Hans Dieter Zimmermann erinnert in „Französische Hauptstadt, deutsche Provinz“ wie Proust einst seine Heimat besuchte
„Wer sich mit der Geschichte Kreuznachs beschäftigt, interessiert sich nicht für Proust, wer sich mit Proust befasst, dem ist diese Kurstadt nicht wichtig.“
Dieses eher als Lücke denn als Missstand zu bezeichnende Kuriosum der Stadtgeschichte enthüllt Hans Dieter Zimmermann mit seiner im Rimbaud-Verlag vorliegenden Monographie. Ihr Untertitel „Marcel Proust und der große Krieg – Bad Kreuznach und das kaiserliche Hauptquartier“ weist auf die beiden historischen Ereignisse, die der Autor in seinem zweigeteilten Werk zum Gegenstand macht.
Im Spätsommer 1897 begleiteten der 26jährige Marcel Proust und sein Bruder Robert ihre Mutter zu einem Kuraufenthalt nach Kreuznach. Sie logierten im Hotel Oranienhof, das 20 Jahre später der
Obersten Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff als Quartier diente. Diese beiden 20 Jahre auseinander liegenden Ereignisse, die sechswöchige Kur der Prousts und die Strategieplanungen des deutschen Heeres, bildet Zimmermann zu gleichen Teilen in seinem 265-seitigen Buch ab.
Angereichert werden sie von zahlreichen persönlichen Details, die die Familiengeschichte und die Ansichten des Autors vermitteln. Der Literaturwissenschaftler, der sich als Proustliebhaber nicht als Proustforscher sieht, wurde 1940 in Bad Kreuznach geboren, in unmittelbarer Nachbarschaft des Oranienparks, der noch heute vom Standort der einstigen Kurresidenz kündet. Der noble Oranienhof ist der Knotenpunkt, der den Autor mit seinen beiden Sujets verknüpft.
Prousts Tage in der kleinen Stadt an der Nahe lassen sich in seinen schriftlichen Zeugnissen fassen. In einigen Briefen, unter anderem an seinen Geliebten Reynaldo Hahn, beschreibt er das nicht nur für Pariser Verhältnisse geruhsame Leben, welches „Mama gut tat, mir aber weniger“. Marcel erbittet sich Lektüretipps gegen die Langeweile und erwägt eine Stippvisite in Basel, das „nur fünf Stunden mit der Bahn entfernt ist“. Creusnach war ihm einfach zu provinziell, dabei besaß die Bäderstadt in dieser Zeit beachtliche Bedeutung, wie Zimmermann darlegt. Durch Napoleon wurde sie 1897 französisch, durch Blücher 1814 preußisch und durch den Wiesbadener Arzt Prieger stieg sie 1816 zur Kurstadt auf. Die schon von den Römern und im Mittelalter genutzten Solequellen führte der Arzt einem geregelten Kurbetrieb zu, der bald internationale Gäste anzog, darunter Berühmtheiten wie Bettina von Arnim, Brahms oder den Homerübersetzer Johann Heinrich Voss.
Madame Proust, Ehefrau eines prominenten Pariser Arztes, versprach sich von den Quellen eine Linderung ihrer Unterleibsschmerzen. Die in der Bade-Zeitung veröffentlichte Amtliche Fremdenliste erfasst sie und ihre Söhne vom 18. August bis Ende September als Gäste des Hotels Oranienhof. Zimmermann ist es gelungen sowohl den Ort, bei Tadié findet sich noch die falsche Angabe Hotel Kurhaus, als auch den Zeitraum zu korrigieren. Dazu verhalfen ihm Recherchen im Kreuznacher Archiv, aber auch die Lektüre der von Proust hinterlassenen Briefe und Texte im 2007 erschienenen Supplementband der Gesamtausgabe.
Mit der literarischen Umformung des Aufenthaltes hatte Proust es nicht so eilig. Während der sechs Wochen in Kreuznach arbeitete er an Jean Santeuil. Im Jahr 1909 entstand die Skizze Creusnach. Doch auch in der Recherche finden sich Impressionen dieser Reise, besonders im Namen des „Deutschen Premierministers, des Fürsten von Faffenheim-Münsterberg-Weiningen“ und im nachfolgenden kleinen Pasticcio: „Dieser Name enthielt unter den verschiedenen Namen, aus denen er bestand, den eines kleinen deutschen Thermalkurortes, in dem ich als Kind mit meiner Großmutter gewesen war; er lag am Fuße eines Gebirges das Goethe mit seinen Spaziergängen beehrt hatte und aus dessen Rebgelände wir berühmte Weine mit zusammengesetzten Namen, die tönend waren wie die Beiwörter, die Homer seinen Helden verleiht, im Kurhof tranken,…“ (Bd. 3, 358f.)
Doch Zimmermann beschränkt sich nicht auf diese Proustiana. Bereits der Beginn seines Bandes ist stark biographisch geprägt. Anhand seiner Familiengeschichte führt er den Leser in das Jahr des Proustbesuches 1897 ein, das zugleich das Geburtsjahr seines Onkels war. Die ausführliche Ausmalung des Zeitkolorits mündet schließlich in die stimmungsvolle Phantasie einer Begegnung seiner Großmutter, deren Wege sich mit denen des jungen Proust hätten kreuzen können.
In den folgenden Kapiteln wirft der Autor einen Blick auf Prousts Familie, erinnert an die Kreuznacher „Franzosenzeit“ und Marcels kurzen Dienst beim Militär. Nach einem Rekurs auf die Geschichte des Kurbetriebs widmet er die restlichen Kapitels des 1. Teils Proust und dem Jahr 1897, nicht ohne die Affäre Dreyfus unerwähnt zu lassen.
Zimmermanns Stil scheint sich an der Recherche zu orientieren. Der Akt des Erinnerns treibt den Autor an und lässt den Leser in persönlicher Form teilhaben. Dabei gewährt er neben vielen direkten Zitaten auch Einblicke und Interpretationen in Prousts Werk.
Der Übergang zum 2. Teil des Buches, der die Rolle Kreuznachs als kaiserliches Hauptquartier während des 1. Weltkrieges zum Thema hat, wirkt zunächst abrupt. Genau ein Jahr von 1917 bis 1918 war die Kurstadt kaiserliches Hauptquartier. Während der Kaiser im Kurpark den Baumbestand zu Kleinholz zersägte, planten seine Militärs unter Hindenburg und Ludendorff im Oranienhof den Krieg. Auch wenn in der einstigen ersten Adresse unter den Kurherbergen noch reichlich Wein mit klingenden Namen geflossen sein wird, war der Badetourismus seit Kriegsbeginn beendet.
Neben historischen Zusammenfassungen, sei es zur Person Hindenburgs, sei es zum Schlieffen-Plan oder allgemein zum Kiegsgeschehen, steht vor allem das persönliche Urteil Zimmermanns im Vordergrund. Es ist in seiner generellen Verurteilung von Krieg durchaus verständlich, wirkt aber oft verkürzt und bisweilen einfach gesehen, etwa, wenn er die Außenpolitik des europäischen Großmächte mit „dem Niveau einer Horde von Steinzeit-Menschen, die andere Horden mit Keulen und Lanzen bekämpft, um ihnen die Beute abzujagen“ vergleicht.
Mehr Interessse wecken in diesem Teil die von Zimmermann angeführten Quellen. So erfahren wir aus dem Tagebuch eines in Kreuznach stationierten Feldgeistlichen intime Details von einem Abendessen mit der OHL im Oranienhof, nur um nach diesem Zeitdokument wieder im von Hermann Hesse untermauertem Pazifismus abzuschweifen.
Der ungeduldig erwartete Zusammenhang von Proust, Bad Kreuznach und der Obersten Heeresleitung stellt sich jedoch wieder ein, als der Autor einen Brief Marcel Prousts an die einstige Kammerzofe zitiert. Er berichtete darin vom Fronteinsatz seines Bruders und seiner Freunde sowie von vielen, die aus dem Krieg nicht mehr heimkehrten. Die gesellschaftlichen Auswirkungen des Krieges beschreibt Proust im letzten Band seiner Recherche, womit auch Zimmermann sein sehr persönliches Buch abschließt.
Einordnen lässt sich dieses Werk nicht eindeutig, es vereint Forschung, Meinung und Erinnerung über die Heimat und ihre Pfade, die für kurze Zeit ein hochverehrter Literat betrat. Im zweiten Teil wandelt es sich zu einer Streitschrift gegen den Krieg, die heute mehr als je nötig ist, und die doch von den ersten Adressaten nie gelesen werden wird.
Im vorliegenden vom Luzius Keller durchgesehenen Werk, finden sich etwas versteckt auf den Seiten 96 ‑99 Prousts „Creusnach“ aus den Notizbüchern, die im Band „Nachgelassenes und Wiedergefundenes“ der Suhrkamp-Gesamtausgabe 2007 veröffentlicht wurden. Drei Briefe Prousts finden sich im Anhang, der durch ein Literaturverzeichnis, den Grundriss des kaiserlichen Hauptquartiers im Kurhaus und ein Telegramm Ludendorffs ergänzt wird.