Ein überquellender Schambecher

In „Dream Count“ thematisiert Chimamanda Ngozi Adichie die Diskriminierung weiblicher Lebensentwürfe hart am Chicklit

»Lebst du das Le­ben, das du dir für dich vor­ge­stellt hast?«, frag­te ich. »Nein, aber wer tut das schon?« »Ich den­ke, da gibt es ei­ni­ge Leu­te.« »Man­che Leu­te den­ken, dass man­che Leu­te es tun.« »Wie meinst du das? Dass es auf nie­man­den zu­trifft? Das ist de­pri­mie­rend.« »Ist es das? Ich fin­de es ziem­lich be­ru­hi­gend.« »Ich möch­te dar­an glau­ben, dass man­che Men­schen es tun. Was für ei­nen Sinn hät­te das Gan­ze denn sonst?« Er sah er­nüch­tert aus. »Hilft es zu wis­sen, dass die Welt vol­ler Men­schen ist, die noch trau­ri­ger sind als du?«

Für ihr Werk „Ame­ri­ca­nah“ er­hielt die in Ame­ri­ka le­ben­de Ni­ge­ria­ne­rin Chi­ma­man­da Ngo­zi Adi­chie Auf­merk­sam­keit und An­er­ken­nung. Mit „Dream Count“ hat sie nun ei­nen Ro­man vor­ge­legt, von dem man, an­ge­sichts sei­nes Schmö­ker­po­ten­ti­als, nicht all­zu viel ver­ra­ten möch­te. Adi­chie the­ma­ti­siert dar­in die Un­ge­rech­tig­kei­ten zwi­schen Män­ner und Frau­en, Rei­chen und Ar­men, Wei­ßen und Nicht­wei­ßen, kurz ge­sagt zwi­schen Pri­vi­le­gier­ten und Nicht­pri­vi­le­gier­ten. Auf 528 Sei­ten lässt sie in fünf Ka­pi­teln vier in den USA le­ben­de Afri­ka­ne­rin­nen auf­tre­ten. Drei ih­rer Prot­ago­nis­tin­nen, Zi­ko­ra, Ka­dia­tou und Ome­logor, er­hal­ten je­weils ein ei­ge­nes Ka­pi­tel. Chi­ama­ka, wel­che die Ver­bin­dung zwi­schen den Frau­en knüpft, kommt im ers­ten und letz­ten Teil des Ro­mans zu Wort, was ihn in­halt­lich wie for­mal rahmt.

Chi­ama­ka war zum Stu­di­um in die USA ge­kom­men, gibt die­ses je­doch auf, wird Rei­se­schrift­stel­le­rin und träumt da­von, ei­nen Ro­man zu schrei­ben. Die Iso­la­ti­on der Co­ro­na­zeit bie­tet ihr Mu­ße, sich an ih­ren „Dream Count“ zu er­in­nern, die Män­ner ih­rer ver­gan­ge­nen Lie­bes­be­zie­hun­gen. Ih­re Cou­si­ne Ome­logor er­kennt dar­in das An­zei­chen ei­nes emo­tio­na­len De­fi­zits, „wäh­rend nor­ma­le Men­schen im Lock­down un­ter Angst­zu­stän­den lit­ten, (warst du) da­mit be­schäf­tigt (…), dei­nen Ver­flos­se­nen hin­ter­her­zu­re­cher­chie­ren und dei­nen Bo­dy Count durch­zu­ge­hen.« »Mei­nen Dream Count«, sag­te ich. »Mit wie vie­len Dreams bist du denn schon zu­sam­men ge­we­sen?« »Die Welt hat sich ver­än­dert, und dann schaut man zu­rück, um mal Bi­lanz zu zie­hen und zu se­hen, wie man ei­gent­lich ge­lebt hat. Und man be­reut so vieles«“

Ome­logor, im glei­chen ni­ge­ria­ni­schen Dorf wie Chi­ama­ka auf­ge­wach­sen, bil­det nicht nur, was ih­re Män­ner­be­zie­hun­gen be­trifft, den Ge­gen­part zu ih­rer Freun­din. Die ei­ge­ne Un­ab­hän­gig­keit gilt ihr als größ­tes Gut. Fi­nan­zi­ell er­mög­licht ihr dies ei­ne Kar­rie­re im Ban­ken­we­sen, die es mit je­ner „Der Spie­le­rin“ von Isa­bel­le Lehn durch­aus auf­neh­men kann. Trotz­dem be­geg­net auch ihr die Er­war­tung, ih­re Rol­le als Frau und Mut­ter zu erfüllen.

Längst ver­in­ner­licht hat dies, for­ciert durch ih­ren tie­fen christ­li­chen Glau­ben, die aus Ni­ge­ria stam­men­de Zi­ko­ra. Sie ver­liert zwar durch die Schwan­ger­schaft den Part­ner, ge­winnt aber die Nä­he zu der ent­frem­de­ten Mutter.

Und dann ist da noch Ka­dia­tou, ei­ne aus Gui­nea ein­ge­wan­der­te Frau, die mit ih­rer Toch­ter in pre­kä­ren Ver­hält­nis­sen lebt. In ih­rem Job als Zim­mer­mäd­chen trifft sie auf Chi­ama­ka, die sie als Haus­an­ge­stell­te en­ga­giert, wo­durch ei­ne freund­schaft­li­che Be­zie­hung ent­steht. Adi­chie legt die­ser Fi­gur den Fall Di­al­lo-Strauss-Kahn zu Grun­de. Im Nach­wort er­läu­tert die Au­torin, daß der breit pu­bli­zier­te Miss­brauch ihr nicht nur als In­spi­ra­ti­on dien­te, son­dern daß sie den Her­gang der Ver­ge­wal­ti­gung ge­treu der Aus­sa­ge Di­al­los über­nom­men ha­be. Die Vor­ge­schich­te ih­rer Prot­ago­nis­tin Ka­dia­tou so­wie de­ren Re­ak­ti­on auf die Nie­der­schla­gung des Ver­fah­rens sei­en hin­ge­gen schrift­stel­le­ri­sche Phan­ta­sie und ha­ben nichts mit dem Vor­bild zu tun.

Ge­mein­sam ist den vier Frau­en des Ro­mans die Su­che nach Le­bens­er­fül­lung. „Lebst du das Le­ben, das du dir für dich vor­ge­stellt hast?“ lau­tet die Kern­fra­ge. Die Ant­wort fällt we­ni­ger un­ter­schied­lich aus als er­war­tet. Für Chi­ama­ka liegt die Er­fül­lung dar­in, von ei­nem Mann „er­kannt zu wer­den“, Ome­logor wünscht sich die Frei­heit zur Selbst­be­stim­mung, Zi­ko­ra Mann und Kind und Ka­dia­tou ein­fach ein fried­li­ches Le­ben. Je­de von ih­nen kämpft ge­gen frem­de aber auch ei­ge­ne Er­war­tun­gen, sei es die Ab­stam­mungs­li­nie fort­zu­füh­ren, der ka­tho­li­schen Mo­ral zu ent­spre­chen oder Män­nern ge­gen­über ge­fü­gig zu sein.

Wie uni­ver­sell die­se An­sprü­che sind, be­weist Adi­chie durch die Wahl ih­rer Hand­lungs­or­te, ne­ben den USA sind dies Ni­ge­ria, Gui­nea und die Län­der, die Chi­ama­ka be­reist. Eben­so ruft sie un­ter­schied­li­che Mi­lieus auf, die Welt der Su­per­rei­chen, der Aka­de­mi­ker, des Banken‑, Jus­tiz- und des Ver­lags­we­sens. Über­all sind Frau­en Res­sen­ti­ments und Dis­kri­mi­nie­run­gen aus­ge­setzt, sei­en sie ras­sis­ti­scher oder gen­der­be­ding­ter Natur.

Adi­chie zeigt dies durch die Ge­füh­le, mit de­nen die Er­zäh­le­rin­nen ihr Le­ben re­flek­tie­ren. Chi­ama­ka voll­führt da­bei die stärks­te Selbst­ana­ly­se und rutscht durch ih­ren Drang, er­kannt zu wer­den, zu­wei­len in me­lo­dra­ma­ti­sche Ge­fil­de. So sieht sie sich für ei­ne Tren­nung ver­ant­wort­lich, „weil ich die­sen au­ßer­or­dent­li­chen Schmerz nicht län­ger igno­rie­ren konn­te, der dar­in liegt, ei­nen lie­ben Men­schen lie­ben zu wol­len, den man nicht liebt.“ Adi­chie schafft mit Chi­ama­ka ei­ne Frau, die sich bis zur Selbst­de­mon­ta­ge se­ziert und schnell be­reit ist, Schuld zu über­neh­men. „Wenn ich jetzt zu­rück­bli­cke, se­he ich mei­ne Schwä­che in al­ler Deut­lich­keit, mei­ne Nach­gie­big­keit und Füg­sam­keit im Aus­tausch für nichts.“

Den Ge­gen­part zu Chi­ama­ka bil­det in vie­ler­lei Hin­sicht Ome­logor, die sich mit Schlag­fer­tig­keit ge­gen männ­li­ches Do­mi­nanz­ge­ha­be wehrt. Emo­tio­na­le Ver­letz­bar­keit ver­mei­det sie durch den Ver­zicht auf fes­te Be­zie­hun­gen. Das in ih­rer Selbst­be­stim­mung ge­grün­de­te Glück teilt sie mit an­de­ren, die un­ter schlech­ten Be­din­gun­gen lei­den. Da sind zum ei­nen Frau­en, de­nen sie mit Mi­cro-Spen­den zum Auf­bau ei­nes Un­ter­neh­mens ver­hilft. Zum an­de­ren Män­ner, und hier­in liegt ei­ne fei­ne Iro­nie, de­nen sie in ih­rem Blog „On­ly for men“, zur Ver­hal­tens­än­de­rung ge­gen­über Frau­en rät. Ome­logor, die sich nach ih­rer Kar­rie­re in Ni­ge­ria da­zu ent­schließt, Kul­tur­wis­sen­schaft in den USA zu stu­die­ren, ist die stärks­te Fi­gur des Romans.

Ne­ben dem sich er­gän­zen­den Duo Ome­logor und Chi­ama­ka, fal­len die an­de­ren bei­den Prot­ago­nis­tin­nen stark ab. So fügt Adi­chie durch Zi­ko­ra le­dig­lich ei­ne wei­te­re Be­zie­hungs­va­ri­an­te, die der vom Part­ner im Stich ge­las­se­nen Schwan­ge­ren, hin­zu. An­sons­ten wä­re die Fi­gur in der Dra­ma­tur­gie des Ro­mans ver­zicht­bar, wenn man von ih­rer Rol­le als ju­ris­ti­sche Be­ra­te­rin im Ver­ge­wal­ti­gungs­fall ab­sieht. In­ter­es­sant ist, daß so­wohl Zi­ko­ra als auch Ka­dia­tou nicht als Ich-Er­zäh­le­rin­nen auf­tre­ten, son­dern von ei­ner per­so­na­len Er­zähl­stim­me ver­tre­ten wer­den. Soll das die Pas­si­vi­tät der Fi­gu­ren aus­drü­cken oder ih­re je­wei­li­ge Ne­ben­rol­le? Das Ka­pi­tel Ka­dia­tou ge­rät so, ab­ge­se­hen von der Ver­ge­wal­ti­gungs­sze­ne, die Adi­chie be­we­gend nach­er­zählt, zum schwächs­ten li­te­ra­ri­schen Ele­ment des Ro­mans. Die Vor­ge­schich­te Ka­dia­tous in Gui­nea, ei­nes ar­men Mäd­chens in un­ter­drück­ten Ver­hält­nis­sen, ist vol­ler Kli­schees. Auf den Un­fall­tod des Va­ters fol­gen Kin­der­ar­beit, Be­schnei­dung, ein al­ko­hol­kran­ker Gat­te, ei­ne Fehl­ge­burt, ein un­zu­ver­läs­si­ger Part­ner und der Auf­tritt ei­ner Wohl­tä­te­rin. Auch wenn die Au­torin Zeit­sprün­ge und Rück­bli­cke ein­baut, füh­le ich mich an ei­nen sehr ein­fach ge­strick­ten Gen­re­ro­man er­in­nert. War­um hat man Adi­chie nicht ge­ra­ten, auf die­se bei­den Fi­gu­ren zu ver­zich­ten, und sich auf die in­ter­es­san­ten Ich-Er­zäh­le­rin­nen und den auf­ge­grif­fe­nen Fall zu konzentrieren?

Auch sprach­lich fin­det sich Schreck­li­ches, wie „ein Laut, so alt wie die noch nicht ge­form­te Er­de“. Der­art kru­de For­mu­lie­run­gen, die durch die Über­set­zung oft noch ge­stei­gert wer­den, durch­zie­hen lei­der den Ro­man. Da fehlt es nicht an Er­kennt­nis­sen wie „Men­schen ster­ben und Men­schen fei­ern Ge­burts­tag“, „Wir sind ver­liebt, und dann sind wir nicht mehr ver­liebt“ oder „Ich woll­te nicht das, von dem ich woll­te, dass ich es woll­te“. Ne­ben die­ser Pa­tho­s­pro­sa fin­den sich Ver­wei­se auf Hes­se, Proust und Kun­de­ra, aber auch Sät­ze selt­sa­mer Lo­gik. Ich fra­ge mich, was un­ter ei­nem „un­be­kann­tem War­ten“ zu ver­ste­hen ist oder war­um ich nie „auf­ge­regt und vol­ler Er­war­tung“ bin, wenn ich „ei­ne sü­ße Frucht schä­le“? Viel­leicht han­delt es sich aber auch um Über­set­zungs­feh­ler, wie der „Scham­be­cher“, „ein fun­keln­der, über­schäu­men­der Krug des Hu­mors“ oder der „Wunsch, die Lö­cher mit ei­nem an­we­sen­den Mann zu stop­fen“. Auch der „Wehr­machts­sol­dat“, der von Ome­logor zwar deutsch, aber mit V‑Laut aus­ge­spro­chen wird, ‑was im Ori­gi­nal kor­rekt wä­re, in der deut­schen Über­set­zung aber nun mal nicht funktioniert‑, wirft die Fra­ge auf, was mit den bei­den Über­set­zern los war? Wur­de ih­nen et­wa zu we­nig Zeit ge­las­sen? An dem Ein­satz ei­ner KI kann es nicht ge­le­gen ha­ben, denn selbst die­se emp­fiehlt, „a cup of shame“ kei­nes­falls wört­lich ins Deut­sche zu über­setz­ten, da es „ei­ne ab­sur­de Mi­schung aus „Scham“ und ei­nem Trink­ge­fäß er­zeu­gen wür­de, was leicht zu un­frei­wil­li­ger Ko­mik führt oder so­gar As­so­zia­tio­nen weckt, die ins Kör­per­li­che kip­pen“.

Wen die­se Din­ge je­doch nicht stö­ren, er­hält mit „Dream Count“ ei­nen Schmö­ker mit vier Frau­en­stim­men, Blog­bei­trä­gen, Rei­se­be­rich­ten und ei­nem auf ei­ner Quel­le ba­sie­ren­dem Be­richt, der mit Hu­mor, gu­ten Dia­lo­gen, viel Pa­thos und noch mehr Kli­schees von be­stehen­den Macht­ver­hält­nis­sen erzählt.

Chimamanda Ngozi Adichie, Dream Count, aus dem Amerikanischen übers. v. Asal Dardan und Jan Schönherr, S. Fischer Verlag 2025

 

 

 

 

Protokoll einer Zerrüttung

CoverLjuba Arnautović macht in „Erste Töchter“ aus großen Leben eine kleine Geschichte

Spä­ter hat er über sein Le­ben ein Buch ge­schrie­ben und dar­über, wie po­li­ti­sche Ver­hält­nis­se mensch­li­che Schick­sa­le bestimmen.“

Die­ses Zi­tat könn­te das Mo­tiv von Lju­ba Ar­n­au­to­vićs Schrei­ben sein und so­mit auch das ih­res Buchs „Ers­te Töch­ter“. Zu­ge­schrie­ben hat sie es Wolf­gang Le­on­hard, ei­ner ih­rer Ne­ben­fi­gur, der durch sei­nen au­to­bio­gra­phi­schen Be­richt „Die Re­vo­lu­ti­on ent­lässt ih­re Kin­der“ be­kannt wur­de. Au­to­bio­gra­phisch ist auch Ar­n­au­to­vićs Werk. Wie be­reits in „Im Ver­bor­ge­nen“ und in „Ju­ni­schnee“ er­zählt die in Wien le­ben­de und 1954 in Kursk ge­bo­re­ne Au­torin von ih­rer Fa­mi­lie, die, so der Klap­pen­text, vom „Dra­ma des 20. Jahr­hun­derts in Wien, Mos­kau und im Gu­lag“ ge­prägt wur­de. Der letz­te Band die­ser Tri­lo­gie fügt Mün­chen als Hand­lungs­ort hinzu.

Dort lebt Karl mit sei­ner neu­en Frau und ei­ner sei­ner ers­ten Töch­ter. Zu­vor hat­te er die­se und ih­re jün­ge­re Schwes­ter erst von de­ren Mut­ter Ni­na, dann von der Er­satz­mut­ter Eri­ka ge­trennt und nun so­gar von­ein­an­der. La­ra geht nach Wien, Lu­na bleibt in Mün­chen. Ei­ne Kon­stel­la­ti­on wie in Erich Käst­ners „Pro­to­koll ei­ner Zer­rüt­tung“ weiterlesen

Willkommen im Auenland“

Markus Thielemann erzählt in „Von Norden rollt ein Donner” auf spannende Weise über die Ambivalenz eines vermeintlichen Idylls

Un­ten drän­gen sich die Tie­re an­ein­an­der. He­ra und Kasch, die bei­den Hüte­hun­de, um­krei­sen den Pulk. Jan­nes blickt hin­un­ter, die Be­we­gun­gen er­in­nern ihn an Bil­der aus ei­ner Do­ku­men­ta­ti­on über den Welt­raum. Wie Mon­de oder Pla­ne­ten krei­sen sie um die Her­de, das Zen­trum des Alls. Und dann schweift er ab: er hat sei­nen ei­ge­nen dunk­len Wan­de­rer, ei­nen Ge­dan­ken, der seit Ta­gen kommt und geht auf el­lip­ti­scher Bahn, des­sen Gra­vi­ta­ti­on drückt und lähmt, bis ihn die Flieh­kraft ein­mal mehr zu­rück in die Nacht schleu­dert: Pa­pa geht zum Arzt.“

Die Welt, in der Jan­nes kreist, ist ei­ne be­grenz­te. Es ist die Hei­de süd­lich von Lü­ne­burg, in der er mit den Schnu­cken des Fa­mi­li­en­be­triebs um­her­zieht. Fa­mi­lie und Tra­di­ti­on ma­chen ihn zum Schä­fer in die­ser ver­meint­lich idyl­li­schen Land­schaft. Ei­ne Su­che nach der ei­ge­nen Iden­ti­tät, wie sie sei­ne Al­ters­ge­nos­sen un­ter­neh­men, ist un­ter die­sen Um­stän­den nicht nur nicht nö­tig, son­dern un­mög­lich. Das Le­ben scheint vor­ge­zeich­net für den 19-jäh­ri­gen Prot­ago­nis­ten in „Von Nor­den rollt ein Don­ner“, dem zwei­ten und für den dies­jäh­ri­gen Deut­schen Buch­preis no­mi­nier­ten Ro­man des jun­gen Au­tors Mar­kus Thie­le­mann.

Auch wenn der Ti­tel, wie die ört­li­chen Ge­ge­ben­hei­ten und der Ver­lauf der Ge­schich­te zei­gen, in dop­pel­ter Wei­se deut­bar ist, er­zeugt er zu­nächst ei­nen star­ken Be­zug zur Na­tur. Die Na­tur be­stimmt den Be­ruf des Schä­fers, in­dem sie mit Wet­ter und Jah­res­zei­ten den Rhyth­mus dik­tiert. Jan­nes und sei­ne Her­de sind ab­hän­gig von der Flo­ra, dem Ge­dei­hen der Fut­ter­pflan­zen, wie von der Fau­na, die sich im Wohl der Schnu­cken und im Ge­schick der Hüte­hun­de of­fen­bart und mit dem Wolf de­ren Ha­bi­tat be­droht. Jan­nes ist ihm schon Will­kom­men im Au­en­land““ weiterlesen

Zurück zu Mutter Natur

In „Man kann auch in die Höhe fallen“ erzählt Joachim Meyerhoff von der magischen Macht seiner Mutter

Was für ein Spek­ta­kel, dach­te ich, Milch, Blut, Re­gen, Don­ner, Pla­zen­ta und Blit­ze, Mut­ter­glück, neu­es Le­ben und ein nas­ser Mann Mit­te fünfzig.“

Die­ser Satz, der ge­gen En­de von Joa­chim Mey­er­hoffs neu­em Ro­man fällt, kom­pri­miert den In­halt auf wun­der­ba­re Wei­se. Als Prot­ago­nis­ten tau­chen ein Mann Mit­te fünf­zig und sei­ne Mut­ter eben­so auf wie das Thea­ter, des­sen Spek­ta­kel Mey­er­hoff als An­ek­do­ten voll Blitz und Don­ner in­sze­niert, um mit Milch, Blut und Pla­zen­ta, ei­ne be­son­de­re le­bens­lan­ge Ver­bin­dung zu fei­ern. Sie gilt in „Man kann auch in die Hö­he fal­len“, dem sechs­ten Teil der Fa­mi­li­en­ro­man-Rei­he „Al­le To­ten flie­gen hoch“ in be­son­de­rem Ma­ße Mey­er­hoffs Mut­ter wie sei­ner ei­ge­nen Rol­le als Sohn und als Vater.

Mit sei­nen Be­ru­fen, viel­leicht soll­te man bes­ser von Be­ru­fun­gen spre­chen, ha­dert er al­ler­dings eben­so wie mit der deut­schen Haupt­stadt, die nach den Jah­ren in Wien zum neu­en Wohn­ort wur­de. Er möch­te weg von Ber­lin und von sei­nem Busi­ness. Sei­ne Schau­spie­le­rei stellt er eben­so in Fra­ge wie das Schrei­ben, das ihm mit sei­nen au­to­bio­gra­phi­schen Ro­ma­nen bis­lang stets Er­fol­ge be­schert hat. Al­les zerrt an ihm. Er fühlt sich gleich­zei­tig ge­stresst und gelähmt.

Oh­ne wirk­lich zu be­grei­fen, wie es da­zu ge­kom­men war, war ich zu ei­nem Ner­ven­bün­del ge­wor­den, des­sen Un­aus­ge­gli­chen­heit für die mir na­he­ste­hen­den Men­schen mehr und mehr zur Zu­mu­tung wur­de. (…) Angst und Lan­ge­wei­le ver­tru­gen sich ganz aus­ge­zeich­net. Nie hät­te ich es für mög­lich ge­hal­ten, dass man wo­chen­lang auf der fau­len Haut lie­gen und der­art ent­spannt vor sich hin im­plo­die­ren konn­te. Die auf dem So­fa ver­brach­ten Stun­den nah­men bi­zar­re For­men an, und oft wuss­te ich nicht mehr, wo ich auf­hör­te und die Couch be­gann. Wie ein ge­schmol­ze­ner Kä­se war ich in je­de Rit­ze des So­fas hin­ein­ge­flos­sen, hat­te das Sitz­mö­bel mit mir selbst über­ba­cken. Und doch woll­te ich mei­ne Ver­stimmt­heit nicht De­pres­si­on nen­nen oder gar Mid­life­cri­sis, denn es wa­ren ja hand­fes­te Pro­ble­me, die ich hat­te. Seit Wo­chen hat­te ich nichts ge­schrie­ben, und das, ob­wohl sich in mei­nem Kopf die Ge­schich­ten tum­mel­ten. Ber­lin al­ler­dings ent­pupp­te sich als Säu­re­bad, das tag­täg­lich mei­ne In­spi­ra­ti­on zerfraß.“

Viel­leicht ver­mag ei­ne Flucht den Kno­ten lö­sen? Der Er­zäh­ler ent­schei­det sich für nichts Ge­rin­ge­res als die Welt­flucht, die ihn aus der „Zu­rück zu Mut­ter Na­tur“ weiterlesen

Anekdotenreiches Ahnen-Panorama

Der Österreicher Robert Palfrader blickt in „Ein paar Leben später“ auf seine etruskisch-ladinischen Wurzeln

Fa­mi­lie. Schwie­ri­ger Be­griff. Denn wo Fa­mi­lie be­ginnt, ist leicht de­fi­niert, aber wo hört sie auf? Denn wenn man nur acht Ge­ne­ra­tio­nen nach hin­ten blickt, sind das 256 di­rek­te Vor­fah­ren. Nicht, wenn man ein Habs­bur­ger ist, selbst­ver­ständ­lich. Da muss man mit der Hälf­te zu­frie­den sein. Aber im Nor­mal­fall sind das 256 Leu­te, die eben­falls aus eben­so vie­len Fa­mi­li­en stam­men. Wel­che die­ser Fa­mi­li­en ist jetzt die ei­ge­ne? Oder sind es alle?“

Es sind nicht nur die Da­ckel und die Etrus­ker, die mei­ne Le­se­lust auf Ro­bert Palf­ra­d­ers un­kon­ven­tio­nel­le Fa­mi­li­en­chro­nik „Ein paar Le­ben spä­ter“ ge­weckt ha­ben und für die ich aus nost­al­gi­schen Grün­den ein Fai­ble ha­be. Es ist auch das his­to­ri­sche In­ter­es­se am Le­ben in der heu­te nord­ita­lie­ni­schen Berg­re­gi­on, die vom En­de des 19. bis zur Mit­te des 20. Jahr­hun­derts, dem Hand­lungs­zeit­raum des Ro­mans, ne­ben den na­tur­ge­ge­ben exis­ten­ti­el­len Schwie­rig­kei­ten, zahl­rei­chen Kon­flik­ten aus­ge­setzt war. Palf­ra­d­ers Vor­fah­ren vä­ter­li­cher­seits stam­men aus dem la­di­ni­schen Teil Süd­ti­rols, wie der Au­tor in sei­nem Vor­wort schil­dert, das zu­dem auf die etrus­ki­schen Wur­zeln der La­di­ner ver­weist. Die­ser dop­pel­te Ah­nen­pool wird im wei­te­ren Ver­lauf als sprach­li­ches Er­be der La­di­ner und als ma­te­ri­el­les Er­be der Etrus­ker ei­ne Rol­le spie­len. Eben­so warnt Palf­ra­der, nicht al­les in sei­nem Ah­nen­me­moi­re für ba­re Mün­ze zu neh­men. „Sie ma­chen sich kei­ne Vor­stel­lung da­von, wie oft ich die Un­wahr­heit er­zäh­len wer­de müs­sen, um die Ge­schich­te der Fa­mi­lie mei­nes Va­ters glaub­haft er­schei­nen las­sen zu kön­nen. Denn die gan­ze Wahr­heit kann ich nie­man­dem zu­mu­ten, da­für ist sie zu ab­surd.“ Das weckt Er­war­tun­gen, die al­ler­dings, so­viel vor­weg, durch­aus er­füllt wer­den. „An­ek­do­ten­rei­ches Ah­nen-Pan­ora­ma“ weiterlesen

Dramarama

Céline Spierers Roman „Bevor es geschah“ erreicht den Verstrickungsgrad griechischer Tragödien

»Ich ha­be et­was mit an­ge­se­hen, was ich nicht hät­te se­hen sol­len«, sagt sie mit er­staun­lich ru­hi­ger Stim­me. On­kel John war­tet, und sein Schwei­gen er­mu­tigt sei­ne Nich­te wei­ter­zu­spre­chen. »Es be­trifft un­se­re Fa­mi­lie. Ich ha­be et­was ge­se­hen, das al­les zer­stö­ren könn­te, wenn ich es erzähle. «“

Das an Dra­men rei­che deut­sche De­büt von Cé­li­ne Spie­rer star­tet mit dem gro­ßen, ein Klein­kind wird in ei­nem Pool auf­ge­fun­den, sein Über­le­ben ist un­ge­wiss. Das Un­glück wird im fran­zö­sisch­spra­chi­gen Ori­gi­nal mit „Noya­de“ klar be­nannt. Die von Si­na de Mal­a­fo­s­se ins Deut­sche über­tra­ge­ne Aus­ga­be trägt den Ti­tel „Be­vor es ge­schah“, was zu­gleich für die Kon­struk­ti­on des Ro­mans steht.
Der Ein­stieg mit un­ge­wis­sem En­de bil­det den Aus­gangs­punkt für ei­nen Rück­blick auf den we­ni­ge Stun­den zu­vor be­gon­ne­nen som­mer­li­chen Brunch, zu dem sich die Fa­mi­lie Hay­nes je­des Jahr im Haus der Mut­ter ver­sam­melt. Ei­gent­lich ha­ben al­le kei­ne Lust da­zu, denn wie das so ist, wenn sich Ge­schwis­ter nebst An­hang im El­tern­haus zu­sam­men­fin­den, stö­ren Er­in­ne­run­gen und Er­war­tun­gen die er­hoff­te Harmonie.
So emp­fin­det es Eli­sa­beth, die Ma­tri­ar­chin, wie ih­re Kin­der sie ins­ge­heim nen­nen, eben­so ihr Sohn Win­s­ton und sei­ne „Dra­ma­ra­ma“ weiterlesen

Verdrängung

Julie von Kessel erzählt in „Die anderen sind das weite Meer“ filmreif und mit psychologischem Gespür von der späten Annäherung einer Familie

Ne­ben dem Schrank hing ein Bild, das Lu­ka vor vier­zig Jah­ren ge­malt hat­te: Drei Kin­der und zwei Er­wach­se­ne wa­ren dar­auf zu se­hen, die gan­ze Fa­mi­lie Cra­mer, von der win­zi­gen Ele­na bis zu Ma­ria mit den gro­ßen brau­nen Krin­geln auf dem Kopf. Tom be­trach­te­te es, zum ers­ten Mal fiel ihm auf, dass sie al­le Ber­ge be­stie­gen, doch je­des Fa­mi­li­en­mit­glied er­klomm sei­nen ei­ge­nen Hügel.“

Wenn El­tern äl­ter wer­den, se­hen sich Kin­der oft mit Her­aus­for­de­run­gen kon­fron­tiert. Es meh­ren sich Krank­hei­ten, wie die per­sön­lich­keits­ver­än­dern­de De­menz, die die Be­zie­hun­gen auf den Kopf stel­len. Das gilt be­son­ders für die Kon­stel­la­ti­on von Ge­schwis­tern. Man wohnt ent­fernt und sieht sich sel­ten. Wer küm­mert sich, wenn der Va­ter oder die Mut­ter Hil­fe be­nö­ti­gen? Der Not­wen­dig­keit zu han­deln steht das Ab­schie­ben von Ver­ant­wor­tung ent­ge­gen. Kon­flik­te schei­nen unvermeidlich.

So er­geht es Lu­ka, Tom und Ele­na, als sie er­fah­ren, daß ihr Va­ter zu­neh­mend de­ment wird und in der Nach­bar­schaft her­um­irrt. Hans war einst als Bot­schaf­ter des Aus­wär­ti­gen Amts in Me­xi­ko. Dort lern­te er „Ver­drän­gung“ weiterlesen

Vielleicht bin ich auch nur eine Nieze aus Plastik?“

In „Kleine Probleme“ von Nele Pollatschek entlädt ein Prokrastinierer seine selbstmitleidige Suada

Ich muss­te oft noch was er­le­di­gen, meis­tens mor­gen, manch­mal aber auch spä­ter oder nächs­te Wo­che oder dem­nächst. Das Pro­blem ist, dass es meis­tens nicht spä­ter war, son­dern eben jetzt, und jetzt rauch­te ich noch ei­ne Zi­ga­ret­te, las noch ei­nen Ar­ti­kel, starr­te auf mein Te­le­fon, wisch­te dem Welt­un­ter­gang hin­ter­her, schau­te nur die­ses ei­ne Vi­deo noch zu En­de, ging noch­mal eben aufs Klo, mach­te schnell noch ei­nen Kaf­fee, be­vor ich dann gleich an­fing, al­so bald, al­so nach­her, al­so viel­leicht doch bes­ser mor­gen, es war ja auch schon spät. Und dann ka­men plötz­lich und fast völ­lig un­er­war­tet die­se Mo­men­te, an de­nen das spä­ter rest­los auf­ge­braucht war, und aus dem jetzt wur­de jetzt oder nie.“

Im Ge­gen­satz zu den Ar­ti­keln der Jour­na­lis­tin Ne­le Pol­lat­schek, die ich we­gen ih­res sub­ti­len Hu­mors sehr ger­ne le­se, hat mich ihr Ro­man „Klei­ne Pro­ble­me“ we­ni­ger über­zeugt, was so­wohl am The­ma wie an sei­ner Aus­füh­rung liegt. Der in­ne­re Mo­no­log ei­nes Man­nes En­de Vier­zig zwingt die Le­ser und erst recht die Le­se­rin­nen auf gut 208 Sei­ten Län­ge auf das Pro­krus­tes­bett. Wenn Lars als wah­rer Pro­kras­ti­na­tor an den Ner­ven sägt, will man nur noch ei­nes, ganz weit weg. Das gilt nicht nur für Jo­han­na, die Frau des An­ti-Hel­den flieht vor des­sen Ver­hal­ten ins fer­ne Lis­sa­bon. Es gilt auch für die Le­se­rin, die die­se Lek­tü­re vor gro­ße Pro­ble­me stell­te. Sie war ge­nervt, auf­ge­bracht und schließ­lich Viel­leicht bin ich auch nur ei­ne Nie­ze aus Plas­tik?““ weiterlesen

Eros und Thanatos

Über den Wald als Ort des Werdens und Vergehens schreibt Anaïs Barbeau-Lavalette in „Sie und der Wald“

Ich las­se mich vom Wald auf­sau­gen. Spü­re, dass ich zu die­sem Bo­den da­zu­ge­hö­ren kann. Zu der Flä­che zwi­schen zwei Bä­chen, der Bie­gung hin­ter dem Fel­sen, der aus­sieht wie ein Ge­sicht, zu dem Erd­pfad, der sich zum Gip­fel schlän­gelt. Ich wer­de für al­les durch­läs­sig, das sich be­wegt, das bebt. Aber nicht mein Kopf in­ter­es­siert sich da­für, son­dern mein Blut. Der feuch­te, süß­li­che Duft der Bal­sam­tan­ne, der er­di­ge, in­ten­si­ve Ge­ruch der Ei­chen. Der per­fekt phra­sier­te Tanz des Perl­farns, der sei­nem Na­men – Ono­clea sen­si­bi­lis – al­le Eh­re macht, wenn er mit sei­nen fi­li­gra­nen Zwei­gen in ei­ner Wel­le von oben nach un­ten so ele­gant mit der Reg­lo­sig­keit bricht. Al­les ist gleich­zei­tig hauch­zart und üp­pig. Ich las­se mich ver­schlu­cken. Kei­ne Haut mehr zwi­schen mir und den Bäu­men. Ich set­ze mich auf ei­nen to­ten Baum, den das Un­wet­ter aus der Er­de ge­ris­sen hat. Die Ber­ge sind zer­furcht von die­sen ge­wal­ti­gen Nar­ben, wie lau­ter mo­nu­men­ta­le Knie­fäl­le vor dem lei­sen Wü­ten der jüngs­ten Zeit. Ein Wald oh­ne ge­ra­de We­ge ist ein glück­li­cher Wald. Er ge­deiht präch­tig, wenn man im Zick­zack zwi­schen den Bäu­men und to­ten Stümp­fen lau­fen muss, in de­nen neu­es Le­ben ge­deiht. Sa­la­man­dern und un­zäh­li­gen In­sek­ten bie­ten sie Un­ter­schlupf und Nah­rung. Ein to­ter Baum trägt ge­nau­so zum Lauf des Le­bens bei wie ein lebendiger.“

Wer mein Blog ver­folgt, weiß, daß ich sehr ger­ne Bü­cher über Men­schen le­se, die sich der Na­tur aus­set­zen. Sie dient dem Rück­zug, wie bei Ho­ward Axel­rod und Do­ris Knecht oder ei­nem Ex­pe­ri­ment, wie es Jür­gen Kö­nig auf ei­ner Hoch­alm un­ter­nahm. Manch­mal liegt in ihr der ein­zi­ge Ort zum Über­le­ben, wie in Er­win Uhr­manns span­nen­der Dys­to­pie „Ich bin die Zu­kunft“.

Ei­ne sol­che ret­ten­de Zu­flucht bie­tet die Na­tur der in Mon­tré­al ge­bo­re­nen Film­re­gis­seu­rin, Dreh­buch­au­to­rin und Schrift­stel­le­rin Anaïs Bar­beau-La­va­let­te. Zu Be­ginn der Co­ro­na-Epi­de­mie zieht sie in die ka­na­di­schen Wäl­der. Dort steht das Blaue Haus, wo sie ge­mein­sam mit ih­rem Mann, ei­nem Freun­des­paar und fünf Kin­dern die Zeit der Iso­la­ti­on über­ste­hen will. Nicht weit ent­fernt, aber doch weit ge­nug in Zei­ten des Ab­stands, ist Bar­beau-La­va­let­te im Ro­ten Haus auf­ge­wach­sen, wo ih­re El­tern nach wie vor le­ben. „Sie und der Wald“ er­zählt folg­lich von ei­ner au­then­ti­schen Be­ge­ben­heit. Wer je­doch denkt, es han­de­le sich um ei­nen Be­richt über die Her­aus­for­de­run­gen, die Zi­vi­li­sa­ti­ons­fer­ne „Eros und Tha­na­tos“ weiterlesen

Ein alter Alutopf und eine riesige, rote Couch

In ihren Romanen „Mama Odessa“ und „Baumgartner“ erschaffen Maxim Biller und Paul Auster vielfältige Wege zur Erinnerung und zeigen einige Gemeinsamkeiten

An­na war an sei­ner Sei­te, auf der gan­zen Rei­se gin­gen sie ne­ben­ein­an­der­her, spra­chen mit­ein­an­der, hör­ten ein­an­der zu, wäh­rend sie durch die Räu­me und schwach be­leuch­te­ten Kor­ri­do­re des Pa­lasts der Er­in­ne­rung zo­gen und Hun­der­te gro­ße und klei­ne Din­ge auf­such­ten, die sie in die­sen vier­zig Jah­ren er­lebt hat­ten. Selbst­ver­ständ­lich war sie nicht in Fleisch und Blut bei ihm, aber als er zum ers­ten Mal nach weiß Gott wie lan­ger Zeit ih­re Brie­fe und Ma­nu­skrip­te las, fand er im­mer­hin ih­re Stim­me wie­der, und als er sich in die zahl­lo­sen Fo­tos ver­tief­te, die er und an­de­re Zeit ih­res Le­bens von ihr ge­macht hat­ten, fand er auch ih­ren Kör­per wie­der.“ (Paul Aus­ter, Baumgartner)

„Ich stand jetzt, fast fünf­zig Jah­re spä­ter, vor den bei­den Bil­dern im al­ten Ar­beits­zim­mer mei­ner Mut­ter in der Bie­ber­stra­ße und sah sie mi­nu­ten­lang an. Da­bei ver­such­te ich, mich an mei­ne rus­si­sche Kind­heit zu er­in­nern, oder we­nigs­tens an ein paar Mo­men­te, Ge­rü­che, Bli­cke. Aber da war nichts, gar nichts. Mei­ne Er­in­ne­run­gen be­stan­den fast nur aus al­ten Fo­tos und den Bil­dern, die mein Groß­va­ter nach ih­nen ge­malt hat­te. War ich nicht, dach­te ich plötz­lich, manch­mal bei ihm im Ate­lier in der Mol­do­wan­ka ge­we­sen? Ja, rich­tig. Das Ate­lier war im Erd­ge­schoss, hin­ten, am En­de des Hofs, (…) War­um hat­te ich das ver­ges­sen? War­um er­in­ner­te ich mich plötz­lich dar­an?“ (Ma­xim Bil­ler, Ma­ma Odessa)

Manch­mal, es mag Zu­fall sein, of­fen­ba­ren zwei Ro­ma­ne, die ich oh­ne be­stimm­te Ab­sicht nach­ein­an­der ge­le­sen ha­be, star­ke Ge­mein­sam­kei­ten, die mich ein­fach nicht mehr los­las­sen und zum Wei­ter­den­ken an­re­gen. So er­ging es mir auch mit den neu­en Ro­ma­nen von Ma­xim Bil­ler und Paul Aus­ter, „Ma­ma Odes­sa“ und „Baum­gart­ner“.

Die stärks­te Ge­mein­sam­keit liegt dar­in, wie in den bei­den Wer­ken „Ein al­ter Alutopf und ei­ne rie­si­ge, ro­te Couch“ weiterlesen