Anita Brookner schreibt in „Seht mich an“ präzise und herausragend über die Einsamkeit
„Das allgemeine Publikum kennt uns kaum, was auch nicht unbedingt unser Wunsch wäre. Wir besorgen vielmehr das Material für unseren eigenen wissenschaftlichen Mitarbeiterstab, für auswärtige Fachkollegen und für die gelegentlichen, sehr seltenen Besucher. Im Augenblick können wir nur mit dem Erscheinen von Mrs. Halloran und Dr. Simek rechnen. Mrs. Halloran ist eine etwas wild dreinblickende Dame mit einer täuschenden Aura von Autorität, die behauptet, in Kontakt mit der überirdischen Welt zu stehen, und die sich bemüht, ihre Theorie zu beweisen, dass die meisten Anomalien im menschlichen Verhalten dem Einfluss des Saturn zuzuschreiben sind. Solche Grenzfälle begegnen einem sehr häufig in Bibliotheken. Dr. Simek ist ein ungemein zurückhaltender Tscheche oder Pole (wir sind uns nicht ganz sicher, was von beiden, und wir meinen, dass es auch nicht unsere Sache ist, dem nachzuforschen). Anhand einer Reihe kleiner Karteikarten arbeitet er über die Geschichte von Depressionen oder, wie man früher sagte, der Melancholie. Er kommt jeden Tag. Beide kommen jeden Tag, und zwar, wie ich vermute, hauptsächlich deshalb, weil die Bibliothek so gut geheizt ist.“
Wer je längere Zeit in einer wissenschaftlichen Bibliothek saß, hatte neben der Fachliteratur bisweilen Gelegenheit, die Leser an den anderen Tischen zu studieren. Deren skurrile Eigenheiten, die über die Wahl des Platzes und der Anordnung der Utensilien oft hinausgingen, waren stets willkommene Ablenkung. Gemeinsam widmeten sie sich ihren Lektüren, sie arbeiten oft nebeneinander und aufgrund der Schweigepflicht kontaktlos. Diese notwendige Einsamkeit setzt sich bei der Ich-Erzählerin in Anita Brookners Roman „Seht mich an“ außerhalb der Bibliothek fort. Sie ist nicht die einzige Figur, die diesem Gefühl ausgesetzt ist. Einsamkeit ist das stärkste Motiv dieses Romans, Brookner variiert es vielfältig und schafft dadurch Szenen, die an die Bildwelten Edward Hoppers erinnern. Mit Künstlern und deren Werken kennt sich die Kunsthistorikerin Anita Brookner (1928–2016) bestens aus. Die in London geborene Tochter polnischer Einwanderer lehrte als Professorin in Cambridge. Der fiktiven Literatur widmete sie sich spät, aber erfolgreich. Ihr Debüt „Ein Start ins Leben“ erschien 1981, das drei Jahre später veröffentlichte Werk „Hotel du Lac“ erhielt den Booker Prize.
In ihrem dritten Roman „Seht mich an“ verleiht die Autorin ihrer Figur Frances profunde kunsthistorische Kenntnisse, wenngleich die Ich-Erzählerin keine Kunsthistorikerin ist, sondern als Bibliothekarin eines medizinischen Instituts arbeitet. Gleich zu Beginn führt Frances den Leser in die Ikonographie der Melancholie ein. Die Begriffe Einsamkeit und Melancholie, der Vorläuferin der Depression, könnten die Vermutung aufkommen lassen, es handele sich um eine eher traurige Lektüre. Das ist nicht der Fall.
Frances Hinton, um die Dreißig und attraktiv, lebt nach dem Tod ihrer Mutter in der elterlichen Wohnung. Diese liegt in einem noblen Stadtteil Londons, denn ihr Vater hatte an der Börse ein beachtliches Vermögen angesammelt. Frances lebt alleine, ihre einzige Gesellschaft, die aufgrund der Distanz nicht als solche gewertet werden kann, ist die alte Haushälterin Nancy.
Wenige weitere Kontakte findet Frances an ihrem Arbeitsplatz: Dr. Leventhal, den zurückhaltenden Bibliotheksdirektor — „er gehört zu den Männern, die ihr Schweigen nur brechen, um eine kritische Bemerkung zu machen“-, ihre Kollegin und Fast-Freundin Olivia und die beiden im Eingangszitat charakterisierten Stammgäste. Lediglich Nick Fraser, ein Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts, belebt mit seinen Auftritten die Atmosphäre. Dieser Nick und seine Frau Alix sind es, die Frances schließlich aus ihrem Alltag ent- und in die gesellschaftlichen Gepflogenheiten einführen. Neben Wohnung, Bibliothek, den Treffpunkten mit Nick und Alix, spielen die dunklen Londoner Parks eine nicht unbedeutende Rolle im Roman.
Dieser beginnt mit dem von der Ich-Erzählerin als langweilig empfundenen Routineleben. Jeder Tag folgt dem gleichen Ritual. Aufstehen, zur Arbeit gehen, Lunch mit Olivia, am Ende der Arbeitszeit kauft Frances eine Zeitung, trinkt einen Kaffee und geht zu Fuß nach Hause. Dort wartet ein von Nancy bereitetes Mahl, das ihr nie schmeckt. Den Abend beschließt sie mit einigen Notizen, dann geht sie zu Bett. Das Alleinsein schenkt Frances viel Zeit zum Nachdenken, was spät abends ins Schreiben mündet. Als ihre Mutter noch lebte, berichtete sie ihr vom Tag in der Bibliothek und brachte sie damit zum Lachen. Jetzt, da niemand mehr da ist, der ihr zuhört, schreibt sie es auf. Vielleicht hatte ihre Mutter recht und es entsteht ein Roman, überlegt Frances, womit Brookner ein interessanter Twist auf die Metaebene gelingt. Was für Frances zunächst eine Ablenkung gegen die Einsamkeit ist, wird immer mehr zum Hilfsmittel. Sie schreibt, um andere zu erreichen, um endlich gesehen zu werden. Schließlich, in ihrer größten Not notiert sie, „Ich schreibe, um hart zu werden“.
Die Introspektionen werden von exakten Beobachtungen der Umgebung und der Personen ausgelöst. Sie münden in tiefe Analysen, durch die die Protagonistin schließlich Einsichten gewinnt. Es ist ein langsamer Prozess des Bewusstwerdens, den Brookner mit großem psychologischem Gespür schildert.
Frances‘ Beobachtungen voller Sensibilität aber auch Ironie sind ihr Schutzschild gegen die Zumutungen des Alltags. Sie errichten zugleich eine Schranke, die sie abhält, sich zu wehren und endlich zu handeln. In der Rückschau, in der das gesamte Geschehen des Romans geschildert wird, scheint diese Lethargie umso schmerzhafter auf. Frances benennt ihre sozialen Ängste, ohne sie zu erkennen. „Der Mensch, dem sie am meisten Furcht macht, ist sie selbst.“ Obgleich sie eine Expertin für Melancholie ist und Alix‘ Depression als Langeweile entlarvt, verschließt sie die Augen für den eigenen Zustand. Frances hält sich nicht nur für kerngesund, sondern „kann unglückliche Menschen nicht leiden“. Von ihrer Melancholie erzählt sie nur verklausuliert in Bildern und Metaphern.
Das Paar Nick und Alix erscheint Frances als Retter aus dem tristen Einerlei. Sie findet es auch großartig von ihnen, „sich so viel Zeit für Leute zu nehmen, denen es an Kraft und Selbstvertrauen fehlt, um ihnen Mut zu machen“. Geblendet von deren Elan und Esprit folgt sie diesen und möchte ihnen gefallen, um dazu zu gehören. Ob dies gelingen kann, ist fraglich, denn von dem Freundespaar trennt sie ein Verhalten, das diese Upperclass-Kids verinnerlicht haben, während es Frances als Tochter neureicher Einwanderer fremd ist. Gefangen in ihrem Bestreben übersieht sie den narzisstischen Charakter des Paars, der sich besonders im Verhalten von Alix zeigt. Sie braucht Menschen wie Frances, die ihr unterlegen oder besser untergeben sind. Alix ist ein Vampir, der die Bewunderung und die Geduld seiner Opfer aussaugt. Diese müssen gefügig sein, sonst werden sie fallen gelassen. So geschieht es auch Frances, als sie beginnt, nach ihren eigenen Wünschen zu handeln.
Brookner verleiht ihrem Roman genau beobachtete Szenen und analysiert empathisch und nicht ohne Augenzwinkern ihr Personal. Zugleich gelingt es ihr, Spannung zu erzeugen, Vorahnungen und Andeutungen durchziehen den ganzen Roman – die Leserin ahnt, daß etwas faul ist, sie weiß nur nicht, was – die Spannung kulminiert in hochspannenden Szenen, nachts in den dunklen Parks. Das Ende der Geschichte bleibt offen, doch man ahnt, daß die Heldin gewonnen hat. Rückblickend erzählt diese, erfahren und weise geworden, von ihrer Emanzipation. „Ich wollte nur sehen, wie die anderen, die freien Menschen, ihr Leben führten, und dann konnte ich mein eigenes beginnen.“.
Der Roman „Seht mich an“ erschien erstmals im Jahr 1983. Im Nachwort der Neuauflage des Eisele Verlags bezeichnet Daniel Schreiber ihn als „großen, erschütternden und durch und durch gloriosen Roman“. Dem ist nichts entgegenzusetzen.
Anita Brookner, Seht mich an, übers. v. Herbert Schlüter, Eisele Verlag 2023