Die Unregelmässigkeit des Herzens

Bodo Kirchhoff erforscht in „Seit er sein Leben mit einem Tier teilt”  Herzen zwischen Unabhängigkeit und Vertrauen

Nur weil wir je­man­den lie­ben, ist der uns nicht das ei­ge­ne Glück schuldig.“

 Das trü­be Wet­ter zu Jah­res­be­ginn ist nur ein Grund zum neu­en Ro­man von Bo­do Kirch­hoff zu grei­fen. Die­ser trägt zwar den sper­ri­gen Ti­tel „Seit er sein Le­ben mit ei­nem Tier teilt“, lässt sich aber um­so ge­schmei­di­ger le­sen. Mit Sze­nen, die so­fort ei­nen in­ne­ren Film er­zeu­gen, ver­setzt Kirch­hoff sei­ne Le­se­rin an den som­mer­li­chen Gar­da­see. Ei­ne Ge­gend, die der Au­tor sehr gut kennt und be­reits zum Schau­platz sei­nes gro­ßen Ro­mans „Die Lie­be in gro­ben Zü­gen“ mach­te. Die­ser war 2012 für den Deut­schen Buch­preis no­mi­niert, den Kirch­hoff un­ver­ständ­li­cher­wei­se erst 2016 für „Wi­der­fahr­nis“ er­hielt. Ei­gent­lich woll­te ich nur ei­nen Blick auf den Hand­lungs­ort Tor­ri wer­fen — im neu­en Ro­man ein­fach nur T. -, als ich das Buch aus dem Re­gal zog. Doch ich ver­sank er­neut dar­in, wes­halb die schon skiz­zier­te Re­zen­si­on war­ten muss­te. Und dann wur­de sie gleich noch ein­mal auf­ge­scho­ben, da auch „Wo das Meer be­ginnt“ noch­mals ge­le­sen wer­den woll­ten. An­ge­neh­mer lässt es sich nicht prokrastinieren.

Ita­li­en al­so, an Fer­ra­gos­to, nicht di­rekt un­ten an den von Tou­ris­ten über­lau­fe­nen Ge­sta­den des Gar­da­sees, son­dern in ei­nem Häus­chen am Hang, das über stei­le Pfa­de er­schlos­sen und für ein Au­to schwer er­reich­bar ist, was die bei­den weib­li­chen Haut­figu­ren auf ver­schie­de­ne Wei­se er­fah­ren. Gleich zu Be­ginn stran­det Fri­da, die jün­ge­re von bei­den, nach miss­glück­tem Wen­de­ma­nö­ver in der Ein­fahrt des Ru­sti­co, in dem Lou­is Ar­thur Schon­gau­er lebt. Nach dem Tod sei­ner Frau hat sich der einst in Hol­ly­wood für sei­nen „kal­ten Blick aus reh­brau­nen Au­gen“ be­gehr­te Schau­spie­ler zu­rück­ge­zo­gen. Sei­ne ein­zi­ge Ge­fähr­tin, mit der er sich „aus der Zeit und der Er­in­ne­rung“ zu steh­len wünscht, ist Ascha, ei­ne Stra­ßen­hün­din aus Ru­mä­ni­en. Ih­re Ge­sell­schaft ist ihm mehr als ge­nü­gend. Er glaubt, „kein Mensch war je so auf­merk­sam mir ge­gen­über. Ascha weiß nicht, dass es die Lie­be gibt, aber liebt.“

Schon nach we­ni­gen Zei­len ist man mit­ten im Ge­sche­hen, das Kirch­hoff ge­ra­de­zu fil­misch in­sze­niert. Vor bild­rei­cher Ku­lis­se ent­wi­ckelt er in star­ken Dia­lo­gen Be­zie­hun­gen zwi­schen den Prot­ago­nis­ten und er­gänzt sie mit Rück­bli­cken voll tie­fer Emp­fin­dung. Da­bei spart er nicht mit fei­ner Iro­nie, et­wa wenn Fri­da zum Früh­stück in ei­nem T‑Shirt mit der Auf­schrift „Help yours­elf“ er­scheint oder Al­mut Stein von Goog­le Maps in das We­ge­wirr­warr hin­ter dem Ru­sti­co ge­schickt wird. Man fragt sich, ob Kirch­hoff bei den Schreib­se­mi­na­ren, die er in sei­nem Haus am Gar­da­see gibt, schon Ähn­li­ches er­lebt hat. In sei­nem Ro­man bie­tet die­ses Miss­ge­schick die Ge­le­gen­heit, die Oli­ven­hai­ne, Pfa­de und Wein­ber­ge zu be­schrei­ben und den als Lot­sen po­si­tio­nier­ten Schon­gau­er sei­nem weib­li­chen Gast nä­her­kom­men zu las­sen. Es bahnt sich et­was an in der Ein­sie­de­lei des Schau­spie­lers, die nun ganz ent­ge­gen der Fei­er­tags-Stil­le des Fer­ra­gos­to, nicht mehr nur ei­nen Mann und sei­ne Hün­din be­her­bergt. In de­ren Zwei­sam­keit drin­gen die 24-jäh­ri­ge Rei­se­blog­ge­rin und die dop­pelt so al­te Jour­na­lis­tin, wel­che wie­der­rum ein wei­te­res Vier­tel­jahr­hun­dert von Schon­gau­er trennt. Der fühlt sich durch die An­we­sen­heit der frem­den Frau­en her­aus­ge­for­dert. Nicht nur emp­fin­det er sich seit dem Tod sei­ner Frau als Ere­mit, son­dern seit je­her als ein Mann, dem die Frau­en zu­set­zen. So ver­wun­dert es nicht, daß der Hei­li­ge An­to­ni­us in die­sem Ro­man auf­taucht, ei­ne Spie­gel­fi­gur, wie es der Hei­li­ge Fran­zi­kus in „Die Lie­be in gro­ben Zü­gen“ ist. Nur be­glei­tet das Mar­ty­ri­um des An­to­ni­us die Hand­lung nicht als Bin­nen­er­zäh­lung, son­dern es be­geg­net beim Be­trach­ten ei­nes Bil­des, bei der Lek­tü­re und in Film­sze­nen. Das Bild, es han­delt sich um ei­nen Druck nach dem Kup­fer­stich „Die Ver­su­chung des Hei­li­gen An­to­ni­us“ von Mar­tin Schon­gau­er, ist im Bad des Ru­sti­co so plat­ziert, daß Ge­le­gen­heit zum Ver­tie­fen be­steht, zu­dem kann der In­ter­es­sier­te im da­ne­ben lie­gen­den Buch das Dar­ge­stell­te in Flau­berts Wor­ten le­sen. Der Schau­spie­ler Schon­gau­er scheint die­ser Hei­li­gen­vi­ta schon lan­ge ver­fal­len. Das Schick­sal des von „weib­li­chen Schau­der­we­sen“ be­dräng­ten, zu­gleich an­ge­zo­gen wie ab­ge­sto­ße­nen An­to­ni­us mach­te er so­gar zum Film­pro­jekt, mit ihm selbst in der Haupt­rol­le. Kirch­hoff gibt sei­nem Schon­gau­er auch im Ro­man die Rol­le des An­to­ni­us. In der Na­tur am See fin­den sich ganz ähn­li­che We­sen wie auf dem Bild im Bad, dra­chen­ge­stal­ti­ge Ei­dech­sen, Fal­ter mit rie­si­gen Pelz­flü­geln, Kat­zen, Krä­hen und Fle­der­mäu­se. Und wie An­to­ni­us wird Schon­gau­er um­ge­ben von Frau­en­ge­stal­ten, in der Rea­li­ät und in der Er­in­ne­rung, die ihm zu­set­zen, de­nen er sich in sei­nem Al­ter und Zu­stand nur noch be­dingt ge­wach­sen fühlt. „Schon­gau­er weiß um sein Mas­si­ves und zu­gleich Dünn­häu­ti­ges, seit er auf dem Hang lebt und sein Le­ben mit ei­nem Tier teilt, um das Sei­de­ne, an dem al­les hängt“. Ihn pla­gen die Frau­en sei­ner Ver­gan­gen­heit. Sei­ne ver­häng­nis­vol­le Af­fä­re mit der Kos­tüm­bild­ne­rin des An­to­ni­us-Films eben­so wie die un­glei­che Lie­bes­be­zie­hung mit sei­ner ver­stor­be­nen Frau Mag­da. Die be­kann­te Tier­fo­to­gra­fin ver­dank­te ih­re Kar­rie­re ei­ner ei­gen­wil­li­gen Un­ab­hän­gig­keit, be­schä­dig­te durch sie ih­re Ehe mit Schon­gau­er und op­fer­te ihr letzt­lich das Leben.

Von Un­ab­hän­gig­keit ge­trie­ben sind auch die Frau­en­ge­stal­ten in Schon­gau­ers Ge­gen­wart. Un­wil­lig el­ter­li­chen Er­war­tun­gen ge­gen­über ist die jun­ge Fri­da im Cam­per un­ter­wegs. „Geh‘ aus mein Herz und su­che“, so der Ti­tel ih­res Rei­se­blogs, ist ihr Pro­gramm. Durch ju­gend­li­chen Leicht­sinn sitzt sie nun bei Schon­gau­er fest und stellt ihm neu­gie­ri­ge Fra­gen. So wie Fri­da den Ein­fluss ih­rer El­tern flieht, flieht die Jour­na­lis­tin vor den Pro­ble­men ih­rer Ehe. Das In­ter­view, das sie mit dem Schau­spie­ler, der längst kein Star mehr ist, füh­ren möch­te, er­scheint die­sem nur vor­ge­scho­ben. In sei­ner Skep­sis nennt Schon­gau­er sie zu­nächst „Die Stein“. Er fühlt sich wie An­to­ni­us von Frau­en be­drängt. Ei­gent­lich will er sie nicht in sei­ner Nä­he ha­ben, kein In­ter­view ge­ben müs­sen, kei­ne Fra­gen be­ant­wor­ten, die Ver­gan­gen­heit be­gra­ben las­sen. Und gleich­zei­tig geht es ihm wie dem Hei­li­gen, „Er möch­te um­keh­ren, aber ei­ne un­be­stimm­te Neu­gier treibt ihn vor­wärts“. Es ent­steht Ver­trau­en, vor al­lem zu Fri­da, für die Schon­gau­er vä­ter­li­che Ge­füh­le ent­wi­ckelt. Al­mut hin­ge­gen möch­te er Zu­gang zu sei­nem „ver­küm­mer­ten Her­zen ge­wäh­ren“, um nicht wie die ein­sa­men Al­ten des Orts in der Bar zu lan­den „mit ei­nem Glas ge­gen das Nichts“.

Kirch­hoff ge­lingt es, Ge­füh­le fein­füh­lig und in­ten­siv zu­gleich zu schil­dern. Sei­ne Prot­ago­nis­ten, al­len vor­an Schon­gau­er, stat­tet er mit gro­ßer Sen­si­bi­li­tät für ihr Ge­gen­über aus, sei es Mensch oder Tier. Mit­un­ter ent­ste­hen Ein­sich­ten zu Un­ab­hän­gig­keit und Ver­trau­en, zu Lie­be und Ein­sam­keit, die wei­se sind. Doch bleibt der Hu­mor nicht aus, er dreht an­läss­lich der Fi­gur von Fri­das Mut­ter, ei­ner al­les an sich rei­ßen­den Fern­seh­pro­mi­nen­ten, re­gel­recht auf, noch die ero­ti­sche Span­nung, die Kirch­hoff in ei­nem Boots­aus­flug ge­mein­sam mit auf­tür­men­den Ge­wit­ter­wol­ken an­wach­sen lässt. „Und so ei­ne Fahrt hat er sich oft ge­wünscht: mit ei­ner Frau, die noch ein­mal sein In­ter­es­se weckt, ihn sich selbst über­tref­fen lässt, auch wenn man nie weiß, wo das endet.“

Wo die Lek­tü­re die­ses Ro­mans en­de­te, da­von hat die Re­zen­sen­tin be­reits berichtet.

Bodo Kirchhoff, Seit er sein Leben mit einem Tier teilt, dtv 2024

 

 

Ein alter Alutopf und eine riesige, rote Couch

In ihren Romanen „Mama Odessa“ und „Baumgartner“ erschaffen Maxim Biller und Paul Auster vielfältige Wege zur Erinnerung und zeigen einige Gemeinsamkeiten

An­na war an sei­ner Sei­te, auf der gan­zen Rei­se gin­gen sie ne­ben­ein­an­der­her, spra­chen mit­ein­an­der, hör­ten ein­an­der zu, wäh­rend sie durch die Räu­me und schwach be­leuch­te­ten Kor­ri­do­re des Pa­lasts der Er­in­ne­rung zo­gen und Hun­der­te gro­ße und klei­ne Din­ge auf­such­ten, die sie in die­sen vier­zig Jah­ren er­lebt hat­ten. Selbst­ver­ständ­lich war sie nicht in Fleisch und Blut bei ihm, aber als er zum ers­ten Mal nach weiß Gott wie lan­ger Zeit ih­re Brie­fe und Ma­nu­skrip­te las, fand er im­mer­hin ih­re Stim­me wie­der, und als er sich in die zahl­lo­sen Fo­tos ver­tief­te, die er und an­de­re Zeit ih­res Le­bens von ihr ge­macht hat­ten, fand er auch ih­ren Kör­per wie­der.“ (Paul Aus­ter, Baumgartner)

„Ich stand jetzt, fast fünf­zig Jah­re spä­ter, vor den bei­den Bil­dern im al­ten Ar­beits­zim­mer mei­ner Mut­ter in der Bie­ber­stra­ße und sah sie mi­nu­ten­lang an. Da­bei ver­such­te ich, mich an mei­ne rus­si­sche Kind­heit zu er­in­nern, oder we­nigs­tens an ein paar Mo­men­te, Ge­rü­che, Bli­cke. Aber da war nichts, gar nichts. Mei­ne Er­in­ne­run­gen be­stan­den fast nur aus al­ten Fo­tos und den Bil­dern, die mein Groß­va­ter nach ih­nen ge­malt hat­te. War ich nicht, dach­te ich plötz­lich, manch­mal bei ihm im Ate­lier in der Mol­do­wan­ka ge­we­sen? Ja, rich­tig. Das Ate­lier war im Erd­ge­schoss, hin­ten, am En­de des Hofs, (…) War­um hat­te ich das ver­ges­sen? War­um er­in­ner­te ich mich plötz­lich dar­an?“ (Ma­xim Bil­ler, Ma­ma Odessa)

Manch­mal, es mag Zu­fall sein, of­fen­ba­ren zwei Ro­ma­ne, die ich oh­ne be­stimm­te Ab­sicht nach­ein­an­der ge­le­sen ha­be, star­ke Ge­mein­sam­kei­ten, die mich ein­fach nicht mehr los­las­sen und zum Wei­ter­den­ken an­re­gen. So er­ging es mir auch mit den neu­en Ro­ma­nen von Ma­xim Bil­ler und Paul Aus­ter, „Ma­ma Odes­sa“ und „Baum­gart­ner“.

Die stärks­te Ge­mein­sam­keit liegt dar­in, wie in den bei­den Wer­ken „Ein al­ter Alutopf und ei­ne rie­si­ge, ro­te Couch“ weiterlesen

Gehen und Verstehen

Andreas Schäfers „Die Schuhe meines Vaters“ ist Trauerritual und Totengesang zugleich

Ge­den­ken oh­ne Wor­te. Er­in­nern­der Ab­schied durch Wie­der­ho­lung von Hand­grif­fen und Ge­wohn­hei­ten. Ist es nicht so, als wür­de man da­bei in die Leer­form hin­ein­schlüp­fen, die der Ver­stor­be­ne hin­ter­las­sen hat?

Ich hat­te das Be­dürf­nis, We­ge des Va­ters in sei­nem Na­men zu ge­hen, in Grie­chen­land, dort wo er in den letz­ten Jah­ren sei­nes Le­bens viel­leicht am glück­lichs­ten war.“

Schu­he spie­len in die­sem Buch in zwei­fa­cher Hin­sicht ei­ne Rol­le. Zum ei­nen er­in­nern sie an die Ein­sicht, man sol­le nicht über ei­nen an­de­ren ur­tei­len, be­vor man ei­ne Wei­le in des­sen Schu­hen ge­lau­fen ist. Zum an­de­ren han­delt „Die Schu­he mei­nes Va­ters“ ganz kon­kret von den Ex­em­pla­ren, die der Sohn, An­dre­as Schä­fer, nach dem Tod sei­nes Va­ters aus dem Kran­ken­haus mit­ge­nom­men hat. Der rea­le und der über­tra­ge­ne Aspekt zei­gen sich in die­sem Er­in­ne­rungs­buch auf viel­fäl­ti­ge Wei­se, in Rück­bli­cken auf die Per­son des Va­ters, auf sei­ne Bio­gra­fie, sei­ne Prä­gun­gen und ins­be­son­de­re „Ge­hen und Ver­ste­hen“ weiterlesen

Das Erbe der Voortrekker

Damon Galgut erzählt in „Das Versprechen” von der Last der kolonialen Vergangenheit

…die Fa­mi­lie Swart hat so gar nichts Be­son­de­res oder Be­mer­kens­wer­tes, o nein, sie gleicht der Fa­mi­lie von der Nach­bar­farm und der Nach­bar­farm der Nach­bar­farm, nur ein ge­wöhn­li­cher Hau­fen wei­ßer Süd­afri­ka­ner, und wenn du es nicht glaubst, brauchst du nur ein­mal dar­auf zu ach­ten, wie wir spre­chen. Wir klin­gen nicht an­ders als die an­de­ren Stim­men, wir klin­gen ganz ge­nau­so, und wir er­zäh­len die­sel­ben Ge­schich­ten, in ei­nem brei­igen Ak­zent, mit ge­köpf­ten Kon­so­nan­ten und ge­quetsch­ten Vo­ka­len. Un­se­re See­le ist ir­gend­wie ver­ros­tet, re­gen­fle­ckig und ver­beult, und das hört man un­se­rer Stim­me an.“

Wie im vor kur­zem hier be­spro­che­nen Ro­man von Ali­ne Valang­in spielt ein Haus ei­ne Rol­le. Kein pracht­vol­ler Pa­laz­zo, son­dern ei­ne rui­nö­se Hüt­te, ab­ge­le­gen auf dem weit­läu­fi­gen Ge­län­de ei­ner Farm au­ßer­halb Pre­to­ri­as. Dort lebt Sa­lo­me, das schwar­ze Haus­mäd­chen, die der Be­sit­zer „beim Kauf gra­tis da­zu­be­kom­men hat“. Auch wenn sie von den Swarts als In­ven­tar und kaum als In­di­vi­du­um be­trach­tet wird, spielt sie ei­ne wich­ti­ge Rol­le im Fa­mi­li­en­ge­fü­ge. Sie hat die Kin­der An­ton, As­trid und Amor auf­ge­zo­gen und pfleg­te de­ren Mut­ter Ra­chel. Als die­se stirbt, nimmt Ra­chel ih­rem Mann das Ver­spre­chen ab, „Das Er­be der Vo­ortrek­ker“ weiterlesen

Liebe und Schmerz

Itō Hiromi erzählt in „Dornauszieher“ von den ambivalenten Gefühlen eines alternden Ichs

Mut­ters Qual. Va­ters Qual. Ehe­manns Qual.
Ein­sam­keit, Angst, Frustration.
Die­se Qua­len be­fal­len mich zwar, aber neu­er­dings quä­len sie mich nicht wirk­lich. All die Qua­len, mit de­nen ich mich her­um­schla­ge, so wur­de mir klar, sind ja mein Stoff. Ich bin da­mit be­schäf­tigt, die­se Qua­len zu fi­xie­ren und von ih­nen zu er­zäh­len, und in­dem ich von ih­nen er­zäh­le, ver­ges­se ich die Qua­len, ist das nicht doch der Se­gen von Ji­zō, dem Dornauszieher?“

Dorn­aus­zie­her“, der Ti­tel des Ro­mans der Ja­pa­ne­rin Itō Hi­ro­mi, weckt bei mir die As­so­zia­ti­on zu ei­ner be­rühm­ten Skulp­tur der An­ti­ke. Mei­ne west­li­che, durch Vor­lie­ben ge­präg­te Ver­knüp­fung liegt der von Itō in­ten­dier­ten Fi­gur räum­lich wie my­tho­lo­gisch ziem­lich fern. Sie denkt an den im Un­ter­ti­tel ge­nann­ten Ji­zō von Su­ga­mo, ei­nen Gott, an den sich der Gläu­bi­ge wen­det, um ei­ne Pla­ge los­zu­wer­den. Ich den­ke an den Jüng­ling, der ei­nen Dorn aus sei­nem Fuß zieht. Bei­den ge­mein­sam ist der Schmerz, der zu­gleich als Haupt­mo­tiv des Ro­mans ge­se­hen wer­den kann.

Hi­ro­mi Itō oder bes­ser Itō Hi­ro­mi, ge­mäß der ja­pa­ni­schen Na­mens­fol­ge, wur­de 1955 in To­kyo ge­bo­ren. Eben­so wich­tig wie die kor­rek­te Stel­lung des Vor- und Nach­na­mens, die be­wusst für die Haupt­fi­gur des Ro­mans ge­tauscht wur­de, ist die Be­to­nung. Die west­li­che Ge­wohn­heit, die zwei­te Sil­be her­vor­zu­he­ben, bringt Hi­ro­mi be­son­ders auf die Pal­me, wenn ihr eng­li­scher Ehe­mann dies nicht be­herrscht. Die­se und an­de­re, schmerz­vol­le­re „Lie­be und Schmerz“ weiterlesen

Das Leiden der Sündenböcke

Zeruya Shalev erzählt mit Pathos und Wiederholungen vom „Schicksal“

So hat es das Schick­sal ge­wollt und es hat kei­nen an­de­ren Weg gegeben.“

Auch der ak­tu­el­le Ro­man der is­rae­li­schen Au­torin Ze­ru­ya Shalev be­han­delt die po­li­ti­schen wie re­li­giö­sen Ge­gen­sät­ze ih­res Hei­mat­lan­des. Sie schü­ren die Kon­flik­te zwi­schen Tra­di­ti­on und Mo­der­ne, Auf­klä­rung und or­tho­do­xem Glau­ben, Be­sat­zern und Be­setz­ten so­wie die Kluft zwi­schen Mann und Frau. Ist dies al­les un­ab­wend­ba­res „Schick­sal“, wie der Ti­tel des Ro­mans insinuiert?

Schick­sal­haft ver­bun­den schil­dert Shalev das Le­ben, man könn­te auch sa­gen das Lei­den, ih­rer Prot­ago­nis­tin­nen Ra­chel und Ata­ra, de­ren per­so­na­le Er­zähl­stim­men in al­ter­nie­ren­den Ka­pi­teln zu Wort kom­men. Da ist zum ei­nen die be­tag­te Ra­chel, de­ren Ge­schich­te in die An­fän­ge des mo­der­nen Is­ra­els führt. Sie er­zählt, was sie als jun­ge Frau bei den Lechi er­leb­te, ei­ner Un­ter­grund­be­we­gung, die mit ter­ro­ris­ti­schen Mit­teln ge­gen die „Das Lei­den der Sün­den­bö­cke“ weiterlesen

Muse Melancholie

Steven Price imaginiert in Der letzte Prinzdie Beziehung von Schöpfer und Werk

Manch­mal war es, als hör­te er den Ro­man mit sich re­den. Sein Fürst, den er sich im­mer als vom feh­len­den Glau­ben aus­ge­höhlt ge­dacht hat­te, ent­pupp­te sich viel­mehr als Letz­ter der Gläu­bi­gen. Doch war der Glau­be des Fürs­ten ein Glau­be an die Tra­di­ti­on, an das Schick­sal ei­nes Ge­schlechts, und in sol­chen Au­gen­bli­cken er­kann­te Giu­sep­pe, dass er sich durch die ei­ge­ne Bit­ter­keit hin zu dem Men­schen ge­schrie­ben hat­te, der er gern ge­wor­den wä­re. Sein Fürst stand al­lein, un­ge­rührt, brauch­te nie­man­den, und ge­ra­de des­halb, und weil es kein wah­res Über­le­ben in der Iso­la­ti­on gibt, war die Stär­ke des Fürs­ten das, was ihn zerstörte.“

Der Leo­pard“ oder bes­ser „Il Gat­to­par­do“, — die Wild­kat­ze im Ti­tel, die an­ders als das ge­fleck­te Raub­tier, sich nicht mit Brül­len Re­spekt ver­schaf­fen kann, ent­hüllt das Mot­to des Ro­mans -, ist wohl je­dem italo­phi­len Le­ser be­kannt. Der be­rühm­tes­te ita­lie­ni­sche Ro­man des 20. Jahr­hun­derts schil­dert den Um­schwung der Ver­hält­nis­se, die das Ri­sor­gi­men­to ein Jahr­hun­dert zu­vor in Ita­li­en aus­ge­löst hat­te. Von den Fol­gen des Frei­heits­kampfs un­ter Ga­ri­bal­di er­zählt Giu­sep­pe To­ma­si di Lam­pe­du­sa, selbst Spross ei­ner ehe­mals mäch­ti­gen Fürs­ten­fa­mi­lie, am Bei­spiel des Adels­ge­schlechts Sa­li­na. Des­sen Ober­haupt, Fürst Fa­bri­zio Sa­li­na, er­kennt weit­sich­tig wie wei­se die ge­sell­schaft­li­chen Ver­än­de­run­gen, die der po­li­ti­sche Um­bruch her­bei­füh­ren wird. Sein Nef­fe Tancre­di ar­ran­giert sich früh­zei­tig, in­dem er die zu­grun­de ge­hen­de Tra­di­ti­on zu­guns­ten des Er­folgs hin­ter sich lässt, ge­treu sei­nem Wahl­spruch „Wenn al­les blei­ben soll, wie es ist, muss sich al­les än­dern“.

Oft wird die­se Hal­tung und da­mit der Ro­man als Gleich­nis auf die post­fa­schis­ti­schen Ver­hält­nis­se Si­zi­li­ens ge­deu­tet. Eben­so liest man ihn als me­lan­cho­li­sche Re­mi­nis­zenz des Au­tors auf die ei­ge­ne Fa­mi­lie, trägt Don Fa­bri­zio doch Zü­ge von To­ma­sis Ur­groß­va­ter Giu­lio Fa­bri­zio di Lam­pe­du­sa. Auch weist Tancre­di, der ge­lieb­te Nef­fe Don Fa­bri­zi­os, Ähn­lich­kei­ten mit Gio­ac­chi­no Lan­za auf, dem gleich­falls ge­lieb­ten Nef­fen und Ad­op­tiv­sohn Tomasis.

1954 be­gann Giu­sep­pe To­ma­si mit der Ar­beit an sei­nem Ro­man, den er zwei Jah­re spä­ter voll­ende­te. Die Ver­la­ge Mond­ado­ri und Ein­au­di lehn­ten ei­ne Ver­öf­fent­li­chung ab. Erst 1958, ein Jahr nach To­ma­sis Tod, er­schien er durch die Für­spra­che Gi­or­gio Bassa­nis bei Fel­tri­nel­li. Wei­te­re Jahr­zehn­te soll­te es dau­ern, bis der Ro­man end­lich in voll­stän­di­ger Form er­schien, in­klu­si­ve zu­rück­ge­hal­te­ner Passagen.

Die­se ver­schlun­ge­nen Be­zie­hun­gen zwi­schen der Bio­gra­phie To­ma­sis und des­sen Werk mö­gen es sein, die den ame­ri­ka­ni­schen Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler Ste­ven Pri­ce zu sei­nem Ro­man „Der letz­te Prinz“ ver­an­lass­ten. Er er­zählt „Mu­se Me­lan­cho­lie“ weiterlesen

Von Verlust und Vertrauen

In „Dankbarkeiten“ erzählt Delphine de Vigan mit zärtlicher Zuneigung von Verlust und Freundschaft

Es dau­ert nicht mehr lan­ge bis zum En­de, das weißt du, Ma­rie. Ich mei­ne das En­de des Ver­stands, der ist dann futsch und al­le Wör­ter ver­flo­gen. Wann mit dem Kör­per Schluss ist, weiß man na­tür­lich nicht, aber es hat an­ge­fan­gen, mit dem Ver­stand zu En­de zu gehen.“

Wer je er­lebt hat, wie ein al­ter Mensch Ab­schied von sei­ner Woh­nung nimmt und in ein Heim ein­zieht, für den wird „Dank­bar­kei­ten“ von Del­phi­ne de Vi­gan ei­ne sehr be­we­gen­de Lek­tü­re sein. Vol­ler Em­pa­thie und den­noch mit kla­ren Wor­ten schil­dert die Au­torin, wie ih­re Prot­ago­nis­tin Misch­ka, ei­ne al­lein­le­ben­de, selbst­be­wuss­te Frau, ih­re Un­ab­hän­gig­keit ge­gen stän­dig prä­sen­te Un­ter­stüt­zung ein­tauscht. Ver­trau­te Be­glei­ter ih­res neu­en Le­bens sind Ma­rie und Jé­ro­me, die ne­ben Misch­ka die Er­zähl­stim­men des klei­nen Ro­mans bilden.

Die jun­ge Ma­rie fand als ver­nach­läs­sig­tes Kind Hil­fe und Für­sor­ge bei Misch­ka, ih­rer da­ma­li­gen Nach­ba­rin. Die Bin­dung der Bei­den blieb über die Jah­re be­stehen. So ist es auch Ma­rie, die in­for­miert wird, als Misch­ka hilf­los „Von Ver­lust und Ver­trau­en“ weiterlesen

Trauerschwestern und Flügelwesen

Kerstin Hensel gelingt mit ihrer Novelle „Regenbeins Farben“ ein kunstvolles Trauerbuch

Im Halb­durch­sich­ti­gen drei Ne­re­iden, aus ih­ren Höh­len am Grun­de des Mee­res ge­stie­gen, hoch zu ih­rem Gott, der auf ei­nem Fa­bel­we­sen über Wel­len rei­tet, vor­ne Pferd, hin­ten Fisch. Nym­phen um­krei­sen ihn, und er er­fleht ih­re Ge­sell­schaft, spielt den Schiff­brü­chi­gen, den sie be­schüt­zen, be­sin­gen, be­glei­ten soll­ten. Doch die Nym­phen trei­ben an­de­re Spie­le. Im Was­ser schwes­ter­lich schwe­bend, sind die See­frau­en, die nur sich selbst un­ter­hal­ten, in ke­cken Spie­len plau­dernd, mit Del­fi­nen sin­gend. Wäh­rend der Gott um Ret­tung sei­ner Mäch­tig­keit fleht, zwingt er sein Reit­tier zu ei­ner schaum­schla­gen­den Le­va­de. Po­sei­don, der Po­ser! Der Hip­po­kamp trägt in durch die bro­deln­de Brü­he der Geschichte (…)“

Die­se laut- und wort­schö­nen Sät­ze ver­ra­ten Kers­tin Hen­sel als Ly­ri­ke­rin, die ih­re poe­ti­sche Spra­che auch in der No­vel­le „Re­gen­beins Far­ben“ ver­wen­det. Dar­in ver­eint sie vier Per­so­nen zu ei­ner be­son­de­ren Ge­mein­schaft. Fast ein vol­les Jahr währt die­se, le­dig­lich drei Mi­nu­ten feh­len, wie die punkt­ge­nau­en Da­tie­run­gen im ers­ten und letz­ten Ka­pi­tel zeigen.

Auch wenn der Tod als Mo­tiv die­se No­vel­le durch­zieht und ein Teil der Hand­lung kam­mer­spiel­ar­tig auf ei­nem Fried­hof statt­fin­det, han­delt es sich kei­nes­wegs um ein trau­ri­ges Buch. Als Trau­er­buch hin­ge­gen lie­ße es sich sehr wohl be­zeich­nen, denn es er­zählt, wie man Trau­er be­wäl­tigt und sich von der Ver­gan­gen­heit be­freit. Die Kunst ist da­bei das Mit­tel der Wahl. Dies zei­gen schon die ers­ten Ka­pi­tel, in de­nen uns die Fried­hofs­ge­mein­schaft vor­ge­stellt wird.

Die Ma­le­rin Kar­line Re­gen­bein ist die Jüngs­te, an Al­ter wie an der Dau­er ih­rer Trau­er ge­mes­sen. Es fol­gen Edu­ard Wet­ten­gel, der Ga­le­rist, Lo­re Mül­ler-Ki­li­an, die ihr Mä­ze­na­ten­tum dem ver­stor­be­nen Gat­ten ver­dankt und schließ­lich die Äl­tes­te, Zi­va Schlott, die Kunst­pro­fes­so­rin mit „Kipp­chen“. Al­le vier „Trau­er­schwes­tern und Flü­gel­we­sen“ weiterlesen

Alte Freundinnen

Charlotte Wood konfrontiert in „Ein Wochenende“ drei Freundinnen mit sich selbst und ihrer in die Jahre gekommenen Freundschaft

So wür­den die Ta­ge oh­ne Syl­vie al­so sein, mit die­ser Di­stanz zwi­schen ih­nen, die sich aus­wei­te­te und ver­tief­te. Sie blieb ste­hen und be­ob­ach­te­te, wie der Ab­stand zu den bei­den an­de­ren im­mer grö­ßer wur­de. Auch sie gin­gen nicht ge­mein­sam. Bis jetzt hat­te sie nie dar­über nach­ge­dacht, dass sich das aus­ge­lei­er­te Gum­mi­band ih­rer Freund­schaft ei­nes Ta­ges auf­lö­sen könn­te. Es schien un­mög­lich. Aber et­was To­tes hat­te sich in ih­re Ge­füh­le für­ein­an­der ein­ge­schli­chen und schien sich auszudehnen.“

Die meis­ten Men­schen ha­ben ei­ne Hand­voll en­ger Freun­de, oft so­gar we­ni­ger. Al­les, was die Zahl drei über­steigt, so scheint es, sprengt den Rah­men. Oft er­wei­sen sich die un­ter­schied­li­chen Ei­gen­ar­ten, Vor­lie­ben, kurz die Per­sön­lich­kei­ten der Freun­de als Stör­fak­tor. Dies zeigt sich bei ge­mein­sa­men Un­ter­neh­mun­gen. Und was macht erst das Al­ter dar­aus? Die lan­gen Jah­re des Le­bens? Die zu­neh­men­de Starrköpfigkeit?

Von ei­ner der­ar­ti­gen Ge­menge­la­ge er­zählt der neue Ro­man der aus­tra­li­schen Au­torin Char­lot­te Wood. Mit sei­nen knapp 300 Sei­ten hat er die rich­ti­ge Län­ge, um sei­ne Le­se­rin­nen wie sei­ne Le­ser — auch wenn im Buch be­haup­tet wird, daß Män­ner kaum „Al­te Freun­din­nen“ weiterlesen