Anita Brookner schreibt in „Seht mich an“ präzise und herausragend über die Einsamkeit
„Das allgemeine Publikum kennt uns kaum, was auch nicht unbedingt unser Wunsch wäre. Wir besorgen vielmehr das Material für unseren eigenen wissenschaftlichen Mitarbeiterstab, für auswärtige Fachkollegen und für die gelegentlichen, sehr seltenen Besucher. Im Augenblick können wir nur mit dem Erscheinen von Mrs. Halloran und Dr. Simek rechnen. Mrs. Halloran ist eine etwas wild dreinblickende Dame mit einer täuschenden Aura von Autorität, die behauptet, in Kontakt mit der überirdischen Welt zu stehen, und die sich bemüht, ihre Theorie zu beweisen, dass die meisten Anomalien im menschlichen Verhalten dem Einfluss des Saturn zuzuschreiben sind. Solche Grenzfälle begegnen einem sehr häufig in Bibliotheken. Dr. Simek ist ein ungemein zurückhaltender Tscheche oder Pole (wir sind uns nicht ganz sicher, was von beiden, und wir meinen, dass es auch nicht unsere Sache ist, dem nachzuforschen). Anhand einer Reihe kleiner Karteikarten arbeitet er über die Geschichte von Depressionen oder, wie man früher sagte, der Melancholie. Er kommt jeden Tag. Beide kommen jeden Tag, und zwar, wie ich vermute, hauptsächlich deshalb, weil die Bibliothek so gut geheizt ist.“
Wer je längere Zeit in einer wissenschaftlichen Bibliothek saß, hatte neben der Fachliteratur bisweilen Gelegenheit, die Leser an den anderen Tischen zu studieren. Deren skurrile Eigenheiten, die über die Wahl des Platzes und der Anordnung der Utensilien oft hinausgingen, waren stets willkommene Ablenkung. Gemeinsam widmeten sie sich ihren Lektüren, sie arbeiten oft nebeneinander und aufgrund der Schweigepflicht kontaktlos. Diese notwendige Einsamkeit setzt sich bei der Ich-Erzählerin in Anita Brookners Roman „Seht mich an“ außerhalb der Bibliothek fort. Sie ist nicht die einzige Figur, die diesem Gefühl ausgesetzt ist. Einsamkeit ist das stärkste Motiv dieses Romans, Brookner variiert es vielfältig und schafft dadurch Szenen, die an die Bildwelten „„Ich schreibe, um hart zu werden““ weiterlesen