Willkommen im Auenland“

Markus Thielemann erzählt in „Von Norden rollt ein Donner” auf spannende Weise über die Ambivalenz eines vermeintlichen Idylls

Un­ten drän­gen sich die Tie­re an­ein­an­der. He­ra und Kasch, die bei­den Hüte­hun­de, um­krei­sen den Pulk. Jan­nes blickt hin­un­ter, die Be­we­gun­gen er­in­nern ihn an Bil­der aus ei­ner Do­ku­men­ta­ti­on über den Welt­raum. Wie Mon­de oder Pla­ne­ten krei­sen sie um die Her­de, das Zen­trum des Alls. Und dann schweift er ab: er hat sei­nen ei­ge­nen dunk­len Wan­de­rer, ei­nen Ge­dan­ken, der seit Ta­gen kommt und geht auf el­lip­ti­scher Bahn, des­sen Gra­vi­ta­ti­on drückt und lähmt, bis ihn die Flieh­kraft ein­mal mehr zu­rück in die Nacht schleu­dert: Pa­pa geht zum Arzt.“

Die Welt, in der Jan­nes kreist, ist ei­ne be­grenz­te. Es ist die Hei­de süd­lich von Lü­ne­burg, in der er mit den Schnu­cken des Fa­mi­li­en­be­triebs um­her­zieht. Fa­mi­lie und Tra­di­ti­on ma­chen ihn zum Schä­fer in die­ser ver­meint­lich idyl­li­schen Land­schaft. Ei­ne Su­che nach der ei­ge­nen Iden­ti­tät, wie sie sei­ne Al­ters­ge­nos­sen un­ter­neh­men, ist un­ter die­sen Um­stän­den nicht nur nicht nö­tig, son­dern un­mög­lich. Das Le­ben scheint vor­ge­zeich­net für den 19-jäh­ri­gen Prot­ago­nis­ten in „Von Nor­den rollt ein Don­ner“, dem zwei­ten und für den dies­jäh­ri­gen Deut­schen Buch­preis no­mi­nier­ten Ro­man des jun­gen Au­tors Mar­kus Thie­le­mann.

Auch wenn der Ti­tel, wie die ört­li­chen Ge­ge­ben­hei­ten und der Ver­lauf der Ge­schich­te zei­gen, in dop­pel­ter Wei­se deut­bar ist, er­zeugt er zu­nächst ei­nen star­ken Be­zug zur Na­tur. Die Na­tur be­stimmt den Be­ruf des Schä­fers, in­dem sie mit Wet­ter und Jah­res­zei­ten den Rhyth­mus dik­tiert. Jan­nes und sei­ne Her­de sind ab­hän­gig von der Flo­ra, dem Ge­dei­hen der Fut­ter­pflan­zen, wie von der Fau­na, die sich im Wohl der Schnu­cken und im Ge­schick der Hüte­hun­de of­fen­bart und mit dem Wolf de­ren Ha­bi­tat be­droht. Jan­nes ist ihm schon bei­na­he be­geg­net. „Der Bo­den in der Sen­ke ist feucht und von Klau­en­spu­ren ver­tre­ten. Er be­trach­tet das Ge­wirr im Sand zu lan­ge und ent­deckt et­was, das ihn be­un­ru­higt: Ab­drü­cke, die nicht von den Klau­en der Schnu­cken stam­men, son­dern von Pfoten.“

Nicht nur dies be­rei­tet dem Fa­mi­li­en­be­trieb Un­bill, der vom knap­pen Ver­dienst ei­nen teu­ren Zaun ge­gen das Raub­tier er­rich­ten muss. Jan­nes‘ Ad­op­tiv-Va­ter be­lau­ert all­nächt­lich das Tier, nicht drau­ßen, son­dern in den Fo­ren, die Sich­tun­gen und Spu­ren mel­den. Sein Ver­hal­ten lei­det dar­un­ter. „Wie sein Va­ter ver­gisst, dass er die Tie­re ge­zählt hat, wie er es im­mer wie­der tut, wie er Zah­len aus­lässt, wie er wahn­sin­nig wird, weil es nie auf­geht, wie in sei­nem In­ne­ren der Ge­dan­ke gärt, dass ein Tier fehlt. Was dann pas­siert, hat Jan­nes erst zwei­mal mit­er­lebt. Sein Va­ter ver­wan­delt sich zu ei­nem an­de­ren Mann. Er wird her­risch, mit wild auf­ge­ris­se­nen Au­gen und zu lau­ter Stim­me. Als wür­de sein Kör­per je­de Angst so­fort in Wut um­wan­deln.“ Oder hat dies doch neu­ro­lo­gi­sche Grün­de? Dar­über spricht man nicht in die­ser vier­köp­fi­gen Fa­mi­lie, die mit Groß­va­ter und Mut­ter auch sämt­li­che Be­triebs­mit­ar­bei­ter um­fasst. Die Groß­mutter lebt seit Jah­ren de­ment im Heim, Jan­nes‘ Schwes­ter ihr ei­ge­nes Le­ben in der Ferne.

Jan­nes bleibt. Es gibt Mo­men­te, in de­nen er die Ar­beit mit den Scha­fen, das Drau­ßen­sein, die Na­tur, die Stil­le schätzt. Aber oft ge­nug, wenn er, nach ei­nem lan­gen Tag mit der Her­de selbst wie ei­nes die­ser Tie­re riecht, fühlt er sich wie „der an­ge­bun­de­ne Bock, der hier am Ran­de sei­ner Wei­de steht und nicht wei­ter­kann“. Der Ver­lust sei­ner Ju­gend, dem der sei­ner Freun­de zu fol­gen droht, bricht sich auf ei­ner Dorf-Par­ty Bahn. Jan­nes fällt in ei­nen psy­chi­schen Aus­nah­me­zu­stand, ver­ur­sacht durch Al­ko­hol und mehr noch durch Druck. Die­se An­fäl­le, in de­nen sein Be­wusst­sein von Vi­sio­nen über­la­gert wird, häu­fen sich. Sie kon­fron­tie­ren ihn mit Ge­scheh­nis­sen, die schließ­lich zu der Na­zi-Ver­gan­gen­heit sei­ner Groß­el­tern füh­ren. Die­se ist ver­knüpft mit der Ge­schich­te der Lü­ne­bur­ger Hei­de, zum Idyll ver­klärt von Her­mann Löns und in­stru­men­ta­li­siert durch die Na­zis. Die­se lie­ßen nicht nur durch Groß­grund­be­sit­zer die­se ver­meint­lich „ur­deut­sche“ Land­schaft öko­no­misch ge­winn­brin­gend prä­gen. Sie er­rich­te­ten mit­ten in ih­rem Idyll Ver­nich­tungs­la­ger wie Ber­gen-Bel­sen. Ei­ne Am­bi­va­lenz, die der Ro­man auch in den ak­tu­el­len Ge­ge­ben­hei­ten spie­gelt. Wan­de­rer su­chen na­tur­ver­bun­de­ne Hei­de-Ro­man­tik, wäh­rend von den nah­ge­le­ge­nen Trup­pen­übungs­plät­zen der Ge­fechts­don­ner grollt. Und seit neu­es­ten macht sich nicht nur der Wolf in die­ser dünn be­sie­del­ten Ge­gend breit, son­dern auch Neo­na­zis und Reichsbürger.

Thie­le­mann dringt im Lau­fe sei­nes Ro­mans von der Ge­gen­wart in die Ver­gan­gen­heit vor und deckt auf die­se Wei­se Hin­ter­grün­de auf, die sich oft als Ge­gen­sät­ze ent­pup­pen. Er nutzt da­bei das Mit­tel der wir­ren Er­in­ne­run­gen, die in den Re­den der de­men­ten Groß­mutter eben­so zu Ta­ge tre­ten wie in den Vi­sio­nen ih­res En­kels. Mit dem Fort­schrei­ten der Ge­schich­te ge­win­nen sie je­doch zu­neh­mend an Klar­heit. So grün­det der ehr­wür­di­ge Fa­mi­li­en­be­trieb auf der Un­tat des Groß­va­ters, das deut­sche Hei­de-Idyll auf der Ver­klä­rung des völ­kisch-na­tio­na­lis­ti­schen Dich­ters Löns. Die Fa­mi­li­en­tra­di­ti­on kon­ter­ka­riert die Zu­kunft der Haupt­fi­gur, die in den Ar­beits­la­gern pro­du­zier­te Welt­kriegs-Mu­ni­ti­on die der heu­te dort statt­fin­den­den Trup­pen­übun­gen. Der Wolf hin­ge­gen bricht eben­so wie sein mensch­li­ches Pen­dant, der Neo­na­zi-Nach­bar, als mah­nen­des Grau­en in das Ge­sche­hen. „Ho­mo ho­mi­ni lu­pus est“ zeigt sich in den Schuld- und Ver­drän­gungs­mo­ti­ven die­ses Ro­mans wie­der ein­mal zu Recht.

Thie­le­mann ge­lingt es die­se schwe­ren The­men mit ei­ner sen­si­blen Sen­so­rik zu er­zäh­len. Die­se macht sich nicht nur in de­tail- wie stim­mungs­rei­chen Na­tur­be­schrei­bun­gen be­merk­bar, son­dern auch in der Art, wie er mit Mit­teln der Spra­che Tö­ne, Ge­rü­che, Ge­schmä­cker und Emp­fin­dun­gen zum Le­ben er­weckt. „Wäh­rend er sich vom Stall ent­fernt, ver­schwin­det der Ma­schi­nen­duft von Rost und Schwer­öl aus sei­ner Na­se, weicht dem her­ben Ge­ruch des Jauchetanks und des Mist­hau­fens, auf dem sich fei­ne Dampf­fä­den kräu­seln, bis hin­ter Jan­nes die Stall­be­leuch­tung wie­der aus­geht. Wei­ter Rich­tung Wohn­haus hängt ein Hauch Zwie­bel im Hof, ver­mischt mit ge­düns­te­ter But­ter. Das Es­sen sei­ner Mut­ter, denkt er.“

Wäh­rend dies ganz klar zum Aus­druck kommt, bleibt an­de­res be­wusst im Un­ge­fäh­ren. Aus Angst und fal­scher Rück­sicht­nah­me spricht in die­ser Fa­mi­lie kei­ner über die Krank­heit des Va­ters, über die Ver­gan­gen­heit, über die wirt­schaft­li­che Not des Be­triebs, letzt­lich über ih­rer al­ler Zu­kunft. Die­se Un­ein­deu­tig­keit und ih­re Über­tra­gung auf den Wolf als äu­ße­res Un­heil, das sie ver­eint, ver­leiht dem Ro­man ei­ne ste­te Grund­span­nung, die Thie­le­mann durch die mys­te­riö­sen Zu­stän­de der Haupt­fi­gur zu ver­stär­ken weiß. Jan­nes‘ An­fäl­le ho­len die Ver­gan­gen­heit in die Ge­gen­wart und klä­ren die Ver­hält­nis­se auf.
„Er hat sich nie be­wußt ge­macht, wie bruch­stück­haft er sei­ne Groß­el­tern kennt.“

Markus Thielemann, Von Norden rollt ein Donner, C. H. Beck Verlag 2024

Zurück zu Mutter Natur

In „Man kann auch in die Höhe fallen“ erzählt Joachim Meyerhoff von der magischen Macht seiner Mutter

Was für ein Spek­ta­kel, dach­te ich, Milch, Blut, Re­gen, Don­ner, Pla­zen­ta und Blit­ze, Mut­ter­glück, neu­es Le­ben und ein nas­ser Mann Mit­te fünfzig.“

Die­ser Satz, der ge­gen En­de von Joa­chim Mey­er­hoffs neu­em Ro­man fällt, kom­pri­miert den In­halt auf wun­der­ba­re Wei­se. Als Prot­ago­nis­ten tau­chen ein Mann Mit­te fünf­zig und sei­ne Mut­ter eben­so auf wie das Thea­ter, des­sen Spek­ta­kel Mey­er­hoff als An­ek­do­ten voll Blitz und Don­ner in­sze­niert, um mit Milch, Blut und Pla­zen­ta, ei­ne be­son­de­re le­bens­lan­ge Ver­bin­dung zu fei­ern. Sie gilt in „Man kann auch in die Hö­he fal­len“, dem sechs­ten Teil der Fa­mi­li­en­ro­man-Rei­he „Al­le To­ten flie­gen hoch“ in be­son­de­rem Ma­ße Mey­er­hoffs Mut­ter wie sei­ner ei­ge­nen Rol­le als Sohn und als Vater.

Mit sei­nen Be­ru­fen, viel­leicht soll­te man bes­ser von Be­ru­fun­gen spre­chen, ha­dert er al­ler­dings eben­so wie mit der deut­schen Haupt­stadt, die nach den Jah­ren in Wien zum neu­en Wohn­ort wur­de. Er möch­te weg von Ber­lin und von sei­nem Busi­ness. Sei­ne Schau­spie­le­rei stellt er eben­so in Fra­ge wie das Schrei­ben, das ihm mit sei­nen au­to­bio­gra­phi­schen Ro­ma­nen bis­lang stets Er­fol­ge be­schert hat. Al­les zerrt an ihm. Er fühlt sich gleich­zei­tig ge­stresst und gelähmt.

Oh­ne wirk­lich zu be­grei­fen, wie es da­zu ge­kom­men war, war ich zu ei­nem Ner­ven­bün­del ge­wor­den, des­sen Un­aus­ge­gli­chen­heit für die mir na­he­ste­hen­den Men­schen mehr und mehr zur Zu­mu­tung wur­de. (…) Angst und Lan­ge­wei­le ver­tru­gen sich ganz aus­ge­zeich­net. Nie hät­te ich es für mög­lich ge­hal­ten, dass man wo­chen­lang auf der fau­len Haut lie­gen und der­art ent­spannt vor sich hin im­plo­die­ren konn­te. Die auf dem So­fa ver­brach­ten Stun­den nah­men bi­zar­re For­men an, und oft wuss­te ich nicht mehr, wo ich auf­hör­te und die Couch be­gann. Wie ein ge­schmol­ze­ner Kä­se war ich in je­de Rit­ze des So­fas hin­ein­ge­flos­sen, hat­te das Sitz­mö­bel mit mir selbst über­ba­cken. Und doch woll­te ich mei­ne Ver­stimmt­heit nicht De­pres­si­on nen­nen oder gar Mid­life­cri­sis, denn es wa­ren ja hand­fes­te Pro­ble­me, die ich hat­te. Seit Wo­chen hat­te ich nichts ge­schrie­ben, und das, ob­wohl sich in mei­nem Kopf die Ge­schich­ten tum­mel­ten. Ber­lin al­ler­dings ent­pupp­te sich als Säu­re­bad, das tag­täg­lich mei­ne In­spi­ra­ti­on zerfraß.“

Viel­leicht ver­mag ei­ne Flucht den Kno­ten lö­sen? Der Er­zäh­ler ent­schei­det sich für nichts Ge­rin­ge­res als die Welt­flucht, die ihn aus der „Zu­rück zu Mut­ter Na­tur“ weiterlesen

Bekenntnisse einer Selbstbezogenen

Rachilde grenzt sich in „Nein, ich bin keine Feministin“ gegen die Frauen ihrer Zeit ab

Aber, wenn man dar­über nach­denkt – hat die mo­der­ne Frau über­haupt ein Ide­al? Ge­wiss, sie möch­te ihr Le­ben aus­kos­ten, lu­xu­ri­ös, oh­ne je­de an­de­re Re­li­gi­on als die ih­rer an­geb­li­chen Gleich­heit. Doch zu­gleich ist sie auch wun­der­lich, ih­rem Ge­hirn fehlt an der Stel­le et­was, wo man Gott, viel­leicht auch die Lie­be und die Lei­den­schaft ent­fernt hat. 
Sie wer­den mir sa­gen, dass der mo­der­ne Mann…
…Aber man hat mich ja nicht ge­be­ten, Ih­nen et­was vom mo­der­nen Mann zu er­zäh­len, nicht wahr?“ 

Ei­nen ver­ges­se­nen Text ei­ner hier­zu­lan­de fast ver­ges­se­nen, aber zu ih­rer Zeit be­rühm­ten Au­torin und Sa­lon­niè­re des Fin de Siè­cle neu zu über­set­zen und auf­zu­le­gen, hat Alex­an­dra Beil­harz mit dem 1928 erst­mals er­schie­nen „Nein, ich bin kei­ne Fe­mi­nis­tin“ von Ra­chil­de (1860–1953) rea­li­siert. Dem Text von knapp 100 Sei­ten geht ein Vor­wort der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin Bar­ba­ra Vin­ken vor­aus. Nach­ge­stellt fin­den sich zwei zeit­ge­nös­si­sche Re­zen­sio­nen aus dem Jahr der Ver­öf­fent­li­chung, ei­ne edi­to­ri­sche No­tiz, ein Bild­nach­weis so­wie ei­ne Kurz­bio­gra­phie über Bar­ba­ra Vin­ken. Über die Au­torin Ra­chil­de bie­tet nur der Klap­pen­text we­ni­ge Zei­len. Er­staun­lich aus­führ­li­che In­for­ma­tio­nen fin­den sich in der eng­li­schen Wi­ki­pe­dia.

Nicht nur als Em­ma-Le­se­rin der Acht­zi­ger fin­de ich ei­nen his­to­ri­schen Text, der sich mit Fe­mi­nis­mus be­schäf­tigt, in­ter­es­sant. Die Ver­lags­an­kün­di­gung spricht von ei­ner „Streit­schrift, in der sie (die Au­torin) den Fe­mi­nis­mus ih­rer Epo­che pro­vo­kant und hu­mor­voll zu­gleich be­schreibt“. Vin­ken spricht im Vor­wort gar von ei­ner „Tra­ves­tie“. Folg­lich er­war­te­te ich ein, wenn auch als Par­odie oder Sa­ti­re ver­klei­de­tes Plä­doy­er für die Gleich­be­rech­ti­gung der Frau. Mein Feh­ler oder ei­ne Fra­ge der De­fi­ni­ti­on? Viel­leicht zäh­le auch ich zu den „Be­kennt­nis­se ei­ner Selbst­be­zo­ge­nen“ weiterlesen

Anekdotenreiches Ahnen-Panorama

Der Österreicher Robert Palfrader blickt in „Ein paar Leben später“ auf seine etruskisch-ladinischen Wurzeln

Fa­mi­lie. Schwie­ri­ger Be­griff. Denn wo Fa­mi­lie be­ginnt, ist leicht de­fi­niert, aber wo hört sie auf? Denn wenn man nur acht Ge­ne­ra­tio­nen nach hin­ten blickt, sind das 256 di­rek­te Vor­fah­ren. Nicht, wenn man ein Habs­bur­ger ist, selbst­ver­ständ­lich. Da muss man mit der Hälf­te zu­frie­den sein. Aber im Nor­mal­fall sind das 256 Leu­te, die eben­falls aus eben­so vie­len Fa­mi­li­en stam­men. Wel­che die­ser Fa­mi­li­en ist jetzt die ei­ge­ne? Oder sind es alle?“

Es sind nicht nur die Da­ckel und die Etrus­ker, die mei­ne Le­se­lust auf Ro­bert Palf­ra­d­ers un­kon­ven­tio­nel­le Fa­mi­li­en­chro­nik „Ein paar Le­ben spä­ter“ ge­weckt ha­ben und für die ich aus nost­al­gi­schen Grün­den ein Fai­ble ha­be. Es ist auch das his­to­ri­sche In­ter­es­se am Le­ben in der heu­te nord­ita­lie­ni­schen Berg­re­gi­on, die vom En­de des 19. bis zur Mit­te des 20. Jahr­hun­derts, dem Hand­lungs­zeit­raum des Ro­mans, ne­ben den na­tur­ge­ge­ben exis­ten­ti­el­len Schwie­rig­kei­ten, zahl­rei­chen Kon­flik­ten aus­ge­setzt war. Palf­ra­d­ers Vor­fah­ren vä­ter­li­cher­seits stam­men aus dem la­di­ni­schen Teil Süd­ti­rols, wie der Au­tor in sei­nem Vor­wort schil­dert, das zu­dem auf die etrus­ki­schen Wur­zeln der La­di­ner ver­weist. Die­ser dop­pel­te Ah­nen­pool wird im wei­te­ren Ver­lauf als sprach­li­ches Er­be der La­di­ner und als ma­te­ri­el­les Er­be der Etrus­ker ei­ne Rol­le spie­len. Eben­so warnt Palf­ra­der, nicht al­les in sei­nem Ah­nen­me­moi­re für ba­re Mün­ze zu neh­men. „Sie ma­chen sich kei­ne Vor­stel­lung da­von, wie oft ich die Un­wahr­heit er­zäh­len wer­de müs­sen, um die Ge­schich­te der Fa­mi­lie mei­nes Va­ters glaub­haft er­schei­nen las­sen zu kön­nen. Denn die gan­ze Wahr­heit kann ich nie­man­dem zu­mu­ten, da­für ist sie zu ab­surd.“ Das weckt Er­war­tun­gen, die al­ler­dings, so­viel vor­weg, durch­aus er­füllt wer­den. „An­ek­do­ten­rei­ches Ah­nen-Pan­ora­ma“ weiterlesen

Dramarama

Céline Spierers Roman „Bevor es geschah“ erreicht den Verstrickungsgrad griechischer Tragödien

»Ich ha­be et­was mit an­ge­se­hen, was ich nicht hät­te se­hen sol­len«, sagt sie mit er­staun­lich ru­hi­ger Stim­me. On­kel John war­tet, und sein Schwei­gen er­mu­tigt sei­ne Nich­te wei­ter­zu­spre­chen. »Es be­trifft un­se­re Fa­mi­lie. Ich ha­be et­was ge­se­hen, das al­les zer­stö­ren könn­te, wenn ich es erzähle. «“

Das an Dra­men rei­che deut­sche De­büt von Cé­li­ne Spie­rer star­tet mit dem gro­ßen, ein Klein­kind wird in ei­nem Pool auf­ge­fun­den, sein Über­le­ben ist un­ge­wiss. Das Un­glück wird im fran­zö­sisch­spra­chi­gen Ori­gi­nal mit „Noya­de“ klar be­nannt. Die von Si­na de Mal­a­fo­s­se ins Deut­sche über­tra­ge­ne Aus­ga­be trägt den Ti­tel „Be­vor es ge­schah“, was zu­gleich für die Kon­struk­ti­on des Ro­mans steht.
Der Ein­stieg mit un­ge­wis­sem En­de bil­det den Aus­gangs­punkt für ei­nen Rück­blick auf den we­ni­ge Stun­den zu­vor be­gon­ne­nen som­mer­li­chen Brunch, zu dem sich die Fa­mi­lie Hay­nes je­des Jahr im Haus der Mut­ter ver­sam­melt. Ei­gent­lich ha­ben al­le kei­ne Lust da­zu, denn wie das so ist, wenn sich Ge­schwis­ter nebst An­hang im El­tern­haus zu­sam­men­fin­den, stö­ren Er­in­ne­run­gen und Er­war­tun­gen die er­hoff­te Harmonie.
So emp­fin­det es Eli­sa­beth, die Ma­tri­ar­chin, wie ih­re Kin­der sie ins­ge­heim nen­nen, eben­so ihr Sohn Win­s­ton und sei­ne „Dra­ma­ra­ma“ weiterlesen

Verdrängung

Julie von Kessel erzählt in „Die anderen sind das weite Meer“ filmreif und mit psychologischem Gespür von der späten Annäherung einer Familie

Ne­ben dem Schrank hing ein Bild, das Lu­ka vor vier­zig Jah­ren ge­malt hat­te: Drei Kin­der und zwei Er­wach­se­ne wa­ren dar­auf zu se­hen, die gan­ze Fa­mi­lie Cra­mer, von der win­zi­gen Ele­na bis zu Ma­ria mit den gro­ßen brau­nen Krin­geln auf dem Kopf. Tom be­trach­te­te es, zum ers­ten Mal fiel ihm auf, dass sie al­le Ber­ge be­stie­gen, doch je­des Fa­mi­li­en­mit­glied er­klomm sei­nen ei­ge­nen Hügel.“

Wenn El­tern äl­ter wer­den, se­hen sich Kin­der oft mit Her­aus­for­de­run­gen kon­fron­tiert. Es meh­ren sich Krank­hei­ten, wie die per­sön­lich­keits­ver­än­dern­de De­menz, die die Be­zie­hun­gen auf den Kopf stel­len. Das gilt be­son­ders für die Kon­stel­la­ti­on von Ge­schwis­tern. Man wohnt ent­fernt und sieht sich sel­ten. Wer küm­mert sich, wenn der Va­ter oder die Mut­ter Hil­fe be­nö­ti­gen? Der Not­wen­dig­keit zu han­deln steht das Ab­schie­ben von Ver­ant­wor­tung ent­ge­gen. Kon­flik­te schei­nen unvermeidlich.

So er­geht es Lu­ka, Tom und Ele­na, als sie er­fah­ren, daß ihr Va­ter zu­neh­mend de­ment wird und in der Nach­bar­schaft her­um­irrt. Hans war einst als Bot­schaf­ter des Aus­wär­ti­gen Amts in Me­xi­ko. Dort lern­te er „Ver­drän­gung“ weiterlesen

Die „schwer erträgliche Leichtigkeit des Cancelns“

In „Der Entmündigte Leser“ führt Melanie Möller einen „leidenschaftlichen Kampf für die Autonomie der Literatur“

Sie ver­ge­hen sich an Kunst und Li­te­ra­tur, und sie wol­len (Literatur)Geschichte um­schrei­ben, in­dem sie sie mo­ra­lisch be­rei­ni­gen, mö­gen die Grün­de für ihr Vor­ge­hen auch mit der Zeit wechseln.“

Ab der Mit­te des 18. Jahr­hun­derts wur­de es in Mu­se­en mo­dern, Stau­en der klas­si­schen An­ti­ke mit Blät­tern zu ver­se­hen, auf daß sie der­art be­klei­det den Blick der Be­trach­ter sitt­sam er­freu­en. Ein Blatt aus Blech, Gips oder Pap­pe ver­hüll­te die Scham ei­nes Apolls oder ei­ner Aphro­di­te, falls die­se es als Ve­nus pu­di­ca nicht gleich selbst be­sorg­te. Zwi­schen den ge­spreiz­ten Bei­nen des da­hin­ge­fläz­ten Bar­ber­ini­schen Fauns brauch­te es so­gar ein mehr­blätt­ri­ges Kon­strukt, String­tan­ga gleich am mar­mor­nen Glu­teus Ma­xi­mus ver­drah­tet. Die al­ten Grie­chen hät­ten sich mehr als ge­wun­dert. Sie dach­ten an An­be­tung und Äs­the­tik, Re­prä­sen­ta­ti­on und Krea­ti­vi­tät. Un­zucht, wie die christ­li­chen Be­trach­ter der nach­fol­gen­den Jahr­hun­der­te die „Die „schwer er­träg­li­che Leich­tig­keit des Can­celns““ weiterlesen

Die Geschichte vom verschwundenen Robert

Der neuaufgelegte Roman „Der Tag, an dem ich meinen toten Mann traf” von Andrea Paluch und Robert Habeck erweist sich im Rückblick als geradezu hellsichtig

Ei­nes Abends frag­te Ro­bert mich, wel­che drei Wün­sche ich aus­schla­gen wür­de, wenn ich wel­che frei hät­te. Aus der Dun­kel­heit pras­sel­te der Re­gen auf die Dach­fens­ter. Mei­ne Au­gen trän­ten, so mü­de war ich. Ich ant­wor­te­te, dass der Tag zwei Stun­den län­ger dau­ert, dass du mir sol­che Fra­gen stellst und dass al­les an­ders wird.“

Ein gu­ter An­fang ver­führt zum Wei­ter­le­sen. Das gilt auch für die­se ers­ten Sät­ze, die das Bild ei­ner glück­li­chen Be­zie­hung leicht ver­klau­su­liert und mit Hu­mor for­mu­lie­ren. Sie stei­gern die Er­war­tungs­hal­tung, doch wird sie auch erfüllt?

Die Neu­gier­de, wel­che Art von fik­tio­na­ler Li­te­ra­tur der am­tie­ren­de Wirt­schafts-Mi­nis­ter ver­fass­te, ließ mich zu die­sem Buch grei­fen. Ro­bert Ha­beck hat be­reits ei­ni­ge Ro­ma­ne ge­schrie­ben, die meis­ten ge­mein­sam mit An­drea Pa­luch, sei­ner Frau. Der vor­lie­gen­de mit dem ver­hei­ßungs­vol­len Ti­tel „Der Tag, an dem ich mei­nen to­ten Mann traf“ er­schien erst­mals im Jahr 2005 und wur­de drei Jah­re spä­ter ver­filmt. Kaum ge­schmä­lert wur­de mein In­ter­es­se durch die Tat­sa­che, daß der „to­te Mann“, der im Ro­man auf un­ter­schied­li­che Wei­sen äu­ßerst vi­tal wirkt, aus­ge­rech­net den Na­men „Ro­bert“ trägt. Hu­mor „Die Ge­schich­te vom ver­schwun­de­nen Ro­bert“ weiterlesen

Scrap

Calla Henkel legt mit „Ein letztes Geschenk“ einen Spannungsroman voll sarkastischer Gesellschaftskritik vor

»Ich ma­che kei­ne Kunst, son­dern Kunst­hand­werk.« Nao­mi leg­te den Kopf schräg. »Was ist der Un­ter­schied?« »Bei Letz­te­rem geht es um den Her­stel­lungs­pro­zess und den spä­te­ren Nut­zen, bei Ers­te­rem um den Markt­wert und ums Ego.« Ich hielt in­ne und sah mich im Re­stau­rant um. »Beim Kunst­hand­werk gibt es kein Ego – je­der kann es er­ler­nen und dar­in zum Meis­ter wer­den. Kunst be­ruht auf der Iso­lie­rung ei­nes Ge­nies, wo­hin­ge­gen Kunst­hand­werk … in­te­ger ist.« Nao­mi schob ih­re Un­ter­lip­pe vor. »Sie hal­ten das al­les hier al­so für Schwach­sinn?« Ich nickte.“

Der Plot von „Ein letz­tes Ge­schenk“, dem zwei­ten Ro­man der ame­ri­ka­ni­schen Au­torin Cal­la Hen­kel, soll nur knapp er­zählt wer­den, da er dem Gen­re der Span­nungs­li­te­ra­tur an­ge­hört. Es­ther, ei­ne be­gab­te Por­trät­künst­le­rin, die aus Frust am Be­trieb in den Wäl­dern North Ca­ro­li­nas hand­ge­bun­de­ne Bü­cher an­fer­tigt, er­hält von ei­ner New Yor­ke­rin Mil­li­ar­dä­rin den Auf­trag zur Her­stel­lung von Scrap­books. Aus den von Nao­mi über Jah­re ge­sam­mel­ten Fo­tos und Do­ku­men­ten sol­len Er­in­ne­rungs­al­ben ent­ste­hen, mit de­nen sie ih­ren Ehe­mann über­ra­schen möch­te. Zu­nächst lehnt Es­ther ab, doch die Um­stän­de zwin­gen sie, den lu­kra­ti­ven Job an­zu­neh­men. Als ih­re Auf­trag­ge­be­rin ver­schwin­det, „Scrap“ weiterlesen

Gerade noch!

Claire Keegan erzählt in „Reichlich spät“ von einem Geizhals mit rigiden Ansichten

Das war ein Teil des Pro­blems: dass sie nicht hö­ren und gut die Hälf­te der Din­ge auf ih­re Wei­se tun wollte.“

Clai­re Kee­gans Er­zäh­lung „Reich­lich spät“ mag mit ih­ren 64 Sei­ten für ei­ne Mo­no­gra­phie et­was knapp be­mes­sen sein, li­te­ra­risch und emo­tio­nal hin­ge­gen ist sie be­ein­dru­ckend. Ganz und gar nicht pa­the­tisch, eher la­ko­nisch und mit hoch­psy­cho­lo­gi­scher Tie­fe er­zählt Kee­gan die Ge­schich­te ei­ner Be­zie­hung. Die Hand­lung spielt an ei­nem Som­mer­tag in Dub­lin, so­gar das Da­tum wird ge­nannt, der 29. Ju­li. War­um, of­fen­bart erst das Ende.

Der per­so­na­le Er­zäh­ler gibt die Sicht ei­nes Man­nes wie­der, Ca­thel, den wir im ers­ten der vier Ka­pi­tel als ver­drucks­ten und schlecht ge­klei­de­ten Bü­ro­an­ge­stell­ten ken­nen­ler­nen. Drau­ßen, so sein Blick aus dem Fens­ter, ge­nie­ßen die Men­schen den Som­mer. Doch Ca­thel be­arg­wöhnt die Freu­de der an­de­ren eben­so wie den blau­en Him­mel. Er nei­det den Kol­le­gen ih­ren gu­ten Ge­schmack für Gar­de­ro­be und hasst sich selbst we­gen ei­nes klei­nen Miss­ge­schicks am Com­pu­ter. Al­les Schö­ne scheint ihm fern. Ca­thel lei­det an ei­nem Ver­lust. „So vie­les im Le­ben ver­lief rei­bungs­los un­ge­ach­tet des Ge­wirrs mensch­li­cher Ent­täu­schung und des Wis­sens, das al­les ein­mal en­den muss.“ 

Wie es da­zu kam, er­zäh­len die bei­den fol­gen­den Ka­pi­tel in der Rück­schau. Auch die­se folgt aus­schließ­lich durch Ca­thel, dem männ­li­chen Part des Paa­res. Sa­bi­ne se­hen wir eben­falls nur durch sei­nen Blick, der je­doch, dank Kee­gans Kunst, so­viel mehr of­fen­bart, als der Prot­ago­nist sich „Ge­ra­de noch!“ weiterlesen