In „Sinkende Sterne“ schreibt Thomas Hettche gegen das an, „was die puritanische Welt der Angst, die gerade entsteht, mit ihren Vorstellungen von Schuld und Reinheit zum Verschwinden bringen will“
»Wenn wir lesen, Dschamīl«, sagte ich leise, »ist das so, als ob wir jemanden ansähen. Wir schauen einem Fremden ins Gesicht. Und Fremdheit ist fast das Wichtigste an Literatur. Moral hat dabei nichts verloren, gar nichts.«
Wer sich wie ich über die um sich greifende Bücher-Bereinigung ärgert und diese Eingriffe als gleichsam ahistorisch wie aliterarisch empfindet, wird „Sinkende Sterne“, den neuen Roman von Thomas Hettche, als Plädoyer für die Freiheit der Kunst lesen. Als Zeugen ruft Hettche die berühmtesten Vertreter der Weltliteratur auf und schafft durch geschickt geknüpfte Erzählfäden ein gelehrtes und gut zu lesendes Buch.
Zunächst kommt dieses als Dystopie daher, welche eine durch Klimawandel ausgelöste Naturgewalt beschreibt, die mich an Szenen von Ferdinand Ramuz erinnert. Auch Hettches Roman spielt in den Schweizer Bergen. Ein ungeheurer Bergsturz hat die Rhone gestaut, die Dörfer im Tal versanken in ihrem Wasser, im Oberwallis leben die Menschen seitdem in einer abgeschotteten Welt.
„Seit der Lötschbergtunnel geflutet ist und der Weg talabwärts versperrt, ist es fast wieder wie früher (…) Zwölf Pässe führen aus dem Oberwallis hinaus, Nufenen, Gries, Albrun, Ritter, Simplon, Antrona, Monte Moro und Theodul nach Süden, nach Norden Grimsel, Lötschen und Gemmi und nach Osten die Furka. Doch fast sechs Monate im Jahr sind alle verschneit, und das Tal ist verschlossen.“
In dieses kommt der deutsche Erzähler nicht als Eindringling, sondern auf Anordnung. Ein Ferienchalet, oberhalb von Leuk gelegen, das letzte Domizil seines Vaters, ist nach dessen Tod in seinem Besitz. Da die neu entstandene Gemeinschaft Isolation als Ideal betrachtet, besteht in der Causa Klärungsbedarf. Der Kastlan von Leuk, Jesko Zen Ruffinen, hat Thomas Hettche zu sich befohlen.
Ob Thomas Hettche mit seinem gleichnamigen Erzähler alles im Roman Geschilderte teilt, darf bezweifelt werden. Allerdings bietet er ihm und damit sich selbst durch das Setting einen abgeschlossenen Raum, der das Nachdenken über das Wesentliche erlaubt. Der Erzähler lebt in seiner abgeschiedenen Hütte, die fern von aller Ablenkung einsam oberhalb des Dorfes liegt. Kaum betritt er das Haus, fällt er in seine Kindheit zurück, in die Zeit der Ferien, die er immer mit seinen Eltern hier in den Bergen verbracht hatte. Damals hatte er ein Mädchen aus dem Dorf zur Freundin, Marietta, der er bald darauf begegnet. Zu ihr und stärker noch zu ihrer Tochter, der fünfzehnjährigen Serafine, findet er über die Liebe zur Sprache Vertrauen.
Sprache, Erzählen, Schreiben, alles, was Literatur vermag und ihre unbedingte Freiheit sind die Kernthemen dieses Romans, die Hettche in vielfältiger Weise variiert. Daneben treten im Handlungsgeschehen die Folgen der Naturkatastrophe eher in den Hintergrund. Doch schildert er mit subtilem Sarkasmus die Oligarchie der Alteingesessenen, die das Übel zu einer Tugend machen, aus dem sich noch Geld schlagen lässt. „Energie ist jetzt das Metier der Herren von Leuk. Sie halten den See, der entstanden ist, für einen Schatz. Und haben damit nicht unrecht. Die Wälder des Kontinents brennen bereits, und die Flüsse beginnen zu versiegen. Nichts ist in Zeiten der Klimaerwärmung wichtiger als Wasser. Warum sollte nicht im Oberwallis das Wasserschloss Europas entstehen?“
Die zur Klärung der Besitzangelegenheit vom Notar seines Vaters eingefädelte Begegnung mit der Bischöfin von Sion, einem Hermaphroditen, führt in ihrer Überspitztheit wieder zum Kernthema. Der Erzähler ist sich seiner Ambivalenz gegenüber dieser Figur bewusst, er bewundert ihre Schönheit, aber ihn stört die Grenzüberschreitung. „Fürchte dich nicht“, sagt sie sanft. »Alles ist möglich. Während die alten Götter die Welt aus dem schufen, was da war, hat unser Gott sie aus dem Nichts gemacht. Und er ermuntert uns, es ihm gleichzutun. Wir sind die Auffahrtsrampe zur Überwindung des Fleisches. Wir können die Welt so konstruieren, wie wir es wollen. (…) Und jeder Mensch ist Teil einer bestimmten Kultur. Niemand hat das Recht, ihn für die Verwirklichung seiner Träume zu kritisieren.« »Das stimmt.« Wie schön sie ist, dachte ich wieder und verstand genau, worauf sie hinauswollte. Zu oft hatte ich diese Argumente schon gehört. » (…) »Aber die Freiheit, von der Sie sprechen, wird begrenzt durch die Natur, zu der wir gehören.«“
In der Kultur hingegen herrscht die unbedingte Freiheit. Neben Serafine, die die Tradition ihrer Heimat in ihrer Sprache und den Sagen ihrer Vorfahren weiterträgt, findet sich außer den Helden der Literatur, darunter Homers Odysseus und Sindbad aus Tausendundeinernacht, Dschamīl als profaner Mitstreiter, der syrische Student aus Hettches Seminar. Diesen und seine Stelle an der Universität musste der Schriftsteller aufgeben wegen „sexistischen Sprachgebrauchs“. Die Wokeness, der er sich ausgesetzt sieht, empfindet er als „Moralischen Terror“. Wollte er doch seinen Studenten Literatur als einen „Raum von Freiheit jenseits aller Moral“ öffnen. Als er Dschamīl, seinen einzigen Ex-Studenten, überreden will, eine alte arabische Ausgabe des Sindbad zu übersetzen, vermutet auch dieser, der Herausgeber des 1884 erschienenen Buchs sei sicher ein Kolonialist. Hettche entgegnet: „Ob er an irgendwelchen Kolonialverbrechen beteiligt war, interessiert mich nicht. Was zählt, ist, dass es das Buch gibt.“
Zur Verteidigung der Kunstfreiheit verwendet Hettche einen weiten Referenzrahmen. Da ist zunächst die Sprache, auch die des Wallis. Der Erzähler lauscht ihrem Klang und lernt von Serafine die alten Begriffe. Während der Autor von „Sinkende Sterne“ sie souverän setzt, um seinen Lesern die inneren und äußeren Welten zu beschreiben. Bisweilen erlaubt er sich auch einen Wortwitz. So verleiht er der Bischöfin ausgerechnet den Namen Noa de Platea und lässt der Beschreibung „sie war schwarz“ die Worte „Ich weiß“ folgen.
Exempel literarischer Kunst finden sich in großer Zahl in diesem Roman, neben den bereits genannten und weiteren großen Werken aller Epochen spielen die Sagen des Wallis eine bedeutende Rolle. Auch die Bildkunst hat ihren Platz, Leonardos Dame im Hermelin, die Madonna del Parto von Piero della Francesca oder der Torso eines Kriegers aus Agrigent. Das Verbindende zwischen Literatur, Bildender Kunst und Musik sieht Hettche in der Schönheit. Sie ist der Antrieb zur Kreativität. Aus diesem Grund fordert er Serafine und Dschamīl auf, sich zu erinnern, zu erzählen und alles aufzuschreiben. Das Schreiben, weiß er, hilft sich immer wieder neu zu ergründen.
»Aber was willst du hier, Thomas?« Ja, was? Ich wusste es nicht. Nur, dass es mit dem Tod meines Vaters zu tun hatte und mit der Erinnerung an meine Kindheit, mit Dschamīl und dem, was das Schreiben eigentlich für mich war. Thomas Hettche erschafft hinter einer Dystopie, einen Naturroman, eine Jugendnostalgie, ein Vaterbuch und ein Alterswerk, alles vereint durch sein literarisches Kunstverständnis. Seine Naturbeschreibungen lassen Gewalt aber auch Schönheit spüren. Zusammen mit der Umgebung des Chalets verwandeln sie ihn wieder zum Kind. Als er im Garten unter der Arve sitzt, erkennt er den Baumnamen als Anagramm, das mit seinem Initial zu „Vater“ wird. Seine Reflexionen münden darin, den Sinn seines Lebens in der Literatur zu sehen. Deren Freiheit will er gegen alle Widerstände verteidigen, auch wenn er sich fragen muss, „galt tatsächlich all das nicht mehr, woran ich immer geglaubt hatte?“. Ist er, wie Pasolini es schon formulierte, „eine Kraft der Vergangenheit“?
Thomas Hettche, Sinkende Sterne, Kiepenheuer & Witsch 2023