Im Land des nachdenklichen Halbschattens“

Bei Anita Brookner durchläuft „Ein tugendhafter Mann“ seine innere Heldenreise

Er dach­te an die un­aus­ge­spro­che­ne Über­ein­kunft, (…), dass er der Mann im Haus sein muss­te, dass er das Fort­be­stehen ih­res klei­nen Haus­halts si­chern muss­te. So ver­hiel­ten sich Hel­den nicht. Hel­den ver­lie­ßen früh ihr Zu­hau­se, voll­brach­ten gu­te Ta­ten, ver­lieb­ten sich und star­ben, oder sie schick­ten spä­ter nach ih­ren Müt­tern, wenn es sich ab­so­lut nicht ver­mei­den ließ. Er sah nicht ein, war­um ihm die­se Mög­lich­keit ver­wehrt sein soll­te, auch wenn die Ein­zel­hei­ten die­ses Le­bens­ent­wurfs hart­nä­ckig un­scharf blieben.“

Ani­ta Brook­ner, die re­nom­mier­te Pro­fes­so­rin für Kunst­ge­schich­te, wel­che spät zur Ro­man­au­to­rin wur­de, konn­te mich be­reits für ih­ren Ro­man „Seht mich an!“ be­geis­tern. Die­ser er­zählt von ei­ner Ein­zel­gän­ge­rin, die in fa­mi­liä­ren Ver­hal­tens­mus­tern ge­fan­gen, nach dem Tod der Mut­ter de­ren Le­bens­wei­se fort­führt. Ein ein­sa­mes, wenn auch kom­for­ta­bles Da­sein mit ei­nem aus­kömm­li­chen, aber ein­tö­ni­gen Be­ruf. Die Sehn­sucht nach Ge­sell­schaft führt sie schließ­lich zu fal­schen Freun­den, die ein ma­ni­pu­la­ti­ves Spiel mit ihr treiben.

Le­wis Per­cy, der Na­me der Haupt­fi­gur ist zu­gleich der Ti­tel des 1989 er­schie­ne­nen eng­li­schen Ori­gi­nals ‑die deut­sche Ver­si­on trägt den viel­sa­gen­den Ti­tel „Ein tu­gend­haf­ter Mann“-, ver­sucht eben­falls sei­ne Ein­sam­keit zu über­win­den. Von der Su­che nach ei­nem Ge­gen­über ge­trie­ben zeigt er in scheu­er Zu­rück­hal­tung ähn­li­che An­la­gen wie sei­ne weib­li­che Vor­gän­ger­fi­gur. Man mag dies, wie Vol­ker Wei­der­mann im Nach­wort er­läu­tert, auf die Er­fah­run­gen Brook­ners zu­rück­füh­ren. Ih­re El­tern, die we­gen an­ti­se­mi­ti­schen Ter­rors von Po­len nach Eng­land emi­grier­ten, lit­ten un­ter dem Ver­lust ih­rer Hei­mat. Dies präg­te Ani­ta Brook­ner und ist in ih­ren Ro­ma­nen spür­bar. Zu­gleich zeigt sich in ih­nen das Ha­dern der Kunst­his­to­ri­ke­rin Brook­ner mit dem oft ein­sa­men Ge­schäft der Ge­lehr­ten, es „ging mit sol­chen Ein­schrän­kun­gen ein­her, mit sol­chen Be­schrän­kun­gen des le­ben­di­gen Kör­pers“.

Auch Le­wis Per­cy hät­te manch­mal „die Bi­blio­thek am liebs­ten ge­las­sen und wä­re um sein Le­ben ge­rannt“. Wie die­ses sein könn­te, hat­te er wäh­rend sei­nes Stu­di­ums in Pa­ris er­fah­ren. Nach lan­gen Stun­den in der Na­tio­nal­bi­blio­thek, wo er aus­ge­rech­net zur li­te­ra­ri­schen Fi­gur des Hel­den forscht, ge­nießt er den Gang durch die Stra­ßen und die Aben­de mit den an­de­ren Un­ter­mie­te­rin­nen. Mit ih­nen bil­det er ei­ne Ge­mein­schaft, in der, ganz ähn­lich wie Fran­ces und ih­re Kol­le­gin­nen in „Seht mich an!“ die Um­stän­de un­ter­schied­li­che In­di­vi­du­en ver­ei­nen. Bis auf Le­wis sind es aus­schließ­lich Frau­en, sie sind ihm Bei­spiel und Vor­bild, wie mit ih­nen und dem Le­ben um­zu­ge­hen sei. „Ih­re Hal­tung ihm ge­gen­über schätz­te er als mit­lei­dig ein, und das ent­sprach ge­nau sei­nen Wün­schen. Was sei­ne Ein­stel­lung zu ih­nen an­ging, war sie in An­be­tracht sei­ner zar­ten Ju­gend noch un­aus­ge­prägt, aber er be­trach­te­te sei­ne klei­ne Grup­pe, die ers­ten Ex­em­pla­re der Spe­zi­es, die man ihm zum Stu­di­um aus der Nä­he zur Ver­fü­gung ge­stellt hat­te, mit ei­ner Mi­schung aus Lie­be, Re­spekt und un­schul­di­ger Re­cher­che.“ Doch die Ge­dan­ken an sei­ne Mut­ter, für de­ren Ein­sam­keit er sich schul­dig fühlt, blo­ckie­ren sei­ne Ent­wick­lung. Er kehrt zu ihr zurück.

Psy­cho­lo­gisch ein­fühl­sam schil­dert Brook­ner wie Pflicht­be­wusst­sein und Lie­be den jun­gen Mann, der in Pa­ris das Le­ben spür­te, stran­gu­lie­ren. Nicht nur das Licht ist im Eng­land der Nach­kriegs­zeit, „dem Land es nach­denk­li­chen Halb­schat­tens“, an­ders. Le­wis fühlt sich en­er­gie­los, wird duld­sam und pas­siv wie die Mut­ter, die als Wit­we nur für den Sohn lebt. An­spruchs­lo­sig­keit er­lebt er auch in der „be­schei­de­nen Fröh­lich­keit“ sei­ner Lands­leu­te, die ein „Wie geht’s?“ stets mit „Darf mich nicht be­kla­gen“ be­ant­wor­ten. „Viel­leicht war die­ses Land ein­fach bes­ser ge­eig­net für ih­re Le­bens­wei­se als für sei­ne.“ Doch be­vor er die Idee, ein un­ab­hän­gi­ges Le­ben in der Fer­ne zu füh­ren, um­set­zen kann, stirbt sei­ne Mut­ter. Per­cy fällt in die Re­gres­si­on, oh­ne ei­ne Frau, die ihn um­sorgt und auf ihn war­tet, kann er nicht exis­tie­ren. Die in­ne­re Not zwingt ihn zum Han­deln. Man ahnt, was kommt, und ver­folgt sein selbst ge­mach­tes Un­glück mit Mitleid.

Die Hand­lung, die Wahl der fal­schen Frau und die Er­lö­sung durch die Rich­ti­ge, könn­te als Kli­schee be­zeich­net wer­den, wür­de Brook­ner sie nicht als Hel­den­rei­se ge­stal­ten. Wie sein Na­mens­vet­ter Par­zi­val muss auch Per­cy sei­ne Mut­ter­bin­dung lö­sen, welt­ge­wandt wer­den und vor al­lem sich selbst fin­den. Da­zu schickt die Au­torin ihn in die un­be­kann­te Welt der Frau­en, wo ihn Ge­fah­ren er­war­ten. In Pa­ris hat­ten gu­te Geis­ter ihn dar­auf vor­be­rei­tet, ei­ne von ih­nen, die ma­tro­nen­haf­te Cyn­thia, so­gar als leib­haf­ti­ges Me­ne­te­kel. In Lon­don kämpft er ge­gen die über­grif­fi­ge Frau sei­nes Cou­sins und sei­ne do­mi­nan­te Schwie­ger­mut­ter. Er täuscht sich in Tis­sy, die ihm nicht die er­träum­te Ge­fähr­tin, son­dern wie sei­ne Mut­ter wird. Le­wis will sie ver­än­dern und ver­kennt, daß er sich selbst ver­än­dern muss. Brook­ner dringt die Psy­che ih­res sen­si­blen Hel­den. Hoch­re­flek­tiv er­kennt die­ser sei­ne Am­bi­va­lenz zwi­schen sei­nem geis­ti­gen Le­ben und dem ech­ten. „Er war un­vor­be­rei­tet auf die Her­aus­for­de­run­gen des rich­ti­gen Le­bens. Viel­leicht war er die­sen Her­aus­for­de­run­gen über­haupt nicht ge­wach­sen.“ Den­noch öff­net ihm die Li­te­ra­tur die Per­spek­ti­ve auf das, was mög­lich wä­re. Er muss nur handeln.

Die Kunst­his­to­ri­kern Brook­ner wuss­te ge­nau, was sie tat, als sie ih­ren Par­zi­val in die Welt schick­te, um ge­gen sei­ne trau­ri­ge Ein­sam­keit zu kämp­fen. Die Schrift­stel­le­rin Brook­ner hat dies ge­schickt und vol­ler Em­pa­thie für ei­ne Fi­gur um­ge­setzt, de­ren Emp­fin­den ihr ver­traut ge­we­sen sein dürf­te. Und doch hat mich ihr frü­he­res Werk „Seht mich an!“ mehr über­zeugt. Viel­leicht, weil dort ei­ne Frau im Vor­der­grund steht? Viel­leicht, weil dar­in die Iro­nie mit mehr Es­prit zu Ta­ge tritt als bei „Ein tu­gend­haf­ter Mann“? Der Ver­gleich zeigt, daß bei­de Ro­ma­ne vie­le Par­al­le­len auf­wei­sen. Sie spie­len in Bi­blio­the­ken und ein­sa­men Wohn­ver­hält­nis­sen. Bei­de Prot­ago­nis­ten lei­den un­ter dem Ver­lust der Mut­ter und fin­den kaum aus ih­rer Ein­sam­keit her­aus und er­lie­gen den ers­ten Per­so­nen, die ih­nen Nä­he bie­ten. Die psy­chi­sche Not ih­rer Iso­la­ti­on lin­dern sie in lan­gen Spa­zier­gän­gen und vor­al­lem im Schrei­ben. „Doch wenn er erst mal schrieb, ver­gaß er sich selbst voll­kom­men, und er hob über­rascht den Kopf, wenn die Bi­blio­thek schloss. (…)  bis zum En­de des Ta­ges hat­te er sich er­neut dem Mys­te­ri­um des­sen er­ge­ben, was er wirk­lich tat: dem An­ein­an­der­rei­hen von Wör­tern zu ei­nem an­schei­nend lo­gi­schen Argument.“

Wä­ren Fran­ces und Le­wis ein per­fek­tes Paar ge­wor­den? „Du phan­ta­sierst zu viel. Wahr­schein­lich hast du zu vie­le Ro­ma­ne gelesen.“

Am En­de steht die Er­kennt­nis, „Das Le­ben ist nicht ein­fach ei­ne Rei­he auf­re­gen­der neu­er Un­ter­neh­men. Die Zu­kunft krem­pelt eben nicht al­les um. Es gibt im­mer wie­der un­ab­ge­schlos­se­ne An­ge­le­gen­hei­ten. Man schleppt doch im­mer to­tal viel Zeug mit sich rum, Zeug, das man ein­fach nicht los­wer­den kann.“

Anita Brookner, Ein tugendhafter Mann, übers. v. Wibke Kuhn, mit einem Nachwort v. Volker Weidermann, Eisele Verlag 2024

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert