi­li­tär­re­gime Ko­re­as un­ter ja­pa­ni­schem Mit­wir­ken und us-ame­ri­ka­ni­scher Dul­dung zer­stört, 30000 Men­schen hin­ge­rich­tet. Die­sen „Wirk­mäch­ti­ge Schat­ten“ weiterlesen

Abhängige Verhältnisse

Clare Chambers erzählt in „Scheue Wesen“ von der Macht der Erwachsenen und der Ohnmacht von Kindern

In ALLEN GESCHEITERTEN BEZIEHUNGEN (sic!) gibt es ei­nen zu­nächst noch un­be­merk­ten Punkt, in dem man spä­ter je­doch den An­fang vom En­de er­kennt. Für He­len war es das Wo­chen­en­de, an dem der Ver­steck­te Mann nach West­bu­ry Park kam.“

 Die­ser ers­te Satz in ge­ra­de­zu tol­stoi­schem Ton be­nennt die Haupt­the­men von Cla­re Cham­bers neu­em Ro­man „Scheue We­sen“. Es sind pro­ble­ma­ti­sche Be­zie­hun­gen, ge­prägt von Ab­hän­gig­kei­ten, und ei­ne kas­par-hau­ser-ar­ti­ge Fi­gur, de­ren at­tri­bu­ier­te Rät­sel­haf­tig­keit das In­ter­es­se der Le­se­rin weckt. Die Ver­lags­an­kün­di­gung, es han­de­le sich „um ei­ne Lie­bes­ge­schich­te aus dem Lon­don der Sech­zi­ger“, greift viel zu kurz und wird der Kom­ple­xi­tät des Ro­mans nicht ge­recht. Um so prä­zi­ser er­scheint mir der dem eng­li­schen Ori­gi­nal ent­spre­chen­de Ti­tel „Scheue We­sen“. Er klingt ge­heim­nis­voll und greift da­durch sein wich­tigs­tes Ge­stal­tungs­ele­ment auf.

Die eng­li­sche Au­torin Cla­re Cham­bers lehr­te Eng­li­sche Li­te­ra­tur in Ox­ford und war als Lek­to­rin tä­tig. Ihr vor­lie­gen­der zwei­ter Ro­man be­ein­druckt durch die klu­ge Kon­struk­ti­on ei­ner un­ge­wöhn­li­chen Ge­schich­te. Eben­so wie in Cham­bers Erst­ling „Klei­ne Freu­den“ be­geg­nen wir ei­ner be­son­de­ren Frauenfigur.

He­lens Hans­ford ar­bei­tet noch nicht lan­ge als Kunst­the­ra­peu­tin in der psych­ia­tri­schen Kli­nik West­bu­ry Park. Ge­gen den Wunsch ih­rer El­tern hat sie ih­ren Leh­rer­be­ruf auf­ge­ge­ben, be­gibt sich je­doch in ei­ne neue Ab­hän­gig­keit, „Ab­hän­gi­ge Ver­hält­nis­se“ weiterlesen

Willkommen im Auenland“

Markus Thielemann erzählt in „Von Norden rollt ein Donner” auf spannende Weise über die Ambivalenz eines vermeintlichen Idylls

Un­ten drän­gen sich die Tie­re an­ein­an­der. He­ra und Kasch, die bei­den Hüte­hun­de, um­krei­sen den Pulk. Jan­nes blickt hin­un­ter, die Be­we­gun­gen er­in­nern ihn an Bil­der aus ei­ner Do­ku­men­ta­ti­on über den Welt­raum. Wie Mon­de oder Pla­ne­ten krei­sen sie um die Her­de, das Zen­trum des Alls. Und dann schweift er ab: er hat sei­nen ei­ge­nen dunk­len Wan­de­rer, ei­nen Ge­dan­ken, der seit Ta­gen kommt und geht auf el­lip­ti­scher Bahn, des­sen Gra­vi­ta­ti­on drückt und lähmt, bis ihn die Flieh­kraft ein­mal mehr zu­rück in die Nacht schleu­dert: Pa­pa geht zum Arzt.“

Die Welt, in der Jan­nes kreist, ist ei­ne be­grenz­te. Es ist die Hei­de süd­lich von Lü­ne­burg, in der er mit den Schnu­cken des Fa­mi­li­en­be­triebs um­her­zieht. Fa­mi­lie und Tra­di­ti­on ma­chen ihn zum Schä­fer in die­ser ver­meint­lich idyl­li­schen Land­schaft. Ei­ne Su­che nach der ei­ge­nen Iden­ti­tät, wie sie sei­ne Al­ters­ge­nos­sen un­ter­neh­men, ist un­ter die­sen Um­stän­den nicht nur nicht nö­tig, son­dern un­mög­lich. Das Le­ben scheint vor­ge­zeich­net für den 19-jäh­ri­gen Prot­ago­nis­ten in „Von Nor­den rollt ein Don­ner“, dem zwei­ten und für den dies­jäh­ri­gen Deut­schen Buch­preis no­mi­nier­ten Ro­man des jun­gen Au­tors Mar­kus Thie­le­mann.

Auch wenn der Ti­tel, wie die ört­li­chen Ge­ge­ben­hei­ten und der Ver­lauf der Ge­schich­te zei­gen, in dop­pel­ter Wei­se deut­bar ist, er­zeugt er zu­nächst ei­nen star­ken Be­zug zur Na­tur. Die Na­tur be­stimmt den Be­ruf des Schä­fers, in­dem sie mit Wet­ter und Jah­res­zei­ten den Rhyth­mus dik­tiert. Jan­nes und sei­ne Her­de sind ab­hän­gig von der Flo­ra, dem Ge­dei­hen der Fut­ter­pflan­zen, wie von der Fau­na, die sich im Wohl der Schnu­cken und im Ge­schick der Hüte­hun­de of­fen­bart und mit dem Wolf de­ren Ha­bi­tat be­droht. Jan­nes ist ihm schon Will­kom­men im Au­en­land““ weiterlesen

Zurück zu Mutter Natur

In „Man kann auch in die Höhe fallen“ erzählt Joachim Meyerhoff von der magischen Macht seiner Mutter

Was für ein Spek­ta­kel, dach­te ich, Milch, Blut, Re­gen, Don­ner, Pla­zen­ta und Blit­ze, Mut­ter­glück, neu­es Le­ben und ein nas­ser Mann Mit­te fünfzig.“

Die­ser Satz, der ge­gen En­de von Joa­chim Mey­er­hoffs neu­em Ro­man fällt, kom­pri­miert den In­halt auf wun­der­ba­re Wei­se. Als Prot­ago­nis­ten tau­chen ein Mann Mit­te fünf­zig und sei­ne Mut­ter eben­so auf wie das Thea­ter, des­sen Spek­ta­kel Mey­er­hoff als An­ek­do­ten voll Blitz und Don­ner in­sze­niert, um mit Milch, Blut und Pla­zen­ta, ei­ne be­son­de­re le­bens­lan­ge Ver­bin­dung zu fei­ern. Sie gilt in „Man kann auch in die Hö­he fal­len“, dem sechs­ten Teil der Fa­mi­li­en­ro­man-Rei­he „Al­le To­ten flie­gen hoch“ in be­son­de­rem Ma­ße Mey­er­hoffs Mut­ter wie sei­ner ei­ge­nen Rol­le als Sohn und als Vater.

Mit sei­nen Be­ru­fen, viel­leicht soll­te man bes­ser von Be­ru­fun­gen spre­chen, ha­dert er al­ler­dings eben­so wie mit der deut­schen Haupt­stadt, die nach den Jah­ren in Wien zum neu­en Wohn­ort wur­de. Er möch­te weg von Ber­lin und von sei­nem Busi­ness. Sei­ne Schau­spie­le­rei stellt er eben­so in Fra­ge wie das Schrei­ben, das ihm mit sei­nen au­to­bio­gra­phi­schen Ro­ma­nen bis­lang stets Er­fol­ge be­schert hat. Al­les zerrt an ihm. Er fühlt sich gleich­zei­tig ge­stresst und gelähmt.

Oh­ne wirk­lich zu be­grei­fen, wie es da­zu ge­kom­men war, war ich zu ei­nem Ner­ven­bün­del ge­wor­den, des­sen Un­aus­ge­gli­chen­heit für die mir na­he­ste­hen­den Men­schen mehr und mehr zur Zu­mu­tung wur­de. (…) Angst und Lan­ge­wei­le ver­tru­gen sich ganz aus­ge­zeich­net. Nie hät­te ich es für mög­lich ge­hal­ten, dass man wo­chen­lang auf der fau­len Haut lie­gen und der­art ent­spannt vor sich hin im­plo­die­ren konn­te. Die auf dem So­fa ver­brach­ten Stun­den nah­men bi­zar­re For­men an, und oft wuss­te ich nicht mehr, wo ich auf­hör­te und die Couch be­gann. Wie ein ge­schmol­ze­ner Kä­se war ich in je­de Rit­ze des So­fas hin­ein­ge­flos­sen, hat­te das Sitz­mö­bel mit mir selbst über­ba­cken. Und doch woll­te ich mei­ne Ver­stimmt­heit nicht De­pres­si­on nen­nen oder gar Mid­life­cri­sis, denn es wa­ren ja hand­fes­te Pro­ble­me, die ich hat­te. Seit Wo­chen hat­te ich nichts ge­schrie­ben, und das, ob­wohl sich in mei­nem Kopf die Ge­schich­ten tum­mel­ten. Ber­lin al­ler­dings ent­pupp­te sich als Säu­re­bad, das tag­täg­lich mei­ne In­spi­ra­ti­on zerfraß.“

Viel­leicht ver­mag ei­ne Flucht den Kno­ten lö­sen? Der Er­zäh­ler ent­schei­det sich für nichts Ge­rin­ge­res als die Welt­flucht, die ihn aus der „Zu­rück zu Mut­ter Na­tur“ weiterlesen

Die „schwer erträgliche Leichtigkeit des Cancelns“

In „Der Entmündigte Leser“ führt Melanie Möller einen „leidenschaftlichen Kampf für die Autonomie der Literatur“

Sie ver­ge­hen sich an Kunst und Li­te­ra­tur, und sie wol­len (Literatur)Geschichte um­schrei­ben, in­dem sie sie mo­ra­lisch be­rei­ni­gen, mö­gen die Grün­de für ihr Vor­ge­hen auch mit der Zeit wechseln.“

Ab der Mit­te des 18. Jahr­hun­derts wur­de es in Mu­se­en mo­dern, Stau­en der klas­si­schen An­ti­ke mit Blät­tern zu ver­se­hen, auf daß sie der­art be­klei­det den Blick der Be­trach­ter sitt­sam er­freu­en. Ein Blatt aus Blech, Gips oder Pap­pe ver­hüll­te die Scham ei­nes Apolls oder ei­ner Aphro­di­te, falls die­se es als Ve­nus pu­di­ca nicht gleich selbst be­sorg­te. Zwi­schen den ge­spreiz­ten Bei­nen des da­hin­ge­fläz­ten Bar­ber­ini­schen Fauns brauch­te es so­gar ein mehr­blätt­ri­ges Kon­strukt, String­tan­ga gleich am mar­mor­nen Glu­teus Ma­xi­mus ver­drah­tet. Die al­ten Grie­chen hät­ten sich mehr als ge­wun­dert. Sie dach­ten an An­be­tung und Äs­the­tik, Re­prä­sen­ta­ti­on und Krea­ti­vi­tät. Un­zucht, wie die christ­li­chen Be­trach­ter der nach­fol­gen­den Jahr­hun­der­te die „Die „schwer er­träg­li­che Leich­tig­keit des Can­celns““ weiterlesen

Gerade noch!

Claire Keegan erzählt in „Reichlich spät“ von einem Geizhals mit rigiden Ansichten

Das war ein Teil des Pro­blems: dass sie nicht hö­ren und gut die Hälf­te der Din­ge auf ih­re Wei­se tun wollte.“

Clai­re Kee­gans Er­zäh­lung „Reich­lich spät“ mag mit ih­ren 64 Sei­ten für ei­ne Mo­no­gra­phie et­was knapp be­mes­sen sein, li­te­ra­risch und emo­tio­nal hin­ge­gen ist sie be­ein­dru­ckend. Ganz und gar nicht pa­the­tisch, eher la­ko­nisch und mit hoch­psy­cho­lo­gi­scher Tie­fe er­zählt Kee­gan die Ge­schich­te ei­ner Be­zie­hung. Die Hand­lung spielt an ei­nem Som­mer­tag in Dub­lin, so­gar das Da­tum wird ge­nannt, der 29. Ju­li. War­um, of­fen­bart erst das Ende.

Der per­so­na­le Er­zäh­ler gibt die Sicht ei­nes Man­nes wie­der, Ca­thel, den wir im ers­ten der vier Ka­pi­tel als ver­drucks­ten und schlecht ge­klei­de­ten Bü­ro­an­ge­stell­ten ken­nen­ler­nen. Drau­ßen, so sein Blick aus dem Fens­ter, ge­nie­ßen die Men­schen den Som­mer. Doch Ca­thel be­arg­wöhnt die Freu­de der an­de­ren eben­so wie den blau­en Him­mel. Er nei­det den Kol­le­gen ih­ren gu­ten Ge­schmack für Gar­de­ro­be und hasst sich selbst we­gen ei­nes klei­nen Miss­ge­schicks am Com­pu­ter. Al­les Schö­ne scheint ihm fern. Ca­thel lei­det an ei­nem Ver­lust. „So vie­les im Le­ben ver­lief rei­bungs­los un­ge­ach­tet des Ge­wirrs mensch­li­cher Ent­täu­schung und des Wis­sens, das al­les ein­mal en­den muss.“ 

Wie es da­zu kam, er­zäh­len die bei­den fol­gen­den Ka­pi­tel in der Rück­schau. Auch die­se folgt aus­schließ­lich durch Ca­thel, dem männ­li­chen Part des Paa­res. Sa­bi­ne se­hen wir eben­falls nur durch sei­nen Blick, der je­doch, dank Kee­gans Kunst, so­viel mehr of­fen­bart, als der Prot­ago­nist sich „Ge­ra­de noch!“ weiterlesen

Io sono una forza del passato”

In „Sinkende Sterne“ schreibt Thomas Hettche gegen das an, „was die puritanische Welt der Angst, die gerade entsteht, mit ihren Vorstellungen von Schuld und Reinheit zum Verschwinden bringen will“

»Wenn wir le­sen, Dschamīl«, sag­te ich lei­se, »ist das so, als ob wir je­man­den an­sä­hen. Wir schau­en ei­nem Frem­den ins Ge­sicht. Und Fremd­heit ist fast das Wich­tigs­te an Li­te­ra­tur. Mo­ral hat da­bei nichts ver­lo­ren, gar nichts.«

Wer sich wie ich über die um sich grei­fen­de Bü­cher-Be­rei­ni­gung är­gert und die­se Ein­grif­fe als gleich­sam ahis­to­risch wie ali­te­ra­risch emp­fin­det, wird „Sin­ken­de Ster­ne“, den neu­en Ro­man von Tho­mas Hett­che, als Plä­doy­er für die Frei­heit der Kunst le­sen. Als Zeu­gen ruft Hett­che die be­rühm­tes­ten Ver­tre­ter der Welt­li­te­ra­tur auf und schafft durch ge­schickt ge­knüpf­te Er­zähl­fä­den ein ge­lehr­tes und gut zu le­sen­des Buch.

Zu­nächst kommt die­ses als Dys­to­pie da­her, wel­che ei­ne durch Kli­ma­wan­del aus­ge­lös­te Na­tur­ge­walt be­schreibt, die mich an Sze­nen von Fer­di­nand Ra­muz er­in­nert. Auch Hett­ches Ro­man spielt in den Schwei­zer Ber­gen. Ein un­ge­heu­rer Berg­sturz hat die Rho­ne ge­staut, die Dör­fer im Tal ver­san­ken in ih­rem Was­ser, im Ober­wal­lis le­ben die Men­schen seit­dem in ei­ner ab­ge­schot­te­ten Welt.

Seit der Lötsch­berg­tun­nel ge­flu­tet ist und der Weg tal­ab­wärts ver­sperrt, ist es fast wie­der wie frü­her (…) Zwölf Päs­se füh­ren aus dem Ober­wal­lis hin­aus, Nufe­nen, Gries, Al­b­run, Rit­ter, Sim­plon, An­tro­na, Mon­te Mo­ro und Theo­dul nach Sü­den, nach Nor­den Grims­el, Lötschen und Gem­mi und nach Os­ten die Fur­ka. Doch fast sechs Mo­na­te im Jahr sind al­le ver­schneit, und das Tal ist verschlossen.“

In die­ses kommt der deut­sche Er­zäh­ler nicht als Ein­dring­ling, son­dern auf An­ord­nung. Ein Fe­ri­en­cha­let, ober­halb von Leuk ge­le­gen, das letz­te Do­mi­zil sei­nes Va­ters, ist nach des­sen Tod in sei­nem Be­sitz. Da die neu ent­stan­de­ne Ge­mein­schaft Iso­la­ti­on als Ide­al be­trach­tet, be­steht Io so­no una for­za del pas­sa­to”“ weiterlesen

Eros und Thanatos

Über den Wald als Ort des Werdens und Vergehens schreibt Anaïs Barbeau-Lavalette in „Sie und der Wald“

Ich las­se mich vom Wald auf­sau­gen. Spü­re, dass ich zu die­sem Bo­den da­zu­ge­hö­ren kann. Zu der Flä­che zwi­schen zwei Bä­chen, der Bie­gung hin­ter dem Fel­sen, der aus­sieht wie ein Ge­sicht, zu dem Erd­pfad, der sich zum Gip­fel schlän­gelt. Ich wer­de für al­les durch­läs­sig, das sich be­wegt, das bebt. Aber nicht mein Kopf in­ter­es­siert sich da­für, son­dern mein Blut. Der feuch­te, süß­li­che Duft der Bal­sam­tan­ne, der er­di­ge, in­ten­si­ve Ge­ruch der Ei­chen. Der per­fekt phra­sier­te Tanz des Perl­farns, der sei­nem Na­men – Ono­clea sen­si­bi­lis – al­le Eh­re macht, wenn er mit sei­nen fi­li­gra­nen Zwei­gen in ei­ner Wel­le von oben nach un­ten so ele­gant mit der Reg­lo­sig­keit bricht. Al­les ist gleich­zei­tig hauch­zart und üp­pig. Ich las­se mich ver­schlu­cken. Kei­ne Haut mehr zwi­schen mir und den Bäu­men. Ich set­ze mich auf ei­nen to­ten Baum, den das Un­wet­ter aus der Er­de ge­ris­sen hat. Die Ber­ge sind zer­furcht von die­sen ge­wal­ti­gen Nar­ben, wie lau­ter mo­nu­men­ta­le Knie­fäl­le vor dem lei­sen Wü­ten der jüngs­ten Zeit. Ein Wald oh­ne ge­ra­de We­ge ist ein glück­li­cher Wald. Er ge­deiht präch­tig, wenn man im Zick­zack zwi­schen den Bäu­men und to­ten Stümp­fen lau­fen muss, in de­nen neu­es Le­ben ge­deiht. Sa­la­man­dern und un­zäh­li­gen In­sek­ten bie­ten sie Un­ter­schlupf und Nah­rung. Ein to­ter Baum trägt ge­nau­so zum Lauf des Le­bens bei wie ein lebendiger.“

Wer mein Blog ver­folgt, weiß, daß ich sehr ger­ne Bü­cher über Men­schen le­se, die sich der Na­tur aus­set­zen. Sie dient dem Rück­zug, wie bei Ho­ward Axel­rod und Do­ris Knecht oder ei­nem Ex­pe­ri­ment, wie es Jür­gen Kö­nig auf ei­ner Hoch­alm un­ter­nahm. Manch­mal liegt in ihr der ein­zi­ge Ort zum Über­le­ben, wie in Er­win Uhr­manns span­nen­der Dys­to­pie „Ich bin die Zu­kunft“.

Ei­ne sol­che ret­ten­de Zu­flucht bie­tet die Na­tur der in Mon­tré­al ge­bo­re­nen Film­re­gis­seu­rin, Dreh­buch­au­to­rin und Schrift­stel­le­rin Anaïs Bar­beau-La­va­let­te. Zu Be­ginn der Co­ro­na-Epi­de­mie zieht sie in die ka­na­di­schen Wäl­der. Dort steht das Blaue Haus, wo sie ge­mein­sam mit ih­rem Mann, ei­nem Freun­des­paar und fünf Kin­dern die Zeit der Iso­la­ti­on über­ste­hen will. Nicht weit ent­fernt, aber doch weit ge­nug in Zei­ten des Ab­stands, ist Bar­beau-La­va­let­te im Ro­ten Haus auf­ge­wach­sen, wo ih­re El­tern nach wie vor le­ben. „Sie und der Wald“ er­zählt folg­lich von ei­ner au­then­ti­schen Be­ge­ben­heit. Wer je­doch denkt, es han­de­le sich um ei­nen Be­richt über die Her­aus­for­de­run­gen, die Zi­vi­li­sa­ti­ons­fer­ne „Eros und Tha­na­tos“ weiterlesen

Die Unregelmässigkeit des Herzens

Bodo Kirchhoff erforscht in „Seit er sein Leben mit einem Tier teilt”  Herzen zwischen Unabhängigkeit und Vertrauen

Nur weil wir je­man­den lie­ben, ist der uns nicht das ei­ge­ne Glück schuldig.“

 Das trü­be Wet­ter zu Jah­res­be­ginn ist nur ein Grund zum neu­en Ro­man von Bo­do Kirch­hoff zu grei­fen. Die­ser trägt zwar den sper­ri­gen Ti­tel „Seit er sein Le­ben mit ei­nem Tier teilt“, lässt sich aber um­so ge­schmei­di­ger le­sen. Mit Sze­nen, die so­fort ei­nen in­ne­ren Film er­zeu­gen, ver­setzt Kirch­hoff sei­ne Le­se­rin an den som­mer­li­chen Gar­da­see. Ei­ne Ge­gend, die der Au­tor sehr gut kennt und be­reits zum Schau­platz sei­nes gro­ßen Ro­mans „Die Lie­be in gro­ben Zü­gen“ mach­te. Die­ser war 2012 für den Deut­schen Buch­preis no­mi­niert, den Kirch­hoff un­ver­ständ­li­cher­wei­se erst 2016 für „Wi­der­fahr­nis“ er­hielt. Ei­gent­lich woll­te ich nur ei­nen Blick auf den Hand­lungs­ort Tor­ri wer­fen — im neu­en Ro­man ein­fach nur T. -, als ich das Buch aus dem Re­gal zog. Doch ich ver­sank er­neut dar­in, wes­halb die schon skiz­zier­te Re­zen­si­on war­ten muss­te. Und dann wur­de sie gleich noch ein­mal auf­ge­scho­ben, da auch „Wo das Meer be­ginnt“ noch­mals ge­le­sen wer­den woll­ten. An­ge­neh­mer lässt es sich nicht prokrastinieren.

Ita­li­en al­so, an Fer­ra­gos­to, nicht di­rekt un­ten an den von Tou­ris­ten über­lau­fe­nen Ge­sta­den des Gar­da­sees, son­dern in ei­nem Häus­chen am Hang, das über stei­le Pfa­de er­schlos­sen und für ein Au­to schwer er­reich­bar ist, was die bei­den weib­li­chen Haut­figu­ren auf ver­schie­de­ne Wei­se er­fah­ren. Gleich zu Be­ginn stran­det Fri­da, die jün­ge­re von bei­den, nach miss­glück­tem Wen­de­ma­nö­ver in der Ein­fahrt des Ru­sti­co, in dem Lou­is Ar­thur Schon­gau­er lebt. Nach dem Tod sei­ner Frau hat sich der einst in Hol­ly­wood für sei­nen „kal­ten Blick aus reh­brau­nen Au­gen“ be­gehr­te Schau­spie­ler zu­rück­ge­zo­gen. Sei­ne ein­zi­ge Ge­fähr­tin, mit der er sich „aus der Zeit und der Er­in­ne­rung“ zu steh­len wünscht, ist Ascha, ei­ne Stra­ßen­hün­din aus Ru­mä­ni­en. Ih­re Ge­sell­schaft ist ihm mehr als ge­nü­gend. Er glaubt, „kein Mensch war je so auf­merk­sam mir ge­gen­über. Ascha weiß nicht, dass es die Lie­be gibt, aber liebt.“

Schon nach we­ni­gen Zei­len ist man mit­ten im Ge­sche­hen, das Kirch­hoff ge­ra­de­zu fil­misch in­sze­niert. Vor bild­rei­cher Ku­lis­se ent­wi­ckelt er in star­ken Dia­lo­gen Be­zie­hun­gen zwi­schen den Prot­ago­nis­ten und er­gänzt sie mit Rück­bli­cken voll tie­fer Emp­fin­dung. Da­bei spart er nicht mit fei­ner Iro­nie, et­wa wenn „Die Un­re­gel­mäs­sig­keit des Her­zens“ weiterlesen