Die Unregelmässigkeit des Herzens

Bodo Kirchhoff erforscht in „Seit er sein Leben mit einem Tier teilt”  Herzen zwischen Unabhängigkeit und Vertrauen

Nur weil wir je­man­den lie­ben, ist der uns nicht das ei­ge­ne Glück schuldig.“

 Das trü­be Wet­ter zu Jah­res­be­ginn ist nur ein Grund zum neu­en Ro­man von Bo­do Kirch­hoff zu grei­fen. Die­ser trägt zwar den sper­ri­gen Ti­tel „Seit er sein Le­ben mit ei­nem Tier teilt“, lässt sich aber um­so ge­schmei­di­ger le­sen. Mit Sze­nen, die so­fort ei­nen in­ne­ren Film er­zeu­gen, ver­setzt Kirch­hoff sei­ne Le­se­rin an den som­mer­li­chen Gar­da­see. Ei­ne Ge­gend, die der Au­tor sehr gut kennt und be­reits zum Schau­platz sei­nes gro­ßen Ro­mans „Die Lie­be in gro­ben Zü­gen“ mach­te. Die­ser war 2012 für den Deut­schen Buch­preis no­mi­niert, den Kirch­hoff un­ver­ständ­li­cher­wei­se erst 2016 für „Wi­der­fahr­nis“ er­hielt. Ei­gent­lich woll­te ich nur ei­nen Blick auf den Hand­lungs­ort Tor­ri wer­fen — im neu­en Ro­man ein­fach nur T. -, als ich das Buch aus dem Re­gal zog. Doch ich ver­sank er­neut dar­in, wes­halb die schon skiz­zier­te Re­zen­si­on war­ten muss­te. Und dann wur­de sie gleich noch ein­mal auf­ge­scho­ben, da auch „Wo das Meer be­ginnt“ noch­mals ge­le­sen wer­den woll­ten. An­ge­neh­mer lässt es sich nicht prokrastinieren.

Ita­li­en al­so, an Fer­ra­gos­to, nicht di­rekt un­ten an den von Tou­ris­ten über­lau­fe­nen Ge­sta­den des Gar­da­sees, son­dern in ei­nem Häus­chen am Hang, das über stei­le Pfa­de er­schlos­sen und für ein Au­to schwer er­reich­bar ist, was die bei­den weib­li­chen Haut­figu­ren auf ver­schie­de­ne Wei­se er­fah­ren. Gleich zu Be­ginn stran­det Fri­da, die jün­ge­re von bei­den, nach miss­glück­tem Wen­de­ma­nö­ver in der Ein­fahrt des Ru­sti­co, in dem Lou­is Ar­thur Schon­gau­er lebt. Nach dem Tod sei­ner Frau hat sich der einst in Hol­ly­wood für sei­nen „kal­ten Blick aus reh­brau­nen Au­gen“ be­gehr­te Schau­spie­ler zu­rück­ge­zo­gen. Sei­ne ein­zi­ge Ge­fähr­tin, mit der er sich „aus der Zeit und der Er­in­ne­rung“ zu steh­len wünscht, ist Ascha, ei­ne Stra­ßen­hün­din aus Ru­mä­ni­en. Ih­re Ge­sell­schaft ist ihm mehr als ge­nü­gend. Er glaubt, „kein Mensch war je so auf­merk­sam mir ge­gen­über. Ascha weiß nicht, dass es die Lie­be gibt, aber liebt.“

Schon nach we­ni­gen Zei­len ist man mit­ten im Ge­sche­hen, das Kirch­hoff ge­ra­de­zu fil­misch in­sze­niert. Vor bild­rei­cher Ku­lis­se ent­wi­ckelt er in star­ken Dia­lo­gen Be­zie­hun­gen zwi­schen den Prot­ago­nis­ten und er­gänzt sie mit Rück­bli­cken voll tie­fer Emp­fin­dung. Da­bei spart er nicht mit fei­ner Iro­nie, et­wa wenn Fri­da zum Früh­stück in ei­nem T‑Shirt mit der Auf­schrift „Help yours­elf“ er­scheint oder Al­mut Stein von Goog­le Maps in das We­ge­wirr­warr hin­ter dem Ru­sti­co ge­schickt wird. Man fragt sich, ob Kirch­hoff bei den Schreib­se­mi­na­ren, die er in sei­nem Haus am Gar­da­see gibt, schon Ähn­li­ches er­lebt hat. In sei­nem Ro­man bie­tet die­ses Miss­ge­schick die Ge­le­gen­heit, die Oli­ven­hai­ne, Pfa­de und Wein­ber­ge zu be­schrei­ben und den als Lot­sen po­si­tio­nier­ten Schon­gau­er sei­nem weib­li­chen Gast nä­her­kom­men zu las­sen. Es bahnt sich et­was an in der Ein­sie­de­lei des Schau­spie­lers, die nun ganz ent­ge­gen der Fei­er­tags-Stil­le des Fer­ra­gos­to, nicht mehr nur ei­nen Mann und sei­ne Hün­din be­her­bergt. In de­ren Zwei­sam­keit drin­gen die 24-jäh­ri­ge Rei­se­blog­ge­rin und die dop­pelt so al­te Jour­na­lis­tin, wel­che wie­der­rum ein wei­te­res Vier­tel­jahr­hun­dert von Schon­gau­er trennt. Der fühlt sich durch die An­we­sen­heit der frem­den Frau­en her­aus­ge­for­dert. Nicht nur emp­fin­det er sich seit dem Tod sei­ner Frau als Ere­mit, son­dern seit je­her als ein Mann, dem die Frau­en zu­set­zen. So ver­wun­dert es nicht, daß der Hei­li­ge An­to­ni­us in die­sem Ro­man auf­taucht, ei­ne Spie­gel­fi­gur, wie es der Hei­li­ge Fran­zi­kus in „Die Lie­be in gro­ben Zü­gen“ ist. Nur be­glei­tet das Mar­ty­ri­um des An­to­ni­us die Hand­lung nicht als Bin­nen­er­zäh­lung, son­dern es be­geg­net beim Be­trach­ten ei­nes Bil­des, bei der Lek­tü­re und in Film­sze­nen. Das Bild, es han­delt sich um ei­nen Druck nach dem Kup­fer­stich „Die Ver­su­chung des Hei­li­gen An­to­ni­us“ von Mar­tin Schon­gau­er, ist im Bad des Ru­sti­co so plat­ziert, daß Ge­le­gen­heit zum Ver­tie­fen be­steht, zu­dem kann der In­ter­es­sier­te im da­ne­ben lie­gen­den Buch das Dar­ge­stell­te in Flau­berts Wor­ten le­sen. Der Schau­spie­ler Schon­gau­er scheint die­ser Hei­li­gen­vi­ta schon lan­ge ver­fal­len. Das Schick­sal des von „weib­li­chen Schau­der­we­sen“ be­dräng­ten, zu­gleich an­ge­zo­gen wie ab­ge­sto­ße­nen An­to­ni­us mach­te er so­gar zum Film­pro­jekt, mit ihm selbst in der Haupt­rol­le. Kirch­hoff gibt sei­nem Schon­gau­er auch im Ro­man die Rol­le des An­to­ni­us. In der Na­tur am See fin­den sich ganz ähn­li­che We­sen wie auf dem Bild im Bad, dra­chen­ge­stal­ti­ge Ei­dech­sen, Fal­ter mit rie­si­gen Pelz­flü­geln, Kat­zen, Krä­hen und Fle­der­mäu­se. Und wie An­to­ni­us wird Schon­gau­er um­ge­ben von Frau­en­ge­stal­ten, in der Rea­li­ät und in der Er­in­ne­rung, die ihm zu­set­zen, de­nen er sich in sei­nem Al­ter und Zu­stand nur noch be­dingt ge­wach­sen fühlt. „Schon­gau­er weiß um sein Mas­si­ves und zu­gleich Dünn­häu­ti­ges, seit er auf dem Hang lebt und sein Le­ben mit ei­nem Tier teilt, um das Sei­de­ne, an dem al­les hängt“. Ihn pla­gen die Frau­en sei­ner Ver­gan­gen­heit. Sei­ne ver­häng­nis­vol­le Af­fä­re mit der Kos­tüm­bild­ne­rin des An­to­ni­us-Films eben­so wie die un­glei­che Lie­bes­be­zie­hung mit sei­ner ver­stor­be­nen Frau Mag­da. Die be­kann­te Tier­fo­to­gra­fin ver­dank­te ih­re Kar­rie­re ei­ner ei­gen­wil­li­gen Un­ab­hän­gig­keit, be­schä­dig­te durch sie ih­re Ehe mit Schon­gau­er und op­fer­te ihr letzt­lich das Leben.

Von Un­ab­hän­gig­keit ge­trie­ben sind auch die Frau­en­ge­stal­ten in Schon­gau­ers Ge­gen­wart. Un­wil­lig el­ter­li­chen Er­war­tun­gen ge­gen­über ist die jun­ge Fri­da im Cam­per un­ter­wegs. „Geh‘ aus mein Herz und su­che“, so der Ti­tel ih­res Rei­se­blogs, ist ihr Pro­gramm. Durch ju­gend­li­chen Leicht­sinn sitzt sie nun bei Schon­gau­er fest und stellt ihm neu­gie­ri­ge Fra­gen. So wie Fri­da den Ein­fluss ih­rer El­tern flieht, flieht die Jour­na­lis­tin vor den Pro­ble­men ih­rer Ehe. Das In­ter­view, das sie mit dem Schau­spie­ler, der längst kein Star mehr ist, füh­ren möch­te, er­scheint die­sem nur vor­ge­scho­ben. In sei­ner Skep­sis nennt Schon­gau­er sie zu­nächst „Die Stein“. Er fühlt sich wie An­to­ni­us von Frau­en be­drängt. Ei­gent­lich will er sie nicht in sei­ner Nä­he ha­ben, kein In­ter­view ge­ben müs­sen, kei­ne Fra­gen be­ant­wor­ten, die Ver­gan­gen­heit be­gra­ben las­sen. Und gleich­zei­tig geht es ihm wie dem Hei­li­gen, „Er möch­te um­keh­ren, aber ei­ne un­be­stimm­te Neu­gier treibt ihn vor­wärts“. Es ent­steht Ver­trau­en, vor al­lem zu Fri­da, für die Schon­gau­er vä­ter­li­che Ge­füh­le ent­wi­ckelt. Al­mut hin­ge­gen möch­te er Zu­gang zu sei­nem „ver­küm­mer­ten Her­zen ge­wäh­ren“, um nicht wie die ein­sa­men Al­ten des Orts in der Bar zu lan­den „mit ei­nem Glas ge­gen das Nichts“.

Kirch­hoff ge­lingt es, Ge­füh­le fein­füh­lig und in­ten­siv zu­gleich zu schil­dern. Sei­ne Prot­ago­nis­ten, al­len vor­an Schon­gau­er, stat­tet er mit gro­ßer Sen­si­bi­li­tät für ihr Ge­gen­über aus, sei es Mensch oder Tier. Mit­un­ter ent­ste­hen Ein­sich­ten zu Un­ab­hän­gig­keit und Ver­trau­en, zu Lie­be und Ein­sam­keit, die wei­se sind. Doch bleibt der Hu­mor nicht aus, er dreht an­läss­lich der Fi­gur von Fri­das Mut­ter, ei­ner al­les an sich rei­ßen­den Fern­seh­pro­mi­nen­ten, re­gel­recht auf, noch die ero­ti­sche Span­nung, die Kirch­hoff in ei­nem Boots­aus­flug ge­mein­sam mit auf­tür­men­den Ge­wit­ter­wol­ken an­wach­sen lässt. „Und so ei­ne Fahrt hat er sich oft ge­wünscht: mit ei­ner Frau, die noch ein­mal sein In­ter­es­se weckt, ihn sich selbst über­tref­fen lässt, auch wenn man nie weiß, wo das endet.“

Wo die Lek­tü­re die­ses Ro­mans en­de­te, da­von hat die Re­zen­sen­tin be­reits berichtet.

Bodo Kirchhoff, Seit er sein Leben mit einem Tier teilt, dtv 2024

 

 

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