Als wir unseren Literaturkreis gründeten, stellte sich alle sechs Wochen die Frage, was lesen. Das Buch sollte nicht zu umfangreich und bereits als Taschenbuch erhältlich sein. Eine erfüllbare Voraussetzung. Schwieriger war es da schon die Lesevorlieben oder besser die Leseabneigungen der Teilnehmer zu berücksichtigen. Kein Kitsch, keine Gewalt, keine Orgien. Da wir meist unbekannte Bücher lesen, lässt sich natürlich genau das nicht immer vermeiden. Manchmal erweist es sich sogar als gelungener „Fehlgriff“, denn genau diese Verstörungen führen oft zu angeregter Diskussion.
Da ich oft gefragt werde, welche Bücher nun den besten Stoff für eine gelungene Runde bieten, habe ich neben den Listen vom alten und neuen Literaturkreis weitere Titel zusammengestellt. Wohl wissend, daß eine gelungene Diskussion über ein Buch von den Lesern, ihrem Leseleben und dem ganzen anderen Rest abhängig ist.
Grundsätzlich empfehle ich alles von Wilhelm Genazino und Peter Stamm, weitere Titel finden sich in der folgenden aktualisierten Liste:
Andersson, Lena: Der gewöhnliche Mensch, übers. v. Antje Rávik Strubel, Luchterhand 2022, Rezension
Andina, Fabio, Tage mit Felice, übers. v. Karin Diemerling, Rotpunktverlag 2020, Rezension
Bayard, Pierre: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat, Kunstmann 2007, Rezension
Brookner, Anita: Seht mich an, übers. v. Herbert Schlüter, Eisele 2023, Rezension
Burns, Anna: Milchmann, übers. v. Anna-Nina Kroll, Tropen-Verlag 2020, Rezension
Chambers, Clare: Kleine Freuden, übers. v. Karen Gerwig, Eisele 2021, Rezension
Gombrowicz, Pornographie, übers. v. Renate Schmidgall, Kampa 2022, Rezension
Haas, Wolf: Verteidigung der Missionarsstellung, Hoffmann und Campe 2014, Rezension
Haushofer, Marlen: Die Wand, 1963, Ullstein 1985, Rezension
Hartley, Leslie Poles: Ein Sommer in Brandham Hall, übers. v. Wibke Kuhn, Eisele 2019, Rezension
Hettche, Thomas, Sinkende Sterne, Kiepenheuer & Witsch 2023, Rezension
Houellebecq, Michel: Unterwerfung, übers. v. Norma Cassau u. Bernd Wilczek, DuMont 2015, Rezension
Keegan, Claire: Reichlich spät, übers. v. Hans Christian Oeser, Steidl Verlag 2024, Rezension
Orths, Markus: Das Zimmermädchen , Schöffling 2008, Rezension
Orths, Markus: Die Tarnkappe, Schöffling 2011, Rezension
Ramuz, Conrad Ferdinand, Sturz in die Sonne, übers. v. Steven Wyss, Limmat 2023, Rezension
Uhrmann, Erwin: Ich bin die Zukunft, Limbus 2014, Rezension
Vigan, Delphine de: Nach einer wahren Geschichte, übers. v. Doris Heinemann, DuMont 2016, Rezension
Kommentare mit Lesetips sind willkommen
Eine schöne Auswahl an Büchern! In unserem Lesekreis haben wir aufgrund Deiner Anregung bereits „Dinge, die wir heute sagten” von Judith Zander gelesen und dies sehr genossen.
Hier ein Vorschlag für ein Buch, das sich gut in einer Leserunde diskutieren lässt:
„Wir müssen über Kevin reden”
von Lionel Shriver
Das Buch ist in Form von Briefen, die Kevins Mutter Eva an ihren abwesenden Ehemann Franklin schreibt, verfasst. Kevin, der in einem Jugendgefängnis inhaftiert ist, hat an seiner Highschool während eines Amoklaufes neun Menschen umgebracht. Wer nun glaubt, dass es sich hierbei um eine Art Betroffenheitsliteratur handelt oder das Shriver das leider immer wieder aktuelle Thema des Amoklaufs an Schulen exploitiert, liegt falsch.
Eva untersucht in diesen Briefen die Beziehung zu ihrem Sohn (aber auch zu ihrem Ehemann) ab dem Entschluss, ein Kind in die Welt zu setzen, bis hin zu ihren späteren Besuchen im Gefängnis. Von Geburt an findet keine innige Bindung zwischen Mutter und Kind statt; der Sohn entwickelt sich aus Evas Sicht zur Belastung für ihre Ehe, den Fortbestand des von ihr selbst gestarteten erfolgreichen Reiseverlages und schafft es, Eva jeglicher Lebensperspektiven zu berauben, jedenfalls so lange, wie sie für ihn sorgen muss. Sie versucht einerseits immer wieder schonungslos offen gegenüber sich selbst ihre eigenen Unzulänglichkeiten zu analysieren; andererseits lehnt sie jegliche Verantwortung für Kevins Bösartigkeiten ab, die ihrer Meinung nach auf seinem angeborenen Naturell beruhen. Eva fühlt sich von ihrem Mann im Stich gelassen, weil er sich auf die Seite Kevins schlägt und dessen Defizite nicht sehen will. Franklin kann den „Tabubruch” gegenüber der Vorstellung, dass Eltern ihre Kinder automatisch bedingungslos lieben müssen, nicht begehen.
Der Leser verfolgt die üblichen Stationen eines Familienlebens (bis hin zum Tag des besagten Amoklaufes), auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, da dies den Spannungsbogen beim Lesen zerstören würde. Er bekommt am Ende jedoch keine schlüssige Antwort darauf, was genau Kevin zu dieser Tat bewegt hat.
„Wir müssen über Kevin reden” hat in unserem Lesekreis für lange Debatten gesorgt. Auch die kinderlosen Mitglieder unter uns konnten alle Zugang zu der Thematik finden oder haben sich in irgendeiner Weise in Evas Charakter wiedergefunden. Aber auch außerhalb der Mutter-Sohn-Problematik waren so viele interessante Diskussionspunkte zu finden, die alle dazu beigetragen habe, dass uns diese Lektüre noch lange in Erinnerung bleiben wird.
Das Buch scheint wirklich viel Diskussionsstoff zu bieten.
Ich werde es direkt auf die Liste meiner potentiellen Lesekreis-Kandidaten setzen. Leider dauert es noch ein Weilchen bis ich wieder ein Buch vorschlagen darf.
Danke für Deinen ausführlichen Buchtipp, bookbird.
Zu lange, daß ich nicht mehr auf deiner Seite gestöbert habe. Und justament jetzt stoße ich auf deine Lesekreis geeigneten Titel, die ich sicherlich verwenden werde.. denn mir wurde jetzt die Leitung eines Lesekreises sozusagen angetragen… aber der muss sich erst finden und etablieren, aber eine gute Titelliste hilft sicherlich dabei!
Danke also dafür!
Dass Du hier Anregungen gefunden hast freut mich. Nützlich ist vielleicht auch auch das Lesekreisbuch von Thomas Böhm.
Ich wünsche Dir viel Erfolg mit der Einrichtung und dem künftigen Lesekreis angeregte Diskussionen.