Andreas Schäfers „Die Schuhe meines Vaters“ ist Trauerritual und Totengesang zugleich
„Gedenken ohne Worte. Erinnernder Abschied durch Wiederholung von Handgriffen und Gewohnheiten. Ist es nicht so, als würde man dabei in die Leerform hineinschlüpfen, die der Verstorbene hinterlassen hat?
Ich hatte das Bedürfnis, Wege des Vaters in seinem Namen zu gehen, in Griechenland, dort wo er in den letzten Jahren seines Lebens vielleicht am glücklichsten war.“
Schuhe spielen in diesem Buch in zweifacher Hinsicht eine Rolle. Zum einen erinnern sie an die Einsicht, man solle nicht über einen anderen urteilen, bevor man eine Weile in dessen Schuhen gelaufen ist. Zum anderen handelt „Die Schuhe meines Vaters“ ganz konkret von den Exemplaren, die der Sohn, Andreas Schäfer, nach dem Tod seines Vaters aus dem Krankenhaus mitgenommen hat. Der reale und der übertragene Aspekt zeigen sich in diesem Erinnerungsbuch auf vielfältige Weise, in Rückblicken auf die Person des Vaters, auf seine Biografie, seine Prägungen und insbesondere auf die Beziehung zu seinem Sohn.
Zunächst erzählt Schäfer von der Zeit kurz vor dem Tod des Vaters, von seinen Gefühlen der Verantwortung und Verpflichtung, aber auch der Hilflosigkeit, die ihn befallen, als er vom Tumor erfährt, der im Kopf seines Vaters entdeckt wurde. Die auf beiden Seiten herrschende nicht nur räumliche Distanz führt zur Unsicherheit im Umgang, die beide gut zu kaschieren wissen. So verläuft der letzte Besuch des Vaters bei seinem Sohn in Berlin wie gewohnt, der Vater übernachtet im Hotel, er trifft sich mit dem Sohn im Café und macht Ausflüge mit der Enkelin. Dann kehrt er zur anstehenden Biopsie nach Frankfurt zurück. Diese läuft auf fatale Weise schief. Nach einem Anruf aus dem Krankenhaus macht sich Andreas Schäfer auf, um die letzten Dinge zu regeln, begleitet von seiner Mutter, die von ihrem Mann getrennt, aber ihm freundschaftlich verbunden ist. Seit 30 Jahren lebt die Griechin mit ihrem jüngeren Sohn wieder in der Heimat. Der Vater lebt seitdem alleine in Frankfurt. Vielleicht ist es das, was sein ausuferndes Mitteilungsbedürfnis fördert. Sein Sohn Andreas fühlt sich deswegen vom Vater oft nicht wahrgenommen. Erst als er selbst eine Familie gründet, nähern sie sich einander an.
Am Bett des im Koma liegenden Vaters, beim Betreten der Vaterwohnung, beim Besuch alter Bekannter und dem einstigen Wohnort überwältigen den Sohn die Erinnerungen. Er fürchtet „von einem Zeitloch verschlungen und erneut als Jugendlicher ausgespuckt zu werden“. Und doch muss er die Entscheidung treffen, ob und wann die Geräte abgeschaltet werden und sein Vater sterben kann. „Wie damit umgehen, wenn einem das Leben des eigenen Vaters in die Hände gelegt wird? Wie sich verabschieden, wenn man den Zeitpunkt selbst bestimmen soll?“ Unter allen Gefühlen, die ihm diese Entscheidung erschweren, wiegt wohl die Scham am stärksten. Scham über das Verhalten des Vaters, dessen Jähzorn die Ehe zum Scheitern brachte und den Umgang mit den Söhnen erschwerte. Die dunkle Seite des „waidwunden und fauchbereiten Notwehrvaters“, schrecken ebenso wie ihr Gegenteil, wenn der „vor Begeisterung jubelnde Vater“ anderen jeden Raum nimmt. Die Ursachen deckt Andreas Schäfer in kleinen Schritten auf. Da war der Bruch mit den Eltern, als sein Vater eine Griechin heiratete, sowie die in der Kriegskindheit liegenden Verletzungen und Einsamkeit. Ursachen für ein schwaches Selbstwertgefühl, das obgleich meisterhaft verborgen, leicht explodierte.
Nach dem Tod des Vaters taucht Schäfer in dessen biografisches Vermächtnis ein. Er hofft, die immer noch spürbare Barriere zu überwinden. Dazu zählt der Vater-Passion des wandernden Erkundens zu folgen. Der Sohn schlüpft in die Schuhe seines Vaters, um sein Totenritual zu vollziehen. Dies beginnt in Frankfurter Gefilden, noch auf dem Sterbebett bringt er ihm die Essenzen des Taunus dar, „hier nimm: der Nebel, die Wolken, der Duft von Fichtennadeln“, und endet an den Gestaden Griechenlands. Dort folgt er dem letzten Projekt des Vaters, die Erkundung der bewohnten Inseln.
Die verschiedenen Handlungsebenen des Romans unterscheiden sich nicht nur in ihrer Chronologie. Für die biografischen Schilderungen des Vaterlebens greift der Sohn auf Tagebücher und Notizen des Vaters zurück, diese ergänzt er mit eigenen Erinnerungen, verbleibende Lücken füllt er durch Imaginiertes.
Andreas Schäfer gelingt „das Vorhaben, Gehen, Erinnern und Schreiben miteinander zu verschränken“ auf beeindruckende Weise. Mütterlicherseits nicht nur mit der Sprache der Griechen vertraut, integriert er auch Elemente der antiken Mythologie in seinem Roman. Mehrmals begegnet er der „Vatererscheinung“, die ihm auf schwierigen Wegen beisteht.
„Die Schuhe meines Vaters“ ist Trauerritual und Totengesang zugleich. Die letzte Begegnung des Sohns mit dem Eidolon des Vaters findet auf dem Gipfel des Zas in Naxos statt, wo eine Höhle in den Hades führen soll. Es scheint, als hätten beide dort nach dem Jahr der Trauer ihren Frieden geschlossen.
Andreas Schäfer, Die Schuhe meines Vaters, Dumont Buchverlag 2022