Joshua Cohen hat in seinem neuen Roman vieles erfunden und verfremdet, doch, wie er im Nachwort betont „Die Netanjahus blieben die Netanjahus“
„Aus meiner Vorliebe Literatur wurde Geschichte, aus der Vorliebe aller anderen für Buchhaltung wurde Wirtschaftslehre, und Amerika blieb Amerika. Ich blieb bis zum Abschlussexamen an der Columbia, und nach mutlosem Suhlen im Dunkel der Lehraufträge wurde ich der erste Jude, der jemals vom Corbin College (damals war die Corbin University noch ein schlichtes College) angestellt wurde, und damit meine ich nicht der erste jüdische Dozent mit Aussicht auf Professur am Historischen Seminar des Corbin College, sondern den ersten Juden überhaupt an der gesamten Hochschule – Lehrkörper und, soweit ich das beurteilen konnte, Studentenschaft eingeschlossen.“
Manchmal liegen die Gründe für die Auswahl einer Lektüre gar nicht so fern. Beim neuen Roman des US-amerikanischen Autors Joshua Cohen verspricht der Titel, „Die Netanjahus“ Enthüllungen und der Klappentext viel Lesevergnügen. Wer möchte nicht eine Geschichte über die Familie eines amtierenden Ministerpräsidenten, noch dazu eines stark umstrittenen, lesen, wenn diese mit „überbordender Fantasie und wilder Komik (…) ein literarisches Feuerwerk“ entfacht? Dass sie zudem mit dem Pulitzer Price ausgezeichnet wurde, scheint eine Nebensache, erwies sich allerdings als geeignet, um meinen Literaturkreis zu diesem Buch zu verleiten.
„Die Netanjahus“ könnte rein oberflächlich als Campusroman durchgehen, spielt er doch 1959/60 an einem College nördlich von New York, wo der Dozent Ruben Blum wegen seiner jüdischen Herkunft über die Berufung eines Wissenschaftlers entscheiden soll, der anders als Blum seinen Glauben auf orthodoxe Weise verinnerlicht hat. Der Gegensatz in der Weltanschauung der Protagonisten, Blum, der sich „in die heidnisch-akademische Welt geflüchtet hatte“, und der Zionist Benzion Netanjahu, hat gehöriges satirisches Potential. Der Umstand, der Familie Blum zwingt, Benzion samt Gattin Zila und den drei Söhnen Yoni, Bibi und Iddo in ihr Zuhause aufzunehmen, lässt auch ohne hellseherische Fähigkeiten die Katastrophe ahnen.
Der Plot klänge überzogen, wäre da nicht ein wahrer Kern. Im Epilog erfahren wir vom jüdischen Autor Joshua Cohen, daß sein Roman auf einer Begebenheit beruht, die ihm der jüdische Literaturwissenschaftler Harold Bloom offenbarte. Der hatte als Dozent am Cornell College einst Benzion Netanjahu beherbergen müssen. Die Herkunft der Beteiligten explizit zu erwähnen, bereitet mir Unbehagen, auch wenn die jüdische Identität in ihren vielfältigen Formen sowie die jüdische Geschichte, die wahre wie die erfundene, in diesem Roman die Hauptrollen spielen. Wer außer einem Juden könnte also davon so drastisch, grotesk, voller Witz und Klischees erzählen?
Joshua Cohen hat gute Gründe, seinem Helden und Ich-Erzähler den Namen Blum zu verleihen. Allerdings wendet sich der als Sohn jüdischer Einwanderer aus Kiew in der Bronx geborene Ruvn Yudl Blum der Historischen Wissenschaft zu und macht als Spezialist für amerikanische Wirtschaftsgeschichte Karriere. Als Emeritus blickt er auf den Beginn seiner Zeit am Corbin College zurück. Sowohl sein Anfänger-Status unter den etablierten Kollegen als auch seine jüdische Herkunft zwingen ihn eine Rolle anzunehmen, die sich als weit unangenehmer erweisen wird, als die jährliche Maskerade als Weihnachtsmann. Dekan Dr. Morse beordert ihn zur Teilnahme an einer Berufungskommission, obgleich Blum weder an der Reihe wäre, noch firm im gefragten Fachgebiet ist. „Die Juden im mittelalterlichen Iberien“ ist der Forschungsschwerpunkt des Bewerbers, dessen Hebräischkenntnisse ihn zum obligatorischen Zweitlehrauftrag im Fachbereich Theologie qualifizieren. Die Lehrkräfte sind rar, Doppelbegabungen werden bevorzugt. Die Hauptbegabung des Bewerbers Benzion Netanjahu liegt allerdings im Zionismus, den er als Nachfolger von Zeev Jabotinsky auf die Fahnen seiner historischen Forschung schreibt.
Seiner These nach verfolgte die Spanische Inquisition die nach der Reconquista freiwillig zum Christentum konvertierten Juden, da „die Katholiken ein Volk zum Hassen brauchten, mussten die Juden ein zum Leiden bestimmtes Volk bleiben“.
„Der Geniestreich der spanischen Inquisition lag nun in der Betonung, dass es sich um eine ethnische Gruppe handelte. (…) Sobald diese neuen Christen wieder zur jüdischen Identität rassifiziert worden waren, konnten sie erneut unterdrückt werden: Sie konnten maßlos besteuert, ihr Eigentum und Vermögen beschlagnahmt werden, und wenn der Adel erst nicht mehr in der Lage war, sie zu schützen, konnten sie ganz aus dem Land vertrieben werden. (…) Indem sie diese Idee verkündete, wurde die spanische Inquisition zur ersten Institution in der Weltgeschichte, die das Judentum in erster Linie als Rasse behandelte.“
Für Ruben, der sich in nächtlicher Lektüre mit der Theorie Netanjahus auseinandersetzt, ist dies keine historische Erkenntnis, sondern ein theologisches Dogma. Seine Zweifel an der Herangehensweise Netanjahus werden durch das Schreiben eines Kollegen von der Hebräischen Universität in Jerusalem bestätigt. „Immer wieder neigt Netanjahu dazu, die jüdische Vergangenheit zu politisieren und ihre Traumata in Propaganda zu verwandeln.“ Die Tragödie der jüdischen Diaspora, so das zionistische Ziel, endet erst mit der Gründung des Staates Israel.
Vielleicht etwas viel der Thesen, wo bleiben die Netanjahus, mögen sich die Leser dieser Rezension fragen. Auch im Roman dauert es eine Weile bis sie auftauchen. Zunächst lernen wir die Blums kennen, Rubens kluge Frau, die darunter leidet, unterschätzt zu werden, seine kluge Tochter, die unter ihrer Nase leidet, seine Eltern und Schwiegereltern, die auf vollkommen konträre Weisen jüdisch sind. Alles Individuen und doch hart am Klischee erzählt. Unweigerlich ertönt Ediths Einwand „Was ist bloß los mit dir? Wer hat irgendwas von Juden gesagt? Ich habe die Nase gestrichen voll, ständig von Juden zu hören. Ich rede von uns beiden.“ Und doch ist man amüsiert.
Blums Schilderungen des Corbin College entwickeln sich zu einer fantastischen Satire auf den Uni-Betrieb. Der Dekan des Historischen Seminars Dr. Morse nimmt „seine Durchschnittlichkeit ganz locker, war beinahe stolz darauf, trug sie wie einen durchsichtigen Professorentalar, unter dem er ein nackter Verwalter war“ und managt sein Institut mittels gerührten Cocktails nach dem Motto „Petite, et dabitur vobis“. Blum fühlt sich als „sein loyalistischer semitischer Kontaktmann und Spion unter den Amerikanisten in Corbins Historischem Seminar“. Es folgen zwei Briefe, die Netanjahu und seine Theorie betreffen, zunächst ein wohlwollender, oberflächlicher von Netanjahus Doktorvater aus einem Rabbinerseminar in Philadelphia, dann der bereits erwähnte. Letzterer setzt sich ebenso mit Netanjahus Theorie auseinander, wie Ruben in seinen Privatstudien um ihr Verständnis ringt. Schließlich wird auch Benzion selbst seine Forschungen vorstellen. Bis dahin vergeht viel Zeit, in der Cohen seinen Humor auslebt. Es beginnt damit, dem jüdischen Historiker Blum ausgerechnet Wirtschaftsgeschichte zuzuteilen, die dieser mit seinem Werk „Eine Geschichte Amerikas in zehn Steuern“ bereichert, und endet noch lange nicht mit dem Nasenkorrektur-Wunsch Judys. Neugier und Geltungsdrang bei den Schwiegereltern stehen Schlitzohrigkeit und Geiz von Rubens Eltern gegenüber. Cohens Witz, der in den theoretischen Passagen subtil auftritt, eskaliert schließlich bei der Ankunft der Netanjahus. Ihr Aussehen wie ein blinkendes Alarmschild vor sich hertragend erscheinen sie wie Hinterwäldler und betragen sich auch so. Cohen zündet seine Groteske Stufe um Stufe bis zum endgültigen Knall. Das Sujet rechtfertigt die Mittel.
Doch wer denkt, es handele sich bei diesem Roman um eine rein jüdische Geschichte gerichtet gegen die rechte Regierung Israels, hat weit gefehlt. Cohen macht sich über alles und jeden lustig und nimmt auch die gegenwärtige Wokeness aufs Korn.