Michel Houellebecq karikiert in „Unterwerfung“ Missstände in Gesellschaft und Religion
„Nicht nur der Sex hatte für Huysmans niemals die Bedeutung, die er ihm unterstellte, sondern dasselbe galt mit Sicherheit auch für den Tod, die existentiellen Ängste spielten für ihn keine Rolle. Was ihn an der berühmten Kreuzigung von Grünewald so sehr bewegt hatte, war nicht die Darstellung des Todeskampfes Christi gewesen, sondern die seiner körperlichen Qualen, womit Huysmans auch in diesem Punkt allen anderen Menschen glich, denen ihr eigener Tod im Allgemeinen mehr oder minder gleichgültig ist; ihre einzige wirkliche Sorge besteht darin, der körperlichen Qual so weit wie möglich zu entkommen. (…)
Das einzige echte Thema von Huysmans war das bürgerliche Glück, ein für Junggesellen auf schmerzhafte Weise unerreichbares bürgerliches Glück, …“
Diese Erkenntnis erlangt François, der 44jährige Ich-Erzähler, gegen Ende des Romans „Unterwerfung“. Sein Autor, Michel Houellebecq, kritisiert in dieser aktuellen Satire kollektive wie individuelle Zustände, die er entlang der Entwicklung seines Helden erzählt.
François, ein agnostischer Misanthrop, hat sich seit seiner Dissertation über Joris-Karl Huysmans vollkommen seinem Forschungsgegenstand verschrieben. Der französische Dandy und Literat dient ihm als Vorbild und Freund, den er unter lebenden Menschen nicht hat. François bevorzugt die Einsamkeit und hat die Liebe längst als große Lüge entlarvt. Seine Lehrtätigkeit an der Sorbonne bringt ihm Gesellschaft genug und mit jedem neuen Semester eine junge Geliebte, die ihm seine sexuellen Bedürfnisse erfüllt. Ansonsten interessiert er sich kaum für seine Studenten, seine Professur sieht er als Gelegenheit „die Gesamtheit meiner Tage einer Beschäftigung zu widmen, die ich mir selbst ausgesucht hatte“. Was sollte er sich auch bemühen, „ein Studium im Fachbereich Literaturwissenschaften führt bekanntermaßen zu so ziemlich gar nichts“.
Houellebecqs Roman, der mit diesem wunderbar satirischen Blick auf den Hochschulbetrieb beginnt, erhält durch die Attentate von Paris besondere Aufmerksamkeit. Der in Frankreich meistgelesene Autor wurde nicht nur auf dem Cover des in der Anschlagswoche erschienenen Blattes Charlie Hebdo aufs Korn genommen, sondern sein Roman spielt mit der populistischen Chimäre unserer Zeit, der Angst vor dem Fremden in Gestalt des Islams. Zugleich wendet sich die im Jahr 2022 angesiedelte Gesellschaftssatire gegen Politikverdrossenheit und die Macht der Medien.
Nicht nur François war es müde sich für das politischen Geschehen der letzten Jahre zu interessieren. Die Unterschiede zwischen einer Mitte-Links oder Mitte-Rechts geführten Regierung scheinen marginal und, wenn man auf den wahren Willen des Volkes blickt, in höchstem Maße heuchlerisch. Dieser verkörperte sich durch die Erstarkung des rechten Front National, dem seit 2017 die neue Partei der Bruderschaft der Muslime gegenübersteht. Als gemäßigter Moslem steht ihr Gründer Ben Abbes für eine Politik der Sozialfürsorge, die nicht nur die Interessen der muslimischen Bevölkerung vertritt. Extremisten gibt es nach wie vor auf beiden Seiten und sie stoßen regelmäßig und mit Gewalt aufeinander. Im rechten Untergrund agiert die sich als „Ureinwohner Europas“ empfindende Identitäre Bewegung. Zu dieser zählt auch der neue Kollege François’, dem er auf einem universitären Cocktailempfang begegnet. Als dieser durch nahe Krawalle vorzeitig endet, gibt dies dem jungen Rechtsintellektuellen Anlass genug seinen älteren Kollegen vor dem sich anbahnenden Bürgerkrieg zu warnen.
In der Tat ist das Ergebnis der Präsidentschaftswahl besorgniserregend. Während die Sozialisten und die Bruderschaft der Muslime mit an die 22 Prozent gleichauf liegen, besitzt der Front National 34 Prozent der Wählerstimmen. Das hat weitreichende Folgen für das Land und für François. Die Sorbonne wird geschlossen und seine junge, jüdische Freundin Myriam emigriert mit ihrer Familie nach Israel. Obwohl überwiegend von Chinesen bewohntes Viertel von eventuellen Unruhen sicher scheint, flieht François, der sonst kaum einen Fuß aus Paris herauswagte. Er will in den Südwesten, eine stabile Region, denn „Enten-Confit und Bürgerkrieg passen nicht zusammen“. Sein Touareg, eine sprechendere Automarke hätte Houellebecq nicht wählen können, führt ihn über ausgestorbene Autobahnen zu einer ausgeraubten Tankstelle. Notgedrungen landet er in der Dordogne, wo die Franzosen sich nicht auf die Straße trauen und britische Rentner im Café BBC-News sehen.
François trifft dort Alain Tanneur, den Mann seiner Kollegin, der ihn bei einem Abendessen über die politischen Entwicklungen aufklärt. Als frisch entlassener Geheimdienstler über die islamistische Bewegung bestens informiert liefert er das Wissen, über das der Ich-Erzähler nicht verfügen kann. Einen weiteren derartigen Zuträger lässt Houellebecq im letzten Drittel des Romans in Gestalt des Universitätsdirektors Robert Rediger auftreten.
Doch begleiten wir François zunächst wieder nach Paris, in das er nach einem kurzen Besuch bei der Schwarzen Madonna von Roccamadour zurückgekehrt ist. Dort reagiert mittlerweile Mohammed Ben Abbes in Koalition mit den Sozialisten. François ahnt, daß die Betrachtung von Frauenärschen ihm nicht mehr lange vergönnt sein wird. Die Modegeschäfte schließen, da Frauen sich nicht länger über ihre Kleidung definieren müssen. Dafür legen sie umso mehr Wert auf ihre Dessous, deren Anblick alleine ihren Ehemännern vorbehalten bleibt. Schlechte Zeiten für François, zumal sich in der neueröffneten Islamischen Universität Sorbonne keine Studentinnen einschreiben werden. Im neuen Bildungssystem sind Frauen nicht vorgesehen. Auch François hat als ungläubiger Professor ausgedient. Immerhin erhält er eine mehr als ausreichende Pension, verhungern muss er also nicht, aber sein Ausschluss beendet nicht nur seine akademische Karriere, sondern auch seine erotischen Abenteuer.
Während Frankreich aufblüht, Arbeitslosenrate und Kriminalität sinken und neue Werte den sozialen Zusammenhalt stärken, geht es François immer schlechter. Er zieht sich vollkommen zurück, bekämpft seine Frustrationen, die auch Prostituierte nicht kurieren können, mit Alkohol und verlässt seine Wohnung nur noch zu Supermarktbesuchen und um seine Buchpakete von Amazon aus dem Briefkasten zu fischen, wenigstens etwas, was noch funktioniert.
Doch Einsamkeit und Angst vor dem Alter nagen an ihm, so sehr, daß der Misogyn über die Vorzüge der Ehe nachdenkt. Oder hilft vielleicht die Religion? Auf den Spuren Huysmans begibt er sich in das Kloster Ligugé. Dort wo dieser zum Mönch wurde, sucht François Trost. Der Rauchmelder in seiner winzigen Zelle entlarvt dem starken Raucher jedoch seine Illusion.
Im fünften und letzten Teil seines Romans lässt Houellebecq für seinen Helden ein rettendes Licht am Endes des Tunnels erscheinen. Zudem er zeigt mit großer satirischer Kraft, daß das neue System, das die Ausmaße des Augusteischen Imperiums anstrebt, sich der gleichen korrupten Gestalten bedient wie seine Vorgänger. Der einstige Anhänger der Identitären, Robert Rediger, konvertiert zum Islam, wird Direktor der Sorbonne und residiert mit mehreren Ehefrauen in einem historischen Stadtpalais. Eine Unterwerfung, die sich lohnt, und über die auch François nachdenkt. Ob sein Held tatsächlich zum Islam konvertiert und damit das von ihm entlarvte Sehnsuchtsziel Huysmans, das häusliche Glück, gegen seine intellektuelle Freiheit eintauscht, lässt Houellebecq offen.
Mir hat dieser Roman, der in einer nicht allzu fernen Zukunft spielt und doch die Zustände unserer heutigen Gesellschaft karikiert, sehr gefallen. Houellebecq lässt aktuelle französische Politiker auftreten und benennt kursierenden Strömungen. Dabei wendet sich seine Satire gegen fast alles, Glauben und Unglauben, Wissenschaft, Staat und Bürgertum und entlarvt unter vielen literarischen Bezügen letztendlich nur eines, die Eitelkeit des Einzelnen. Eine veritable Comedié humaine.