Vielleicht bin ich auch nur eine Nieze aus Plastik?“

In „Kleine Probleme“ von Nele Pollatschek entlädt ein Prokrastinierer seine selbstmitleidige Suada

Ich muss­te oft noch was er­le­di­gen, meis­tens mor­gen, manch­mal aber auch spä­ter oder nächs­te Wo­che oder dem­nächst. Das Pro­blem ist, dass es meis­tens nicht spä­ter war, son­dern eben jetzt, und jetzt rauch­te ich noch ei­ne Zi­ga­ret­te, las noch ei­nen Ar­ti­kel, starr­te auf mein Te­le­fon, wisch­te dem Welt­un­ter­gang hin­ter­her, schau­te nur die­ses ei­ne Vi­deo noch zu En­de, ging noch­mal eben aufs Klo, mach­te schnell noch ei­nen Kaf­fee, be­vor ich dann gleich an­fing, al­so bald, al­so nach­her, al­so viel­leicht doch bes­ser mor­gen, es war ja auch schon spät. Und dann ka­men plötz­lich und fast völ­lig un­er­war­tet die­se Mo­men­te, an de­nen das spä­ter rest­los auf­ge­braucht war, und aus dem jetzt wur­de jetzt oder nie.“

Im Ge­gen­satz zu den Ar­ti­keln der Jour­na­lis­tin Ne­le Pol­lat­schek, die ich we­gen ih­res sub­ti­len Hu­mors sehr ger­ne le­se, hat mich ihr Ro­man „Klei­ne Pro­ble­me“ we­ni­ger über­zeugt, was so­wohl am The­ma wie an sei­ner Aus­füh­rung liegt. Der in­ne­re Mo­no­log ei­nes Man­nes En­de Vier­zig zwingt die Le­ser und erst recht die Le­se­rin­nen auf gut 208 Sei­ten Län­ge auf das Pro­krus­tes­bett. Wenn Lars als wah­rer Pro­kras­ti­na­tor an den Ner­ven sägt, will man nur noch ei­nes, ganz weit weg. Das gilt nicht nur für Jo­han­na, die Frau des An­ti-Hel­den flieht vor des­sen Ver­hal­ten ins fer­ne Lis­sa­bon. Es gilt auch für die Le­se­rin, die die­se Lek­tü­re vor gro­ße Pro­ble­me stell­te. Sie war ge­nervt, auf­ge­bracht und schließ­lich so ge­lang­weilt, daß sie de­ren Fort­set­zung auf­ge­scho­ben, aber den­noch nicht ab­ge­bro­chen hat. Dies mag Pro­gramm sein und von der Au­torin ge­wollt, die ih­ren Stil ge­konnt dem In­halt an­passt. Doch ist das auch schön? Han­delt es sich um Li­te­ra­tur oder um Kla­mauk? Ist das neu oder ab­ge­grif­fen? Le­sens­wert oder lus­tig? Was Stoff für ei­ne Rei­he von Glos­sen lie­fert, taugt nicht im­mer für ei­nen Roman.

Pol­lat­schek ver­frach­tet uns in den Kopf ei­nes voll­ver­peil­ten Va­ters, der am Sil­ves­ter­tag al­lein im voll­ge­müll­ten Fa­mi­li­en­haus sitzt. Es blei­ben nur noch we­ni­ge Stun­den, bis er sei­ne Frau und die bei­den Kin­der wie­der­se­hen wird. Der Schrift­stel­ler oh­ne Werk, der seit Jah­ren auf die­ses hin­lebt, macht ei­ne To-do-Lis­te. Ka­pi­tel­wei­se geht er nun das an, was seit lan­gem lie­gen ge­blie­ben war. Dass die­ses Un­ter­fan­gen den von Auf­schie­be­ri­tis Ge­plag­ten vor Pro­ble­me stellt, über­rascht nicht. Eben­so er­wart­bar sind die Schwie­rig­kei­ten,  die die ein­zel­nen Er­le­di­gun­gen mit sich bringen.

Auf­ga­be Num­mer eins ist der Auf­bau ei­nes Schwe­den-Mö­bels. Statt von Ikea spricht Lars von „Ko­rea“ und buch­sta­biert die Ma­lai­se des Zu­sam­men­schrau­bens bis in die feh­len­den Ein­zel­tei­le aus. Das mag man­che amü­sie­ren, an­de­re ha­ben das schon oft ge­le­sen und ge­hört, zu oft. Schrau­ben und Dü­bel in „Nie­zen“, „Pleu­mel“ oder gar „Hen­ri­et­te Han­ne­lo­re von Hoff­manns­thal“ um­zu­tau­fen, macht die Lek­tü­re auch nicht leich­ter. Ähn­lich lang­wei­lig ge­stal­ten sich die nächs­ten Lis­ten­punk­te. Da wird ge­putzt, erst im Kopf, dann am Ob­jekt. Es folgt die Steu­er­erklä­rung, die wie ei­ne Pra­li­nen­schach­tel ist, „nur oh­ne Scho­ko­la­de. Man greift in die Be­le­ge und weiß selbst nicht, was man be­kommt“.

Wür­de Lars in sei­nem läh­men­den Denk-Durch­fall nicht zu sei­ner Fa­mi­lie und sei­nen Ge­füh­len kom­men, was Hel­den wie Le­se­rin glei­cher­ma­ßen ak­ti­viert, kä­me man nie zum En­de. Die­se Re­fle­xio­nen und Phan­ta­sien er­gie­ßen sich mit den oft red­un­dan­ten Schil­de­run­gen des Pro­kras­ti­nie­rens in ei­nen un­auf­hör­li­chen La­ber­flash. Pol­lat­schek ge­lingt es sehr gut, die in­ne­re Welt des Prot­ago­nis­ten ab­zu­bil­den. Nur stellt sich die Fra­ge, möch­te man in die­se ein­tau­chen? Lars kommt vom Hölz­chen aufs Stöck­chen, vom Dü­bel­chen aufs Püpp­chen und vom Nü­del­chen noch lan­ge nicht zum Nu­del­sa­lat. Sehr er­wach­sen wirkt Lars nicht, auch wenn sei­ne Toch­ter Li­na ihn ei­nen al­ten, wei­ßen Mann nennt. Sich selbst ti­tu­liert er als „Kack­vo­gel“, was eben­so an den Jar­gon ei­nes Spät­pu­ber­tie­ren­den er­in­nert, wie Ab­trei­bung als „weg­ma­chen“ oder Ge­schlechts­or­ga­ne mit „das, da un­ten“ zu be­zeich­nen. Das spie­geln auch Wort­schöp­fun­gen, wie „Ab­lars­brief“, „be­cker­fäus­tend“ oder der Satz, „Li­na hat sich tot­ge­lacht, al­so nicht wirk­lich tot, Li­na lebt natürlich“.

Auch die Auf­ga­ben brin­gen nichts Neu­es. Hat man nicht schon längst al­le Wit­ze über Ikea-Mö­bel und das Schei­tern an ih­nen ge­hört? Mich er­in­nern Lars und sei­ne Pro­ble­me an Pro­gram­me von Co­me­di­ans, die sich in ih­ren Un­zu­läng­lich­kei­ten selbst­mit­lei­dig suh­len. Oder wie es bei Pol­lat­schek aus dem Mund ih­res Prot­ago­nis­ten klin­gen wür­de, „wal­ter­ben­ja­mi­nen“. Man nimmt die­sem Lars nicht ab, nur ei­ne Zei­le die­ses Phi­lo­so­phen ge­le­sen zu ha­ben. Ge­nau­so we­nig, wie Van­der­be­kes „Mu­schel­es­sen“ oder Tol­stois „An­na Ka­re­ni­na“, die als li­te­ra­ri­sche Ver­wei­se zwi­schen all den Wei­ner­lich­kei­ten wa­bern. Viel­leicht sind sie eher der nach Lis­sa­bon ge­flo­he­nen Jo­han­na zu ver­dan­ken, die ihr „Lars-Männ­chen“ ger­ne in fol­gen­des Ge­plän­kel ver­wi­ckelt: „Jo­han­na sagt dann Ach Wal­ter Ben­ja­mi­ne doch nicht wie­der so rum, und ich sa­ge ich dach­te, du Marxt das?, und manch­mal sagt sie dann ich mag dich, mein En­gels oder frei­er, deut­scher Lars, bau auf, und manch­mal lehnt sie sich an mich, so­dass ih­re Haa­re mich ganz leicht am Hals kit­zeln, und dann haucht sie J’Adorno.“

Nele Pollatschek, Kleine Probleme, Kiepenheuer & Witsch 2023

Distanzerfahrung

Iris Wolff erzählt in „Lichtungen“ von „Zugehörigkeit und Fremdsein“

Schon wäh­rend der Ge­sprä­che im Zug war ihm der Ge­dan­ke ge­kom­men, dass al­le Rei­sen­den auf ge­wis­se Wei­se ihr Land ver­tra­ten. Aber durf­ten ein­zel­ne Men­schen und Er­fah­run­gen fürs Gan­ze stehen?“

Ihr Deut­schen lebt in der Stra­ße, seid ganz mit eu­rem Haus ver­wach­sen, zieht die Vor­hän­ge zu, ver­bergt euch im Hof wie ein Fuchs in sei­ner Höh­le. Wir Ru­mä­nen je­doch le­ben auf der Stra­ße, für je­den sicht­bar, an­sprech­bar. Soll­te sich die Stra­ße nei­gen, weg­rut­schen, fal­len wir mit, rut­schen wir mit. Nimmt man euch die Stra­ße, eu­er Haus, was seid ihr dann? – Noch jetzt traf ihn die Un­ter­schei­dung sei­nes Bru­ders in: wir und ihr.“

Im­re war schweig­sam, leb­te für sich. Aber nach Levs Er­mes­sen ta­ten dies al­le: Bre­di­ca, Do­rin, Va­lea, Bu­ni­ca, Fer­ry und auch sei­ne Mut­ter Lis. Das We­sent­li­che teil­ten sie nicht. Selbst bei Ka­to und ihm war das nicht an­ders, auch wenn er sich das manch­mal wünschte.“

Vor kur­zem fiel mir auf dem Dach­bo­den ein Ta­ge­buch in die Hand, ich fing an dar­in zu le­sen und blät­ter­te beim letz­ten Ein­trag be­gin­nend zu­rück. Ganz ähn­lich hat Iris Wolff ih­ren neu­en Ro­man „Lich­tun­gen“ an­ge­legt. Er liest sich wie ein Jour­nal vol­ler Er­leb­nis­se, Be­ob­ach­tun­gen und Ideen und er­zählt sei­ne Ge­schich­te vom En­de her. Da­mit dies auch je­der ver­steht, wer­den die Ka­pi­tel im Count­down ge­zählt. Zu Be­ginn steht die Haupt­fi­gur, Lev, mit Mit­te 30 am En­de sei­ner Ent­wick­lung, so­weit dies den Ro­man be­trifft. Doch wo­von han­delt dieser?

Da ist zum ei­nen die Ge­schich­te zwi­schen dem Mäd­chen Ka­to und dem Jun­gen Lev, die sich als Kin­der be­geg­nen und ei­ne Freund­schaft zu­ein­an­der ent­wi­ckeln, die mit zu­neh­men­dem Al­ter so in­ten­siv wird, daß „Di­stanz­er­fah­rung“ weiterlesen

Io sono una forza del passato”

In „Sinkende Sterne“ schreibt Thomas Hettche gegen das an, „was die puritanische Welt der Angst, die gerade entsteht, mit ihren Vorstellungen von Schuld und Reinheit zum Verschwinden bringen will“

»Wenn wir le­sen, Dschamīl«, sag­te ich lei­se, »ist das so, als ob wir je­man­den an­sä­hen. Wir schau­en ei­nem Frem­den ins Ge­sicht. Und Fremd­heit ist fast das Wich­tigs­te an Li­te­ra­tur. Mo­ral hat da­bei nichts ver­lo­ren, gar nichts.«

Wer sich wie ich über die um sich grei­fen­de Bü­cher-Be­rei­ni­gung är­gert und die­se Ein­grif­fe als gleich­sam ahis­to­risch wie ali­te­ra­risch emp­fin­det, wird „Sin­ken­de Ster­ne“, den neu­en Ro­man von Tho­mas Hett­che, als Plä­doy­er für die Frei­heit der Kunst le­sen. Als Zeu­gen ruft Hett­che die be­rühm­tes­ten Ver­tre­ter der Welt­li­te­ra­tur auf und schafft durch ge­schickt ge­knüpf­te Er­zähl­fä­den ein ge­lehr­tes und gut zu le­sen­des Buch.

Zu­nächst kommt die­ses als Dys­to­pie da­her, wel­che ei­ne durch Kli­ma­wan­del aus­ge­lös­te Na­tur­ge­walt be­schreibt, die mich an Sze­nen von Fer­di­nand Ra­muz er­in­nert. Auch Hett­ches Ro­man spielt in den Schwei­zer Ber­gen. Ein un­ge­heu­rer Berg­sturz hat die Rho­ne ge­staut, die Dör­fer im Tal ver­san­ken in ih­rem Was­ser, im Ober­wal­lis le­ben die Men­schen seit­dem in ei­ner ab­ge­schot­te­ten Welt.

Seit der Lötsch­berg­tun­nel ge­flu­tet ist und der Weg tal­ab­wärts ver­sperrt, ist es fast wie­der wie frü­her (…) Zwölf Päs­se füh­ren aus dem Ober­wal­lis hin­aus, Nufe­nen, Gries, Al­b­run, Rit­ter, Sim­plon, An­tro­na, Mon­te Mo­ro und Theo­dul nach Sü­den, nach Nor­den Grims­el, Lötschen und Gem­mi und nach Os­ten die Fur­ka. Doch fast sechs Mo­na­te im Jahr sind al­le ver­schneit, und das Tal ist verschlossen.“

In die­ses kommt der deut­sche Er­zäh­ler nicht als Ein­dring­ling, son­dern auf An­ord­nung. Ein Fe­ri­en­cha­let, ober­halb von Leuk ge­le­gen, das letz­te Do­mi­zil sei­nes Va­ters, ist nach des­sen Tod in sei­nem Be­sitz. Da die neu ent­stan­de­ne Ge­mein­schaft Iso­la­ti­on als Ide­al be­trach­tet, be­steht Io so­no una for­za del pas­sa­to”“ weiterlesen

Eros und Thanatos

Über den Wald als Ort des Werdens und Vergehens schreibt Anaïs Barbeau-Lavalette in „Sie und der Wald“

Ich las­se mich vom Wald auf­sau­gen. Spü­re, dass ich zu die­sem Bo­den da­zu­ge­hö­ren kann. Zu der Flä­che zwi­schen zwei Bä­chen, der Bie­gung hin­ter dem Fel­sen, der aus­sieht wie ein Ge­sicht, zu dem Erd­pfad, der sich zum Gip­fel schlän­gelt. Ich wer­de für al­les durch­läs­sig, das sich be­wegt, das bebt. Aber nicht mein Kopf in­ter­es­siert sich da­für, son­dern mein Blut. Der feuch­te, süß­li­che Duft der Bal­sam­tan­ne, der er­di­ge, in­ten­si­ve Ge­ruch der Ei­chen. Der per­fekt phra­sier­te Tanz des Perl­farns, der sei­nem Na­men – Ono­clea sen­si­bi­lis – al­le Eh­re macht, wenn er mit sei­nen fi­li­gra­nen Zwei­gen in ei­ner Wel­le von oben nach un­ten so ele­gant mit der Reg­lo­sig­keit bricht. Al­les ist gleich­zei­tig hauch­zart und üp­pig. Ich las­se mich ver­schlu­cken. Kei­ne Haut mehr zwi­schen mir und den Bäu­men. Ich set­ze mich auf ei­nen to­ten Baum, den das Un­wet­ter aus der Er­de ge­ris­sen hat. Die Ber­ge sind zer­furcht von die­sen ge­wal­ti­gen Nar­ben, wie lau­ter mo­nu­men­ta­le Knie­fäl­le vor dem lei­sen Wü­ten der jüngs­ten Zeit. Ein Wald oh­ne ge­ra­de We­ge ist ein glück­li­cher Wald. Er ge­deiht präch­tig, wenn man im Zick­zack zwi­schen den Bäu­men und to­ten Stümp­fen lau­fen muss, in de­nen neu­es Le­ben ge­deiht. Sa­la­man­dern und un­zäh­li­gen In­sek­ten bie­ten sie Un­ter­schlupf und Nah­rung. Ein to­ter Baum trägt ge­nau­so zum Lauf des Le­bens bei wie ein lebendiger.“

Wer mein Blog ver­folgt, weiß, daß ich sehr ger­ne Bü­cher über Men­schen le­se, die sich der Na­tur aus­set­zen. Sie dient dem Rück­zug, wie bei Ho­ward Axel­rod und Do­ris Knecht oder ei­nem Ex­pe­ri­ment, wie es Jür­gen Kö­nig auf ei­ner Hoch­alm un­ter­nahm. Manch­mal liegt in ihr der ein­zi­ge Ort zum Über­le­ben, wie in Er­win Uhr­manns span­nen­der Dys­to­pie „Ich bin die Zu­kunft“.

Ei­ne sol­che ret­ten­de Zu­flucht bie­tet die Na­tur der in Mon­tré­al ge­bo­re­nen Film­re­gis­seu­rin, Dreh­buch­au­to­rin und Schrift­stel­le­rin Anaïs Bar­beau-La­va­let­te. Zu Be­ginn der Co­ro­na-Epi­de­mie zieht sie in die ka­na­di­schen Wäl­der. Dort steht das Blaue Haus, wo sie ge­mein­sam mit ih­rem Mann, ei­nem Freun­des­paar und fünf Kin­dern die Zeit der Iso­la­ti­on über­ste­hen will. Nicht weit ent­fernt, aber doch weit ge­nug in Zei­ten des Ab­stands, ist Bar­beau-La­va­let­te im Ro­ten Haus auf­ge­wach­sen, wo ih­re El­tern nach wie vor le­ben. „Sie und der Wald“ er­zählt folg­lich von ei­ner au­then­ti­schen Be­ge­ben­heit. Wer je­doch denkt, es han­de­le sich um ei­nen Be­richt über die Her­aus­for­de­run­gen, die Zi­vi­li­sa­ti­ons­fer­ne „Eros und Tha­na­tos“ weiterlesen

Die Unregelmässigkeit des Herzens

Bodo Kirchhoff erforscht in „Seit er sein Leben mit einem Tier teilt”  Herzen zwischen Unabhängigkeit und Vertrauen

Nur weil wir je­man­den lie­ben, ist der uns nicht das ei­ge­ne Glück schuldig.“

 Das trü­be Wet­ter zu Jah­res­be­ginn ist nur ein Grund zum neu­en Ro­man von Bo­do Kirch­hoff zu grei­fen. Die­ser trägt zwar den sper­ri­gen Ti­tel „Seit er sein Le­ben mit ei­nem Tier teilt“, lässt sich aber um­so ge­schmei­di­ger le­sen. Mit Sze­nen, die so­fort ei­nen in­ne­ren Film er­zeu­gen, ver­setzt Kirch­hoff sei­ne Le­se­rin an den som­mer­li­chen Gar­da­see. Ei­ne Ge­gend, die der Au­tor sehr gut kennt und be­reits zum Schau­platz sei­nes gro­ßen Ro­mans „Die Lie­be in gro­ben Zü­gen“ mach­te. Die­ser war 2012 für den Deut­schen Buch­preis no­mi­niert, den Kirch­hoff un­ver­ständ­li­cher­wei­se erst 2016 für „Wi­der­fahr­nis“ er­hielt. Ei­gent­lich woll­te ich nur ei­nen Blick auf den Hand­lungs­ort Tor­ri wer­fen — im neu­en Ro­man ein­fach nur T. -, als ich das Buch aus dem Re­gal zog. Doch ich ver­sank er­neut dar­in, wes­halb die schon skiz­zier­te Re­zen­si­on war­ten muss­te. Und dann wur­de sie gleich noch ein­mal auf­ge­scho­ben, da auch „Wo das Meer be­ginnt“ noch­mals ge­le­sen wer­den woll­ten. An­ge­neh­mer lässt es sich nicht prokrastinieren.

Ita­li­en al­so, an Fer­ra­gos­to, nicht di­rekt un­ten an den von Tou­ris­ten über­lau­fe­nen Ge­sta­den des Gar­da­sees, son­dern in ei­nem Häus­chen am Hang, das über stei­le Pfa­de er­schlos­sen und für ein Au­to schwer er­reich­bar ist, was die bei­den weib­li­chen Haut­figu­ren auf ver­schie­de­ne Wei­se er­fah­ren. Gleich zu Be­ginn stran­det Fri­da, die jün­ge­re von bei­den, nach miss­glück­tem Wen­de­ma­nö­ver in der Ein­fahrt des Ru­sti­co, in dem Lou­is Ar­thur Schon­gau­er lebt. Nach dem Tod sei­ner Frau hat sich der einst in Hol­ly­wood für sei­nen „kal­ten Blick aus reh­brau­nen Au­gen“ be­gehr­te Schau­spie­ler zu­rück­ge­zo­gen. Sei­ne ein­zi­ge Ge­fähr­tin, mit der er sich „aus der Zeit und der Er­in­ne­rung“ zu steh­len wünscht, ist Ascha, ei­ne Stra­ßen­hün­din aus Ru­mä­ni­en. Ih­re Ge­sell­schaft ist ihm mehr als ge­nü­gend. Er glaubt, „kein Mensch war je so auf­merk­sam mir ge­gen­über. Ascha weiß nicht, dass es die Lie­be gibt, aber liebt.“

Schon nach we­ni­gen Zei­len ist man mit­ten im Ge­sche­hen, das Kirch­hoff ge­ra­de­zu fil­misch in­sze­niert. Vor bild­rei­cher Ku­lis­se ent­wi­ckelt er in star­ken Dia­lo­gen Be­zie­hun­gen zwi­schen den Prot­ago­nis­ten und er­gänzt sie mit Rück­bli­cken voll tie­fer Emp­fin­dung. Da­bei spart er nicht mit fei­ner Iro­nie, et­wa wenn „Die Un­re­gel­mäs­sig­keit des Her­zens“ weiterlesen

Ein alter Alutopf und eine riesige, rote Couch

In ihren Romanen „Mama Odessa“ und „Baumgartner“ erschaffen Maxim Biller und Paul Auster vielfältige Wege zur Erinnerung und zeigen einige Gemeinsamkeiten

An­na war an sei­ner Sei­te, auf der gan­zen Rei­se gin­gen sie ne­ben­ein­an­der­her, spra­chen mit­ein­an­der, hör­ten ein­an­der zu, wäh­rend sie durch die Räu­me und schwach be­leuch­te­ten Kor­ri­do­re des Pa­lasts der Er­in­ne­rung zo­gen und Hun­der­te gro­ße und klei­ne Din­ge auf­such­ten, die sie in die­sen vier­zig Jah­ren er­lebt hat­ten. Selbst­ver­ständ­lich war sie nicht in Fleisch und Blut bei ihm, aber als er zum ers­ten Mal nach weiß Gott wie lan­ger Zeit ih­re Brie­fe und Ma­nu­skrip­te las, fand er im­mer­hin ih­re Stim­me wie­der, und als er sich in die zahl­lo­sen Fo­tos ver­tief­te, die er und an­de­re Zeit ih­res Le­bens von ihr ge­macht hat­ten, fand er auch ih­ren Kör­per wie­der.“ (Paul Aus­ter, Baumgartner)

„Ich stand jetzt, fast fünf­zig Jah­re spä­ter, vor den bei­den Bil­dern im al­ten Ar­beits­zim­mer mei­ner Mut­ter in der Bie­ber­stra­ße und sah sie mi­nu­ten­lang an. Da­bei ver­such­te ich, mich an mei­ne rus­si­sche Kind­heit zu er­in­nern, oder we­nigs­tens an ein paar Mo­men­te, Ge­rü­che, Bli­cke. Aber da war nichts, gar nichts. Mei­ne Er­in­ne­run­gen be­stan­den fast nur aus al­ten Fo­tos und den Bil­dern, die mein Groß­va­ter nach ih­nen ge­malt hat­te. War ich nicht, dach­te ich plötz­lich, manch­mal bei ihm im Ate­lier in der Mol­do­wan­ka ge­we­sen? Ja, rich­tig. Das Ate­lier war im Erd­ge­schoss, hin­ten, am En­de des Hofs, (…) War­um hat­te ich das ver­ges­sen? War­um er­in­ner­te ich mich plötz­lich dar­an?“ (Ma­xim Bil­ler, Ma­ma Odessa)

Manch­mal, es mag Zu­fall sein, of­fen­ba­ren zwei Ro­ma­ne, die ich oh­ne be­stimm­te Ab­sicht nach­ein­an­der ge­le­sen ha­be, star­ke Ge­mein­sam­kei­ten, die mich ein­fach nicht mehr los­las­sen und zum Wei­ter­den­ken an­re­gen. So er­ging es mir auch mit den neu­en Ro­ma­nen von Ma­xim Bil­ler und Paul Aus­ter, „Ma­ma Odes­sa“ und „Baum­gart­ner“.

Die stärks­te Ge­mein­sam­keit liegt dar­in, wie in den bei­den Wer­ken „Ein al­ter Alutopf und ei­ne rie­si­ge, ro­te Couch“ weiterlesen

Kristalle der Ernüchterung“

Julia Schoch forscht in „Das Liebespaar des Jahrhunderts“ nach den Leerstellen der Liebe

Soll­te ich je­mals ein rich­ti­ges Buch schrei­ben, könn­te es nur eins über dich sein. Wor­über in al­ler Welt, hät­te ich sonst schrei­ben sol­len. Al­le Bü­cher, die ich schrei­ben wür­de, wür­den von dir han­deln, so viel stand fest. (…) Ein Ro­man in ganz ein­fa­chen Wor­ten soll­te es sein. Ein ein­fa­cher Ro­man. Es müss­te et­was sehr Fla­ches, Un­auf­ge­reg­tes sein, dach­te ich, oh­ne ei­ne ge­such­te, kunst­vol­le Form.“

Kann das Selbst­re­fe­ren­ti­el­le der Vor­gän­ger­lek­tü­re über­trof­fen wer­den, frag­ten wir uns beim letz­ten Tref­fen un­se­res Li­te­ra­tur­krei­ses. Ju­lia Scho­ch bringt den Be­weis mit ih­rem neu­en Ro­man, der auf­grund der au­to­bio­gra­phi­schen Aus­rich­tung die­sen Gat­tungs­be­griff viel­leicht gar nicht ver­dient. Nach ih­rem 2022 er­schie­ne­nen Buch „Das Vor­komm­nis“ liegt nun der zwei­te Teil der Tri­lo­gie „Bio­gra­phie ei­ner Frau“ vor.

Das Lie­bes­paar des Jahr­hun­derts“ hat viel von ei­ner psy­cho­lo­gi­schen Be­zie­hungs­ana­ly­se, bei der al­ler­dings nur ein Teil des Paa­res spricht. Doch an­ders als in der Frau­en­li­te­ra­tur der Acht­zi­ger, von vie­len Ver­la­gen ver­öf­fent­licht und noch heu­te in Er­in­ne­rung durch Ti­tel wie Ju­dith Jann­bergs „Ich bin Ich“, fühlt sich die Er­zäh­le­rin nicht aus­schließ­lich als Op­fer des Kris­tal­le der Er­nüch­te­rung““ weiterlesen

Verbotene Liebe

In „Schneeflocken wie Feuer“ erzählt Elfi Conrad von früher

Er könn­te häss­lich sein, bö­se, ur­alt, es wür­de nichts än­dern. Kaum ei­ne Frau kann sich ei­nem sin­gen­den, Gi­tar­re spie­len­den Mann ent­zie­hen. Es spielt kei­ne Rol­le mehr, dass es ei­ne Wet­te war, dass ei­ne Halb­star­ke ih­re Rei­ze tes­ten woll­te, dass es sich um die Macht über ei­nen Vor­ge­setz­ten und die Ra­che ei­ner Ge­de­mü­tig­ten han­del­te. (…) Als ich nicht mehr an mich hal­ten kann, zie­he ich mei­ne San­da­let­ten aus. Sprin­ge auf und tan­ze. (…) Flie­gend durch­bre­che ich die ima­gi­nä­re Wand, von der die Gi­tar­ren­ak­kor­de, die Stim­me, der Mann um­ge­ben ist. Drin­ge ein. Der Mann auf dem Stuhl ist die­ser Be­sitz­ergrei­fung aus­ge­lie­fert, an sei­nen Au­gen kann ich es ablesen.“

Ein nicht un­we­sent­li­cher Teil der Tref­fen un­se­res Li­te­ra­tur­krei­ses ge­hört der Fra­ge, wor­über wir beim nächs­ten Mal dis­ku­tie­ren wol­len. Als Grund­la­ge die­nen uns Emp­feh­lun­gen und Lis­ten au­ßer­halb der ver­kaufs­ori­en­tier­ten des „Spie­gel“, die ich, wenn sie mit „Buch­re­port“ un­ter­ge­hen soll­te, nicht ver­mis­sen wer­de. Es lag al­so nicht fern den 30 Li­te­ra­tur­kri­ti­kern des SWR zu fol­gen, die „Schnee­flo­cken wie Feu­er“ von El­fi Con­rad im Sep­tem­ber auf den ers­ten Platz der Bes­ten­lis­te setz­ten. Dass ei­ne un­se­rer Mit­strei­te­rin­nen im glei­chen Al­ter wie die Au­torin ist und wie die­se als Kriegs­flücht­ling im Harz auf­wuchs, hat nicht un­we­sent­lich zu un­se­rer Ent­schei­dung bei­getra­gen. Un­gleich grö­ße­re bio­gra­phi­sche Über­ein­stim­mung weist Con­rad mit ih­rer Prot­ago­nis­tin Do­ra auf. Dass es sich bei „Schnee­flo­cken wie Feu­er“ um ei­nen aus­ge­spro­chen „Ver­bo­te­ne Lie­be“ weiterlesen

Und wenn es doch wahr ist?“

Charles Ferdinand Ramuz zeigt in seiner 1922 erschienenen Dystopie „Sturz in die Sonne“, wohin die Klimakrise führen könnte

…nun wird sich al­les für al­le Men­schen so sehr än­dern, dass sie sich sel­ber nicht wie­der­erken­nen wer­den, aber vor­erst än­dert sich nichts. (…) Sie stel­len sich nichts vor, das über sie hin­aus­geht. Sie hal­ten die Be­stän­dig­keit der Din­ge für so be­stän­dig, dass sie sich nie­mals än­dern wird.“

Die Ma­ler­dy­nas­tie der Brueg­hels schuf die  be­rühm­ten Wim­mel­bil­der der nie­der­län­di­schen Re­nais­sance, sie zei­gen den Dorf­all­tag, Fes­te und Win­ter­ver­gnü­gen in sze­nen­rei­chen Ta­bleaus. Mit „Tri­umph des To­des“ schuf Pie­ter Brueg­hel der Äl­te­re so­gar ei­ne Dar­stel­lung der Apo­ka­lyp­se, die den vor­lie­gen­den Ro­man von Charles Fer­di­nand Ra­muz vor­treff­lich il­lus­trie­ren könnte.

Sturz in die Son­ne“ er­schien erst­mals im Jahr 1922 un­ter dem Ti­tel „Pré­sence de la mort“. Ra­muz hat­te ihn, wie Ste­ven Wyss, sein Über­set­zer im Nach­wort kennt­nis­reich er­läu­tert, un­ter dem Ein­druck des Gen­fer Hit­ze­som­mers von 1921 ver­fasst. Da­mals wur­den es dort 38,3 Grad heiß. „Nur“ den­ken wir heu­te, da uns die Kli­ma­kri­se weit hö­he­re Tem­pe­ra­tu­ren be­schert. Sie be­schert uns al­ler­dings auch die Wie­der­ent­de­ckung die­ses Ro­mans, auf den Wyss in der Aus­stel­lung „Cli­ma­te Fic­tion“ auf­merk­sam wur­de. Die Ka­ta­stro­phe liegt bei Ra­muz al­ler­dings nicht in mensch­li­cher Ver­ant­wor­tung. Ei­ne Stö­rung im Und wenn es doch wahr ist?““ weiterlesen

Riesenschlamassel

Joshua Cohen hat in seinem neuen Roman vieles erfunden und verfremdet, doch, wie er im Nachwort betont „Die Netanjahus blieben die Netanjahus“

Aus mei­ner Vor­lie­be Li­te­ra­tur wur­de Ge­schich­te, aus der Vor­lie­be al­ler an­de­ren für Buch­hal­tung wur­de Wirt­schafts­leh­re, und Ame­ri­ka blieb Ame­ri­ka. Ich blieb bis zum Ab­schluss­examen an der Co­lum­bia, und nach mut­lo­sem Suh­len im Dun­kel der Lehr­auf­trä­ge wur­de ich der ers­te Ju­de, der je­mals vom Cor­bin Col­lege (da­mals war die Cor­bin Uni­ver­si­ty noch ein schlich­tes Col­lege) an­ge­stellt wur­de, und da­mit mei­ne ich nicht der ers­te jü­di­sche Do­zent mit Aus­sicht auf Pro­fes­sur am His­to­ri­schen Se­mi­nar des Cor­bin Col­lege, son­dern den ers­ten Ju­den über­haupt an der ge­sam­ten Hoch­schu­le – Lehr­kör­per und, so­weit ich das be­ur­tei­len konn­te, Stu­den­ten­schaft eingeschlossen.“

Manch­mal lie­gen die Grün­de für die Aus­wahl ei­ner Lek­tü­re gar nicht so fern. Beim neu­en Ro­man des US-ame­ri­ka­ni­schen Au­tors Jo­shua Co­hen ver­spricht der Ti­tel, „Die Ne­tan­ja­hus“ Ent­hül­lun­gen und der Klap­pen­text viel Le­se­ver­gnü­gen. Wer möch­te nicht ei­ne Ge­schich­te über die Fa­mi­lie ei­nes am­tie­ren­den Mi­nis­ter­prä­si­den­ten, noch da­zu ei­nes stark um­strit­te­nen, le­sen, wenn die­se mit „überbordender Fan­ta­sie und wil­der Ko­mik (…) ein li­te­ra­ri­sches Feu­er­werk“ ent­facht? Dass sie zu­dem mit dem Pu­lit­zer Pri­ce aus­ge­zeich­net wur­de, scheint ei­ne Ne­ben­sa­che, er­wies sich al­ler­dings als ge­eig­net, um mei­nen Li­te­ra­tur­kreis zu die­sem Buch zu verleiten.

Die Ne­tan­ja­hus“ könn­te rein ober­fläch­lich als Cam­pus­ro­man „Rie­sen­schla­mas­sel“ weiterlesen