Verdrängung

Julie von Kessel erzählt in „Die anderen sind das weite Meer“ filmreif und mit psychologischem Gespür von der späten Annäherung einer Familie

Ne­ben dem Schrank hing ein Bild, das Lu­ka vor vier­zig Jah­ren ge­malt hat­te: Drei Kin­der und zwei Er­wach­se­ne wa­ren dar­auf zu se­hen, die gan­ze Fa­mi­lie Cra­mer, von der win­zi­gen Ele­na bis zu Ma­ria mit den gro­ßen brau­nen Krin­geln auf dem Kopf. Tom be­trach­te­te es, zum ers­ten Mal fiel ihm auf, dass sie al­le Ber­ge be­stie­gen, doch je­des Fa­mi­li­en­mit­glied er­klomm sei­nen ei­ge­nen Hügel.“

Wenn El­tern äl­ter wer­den, se­hen sich Kin­der oft mit Her­aus­for­de­run­gen kon­fron­tiert. Es meh­ren sich Krank­hei­ten, wie die per­sön­lich­keits­ver­än­dern­de De­menz, die die Be­zie­hun­gen auf den Kopf stel­len. Das gilt be­son­ders für die Kon­stel­la­ti­on von Ge­schwis­tern. Man wohnt ent­fernt und sieht sich sel­ten. Wer küm­mert sich, wenn der Va­ter oder die Mut­ter Hil­fe be­nö­ti­gen? Der Not­wen­dig­keit zu han­deln steht das Ab­schie­ben von Ver­ant­wor­tung ent­ge­gen. Kon­flik­te schei­nen unvermeidlich.

So er­geht es Lu­ka, Tom und Ele­na, als sie er­fah­ren, daß ihr Va­ter zu­neh­mend de­ment wird und in der Nach­bar­schaft her­um­irrt. Hans war einst als Bot­schaf­ter des Aus­wär­ti­gen Amts in Me­xi­ko. Dort lern­te er Ma­ria, sei­ne Frau, ken­nen, die vor Jah­ren ver­stor­ben ist. Er lebt al­lein im Bon­ner Ein­fa­mi­li­en­haus, le­dig­lich ein Pfle­ge­dienst schaut vor­bei.  Zu sei­nen Kin­dern un­ter­hält der ge­fühl­s­ar­me Mann am­bi­va­len­te Bindungen.

Sei­ne Stur­heit, sein Man­gel an Em­pa­thie, sei­ne völ­li­ge Un­fä­hig­keit, et­was aus ei­nem an­de­ren Blick­win­kel zu se­hen als sei­nem ei­ge­nen, das war schon im­mer da­ge­we­sen. Mit der De­menz ver­stand Hans im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes die Welt nicht mehr, doch im Grun­de hat­te er sie nie ver­stan­den. Das Le­ben, das sei­ne Kin­der führ­ten, ver­wirr­te ihn. Toms Ho­mo­se­xua­li­tät hat­te er im­mer ein­fach igno­riert. Und als Tom ihm mit Mit­te zwan­zig sei­nen Be­rufs­wunsch mit­ge­teilt hat­te, war Hans vol­ler Ver­ach­tung ge­we­sen (»Psych­ia­ter sind doch meis­tens selbst ver­rückt«). Mit Ele­na war es fast noch schlim­mer. Erst hat­te er ihr die fi­nan­zi­el­le Un­ter­stüt­zung ent­zo­gen, so dass für sie ein Uni-Ab­schluss ir­gend­wann un­mög­lich ge­wor­den war, dann straf­te er sie da­für. Als die Nach­barn ein­mal nach ihr ge­fragt hat­ten – »Was macht Ele­na ei­gent­lich?« – hat­te Hans höh­nisch auf­ge­lacht. »Macht sie über­haupt et­was?« Nur Lu­ka war in sei­nen Au­gen unfehlbar.“

 Lu­ka, die Äl­tes­te, steht ihm am nächs­ten, auch wenn sie als Aus­lands­re­por­te­rin stets weit ent­fernt ist. Zu Ele­na hin­ge­gen, die eben­falls in Bonn wohnt und die größ­te Va­ter­last trägt, hat er ein schlech­tes Ver­hält­nis. Kaum mehr ver­bin­det ihn mit Tom, der als Psych­ia­ter zwar me­di­zi­ni­sches Ver­ständ­nis für den Va­ter hat, den je­doch Er­in­ne­rung und Ver­schwei­gen auf Di­stanz hal­ten. Tom wohnt in Ber­lin und lei­tet ei­ne Psych­ia­tri­sche Kli­nik, sei­nen Va­ter sieht er sel­ten. Die­ser lebt in zu­neh­men­der Ver­un­si­che­rung, da er merkt, daß er sich im­mer stär­ker ver­liert. Ori­en­tie­rung bie­tet ihm oft nur noch die Lis­te, die ei­ne Pfle­ge­rin für ihn macht. „Er spür­te ei­ne tie­fe Dank­bar­keit für Jad­wi­gas Zet­tel, den sie je­den Abend für ihn schrieb. Ih­re Lis­te war wie ein An­ker, wenn er mor­gens er­wach­te und sich fühl­te, als wür­de er mit­ten auf dem Meer trei­ben. Sie ließ ihn wis­sen, wel­cher Tag es war und was er zu tun hatte.“

Dies ist die Aus­gangs­la­ge in Ju­lie von Kes­sels drit­tem Ro­man „Die an­de­ren sind das wei­te Meer“. Die Jour­na­lis­tin und Fern­seh­au­to­rin ist selbst Toch­ter ei­nes Di­plo­ma­ten und lässt die­se Er­fah­run­gen in die Er­leb­nis­se ih­rer Prot­ago­nis­ten einfließen.

In mul­ti­per­spek­ti­vi­schen Epi­so­den kom­men wech­sel­wei­se die Ge­schwis­ter Lu­ka, Tom, Ele­na und Va­ter Hans zu Wort. Kes­sel ge­lingt dies auf span­nen­de Wei­se und mit psy­cho­lo­gi­schem Ge­spür. Ne­ben den Er­in­ne­run­gen der Er­zähl­fi­gu­ren, die Ein­bli­cke in die Fa­mi­li­en­ver­gan­gen­heit ge­wäh­ren, ste­hen le­ben­di­ge Dia­lo­ge und fast fil­mi­sche Sze­nen. „Wut flamm­te in ihr auf, aber auch Ver­zweif­lung dar­über, dass nie­mand zu ihr hielt. Sie ball­te die Hand zur Faust und drück­te sie an die Schei­be, am liebs­ten hät­te sie hin­durch­ge­schla­gen, aber zu ei­ner solch dra­ma­ti­schen Ges­te war sie nicht fä­hig, zum Glück.“ Manch­mal en­den die Ka­pi­tel mit ei­nem Cliff­han­ger. Im Fal­le der in der Ukrai­ne spie­len­den Lu­ka-Epi­so­den er­in­ner­te mich dies an Se­ri­en wie „The Mor­ning Show“.

Die The­men­viel­falt trägt da­zu bei, die Lek­tü­re in­ter­es­sant zu ge­stal­ten, auch wenn sie bis­wei­len ein we­nig über­bor­det. An­de­rer­seits ist, wie bei gu­ter Un­ter­hal­tung zu er­war­ten, für je­den et­was da­bei. Da gibt es Part­ner­schaft und Lie­be, er­gänzt vom El­tern­sein, Be­rei­che, in de­nen per se an je­der Ecke Schwie­rig­kei­ten lau­ern. Kes­sel hin­ter­fragt hier nicht nur das männ­li­che Ver­hal­ten kri­tisch. Es fol­gen Krank­hei­ten, wie mit ih­nen um­ge­gan­gen wer­den kann und wie bes­ser nicht. Ele­na, die wie ih­re Mut­ter an Brust­krebs er­krankt ist, ver­drängt die­sen zu­nächst. Ver­drän­gung ist das Leit­mo­tiv des Ro­mans und bie­tet be­son­ders den Haupt­the­men, Äl­ter­wer­den und De­menz, gro­ßes Po­ten­ti­al. Lu­ka, die aus Al­ters­grün­den um ih­re Kar­rie­re fürch­tet, führt erst ein fa­ta­ler Feh­ler zur Aus­ein­an­der­set­zung mit die­ser. Tom, der sich vom Va­ter nicht an­er­kannt fühlt, fällt es schwer, zu sich und sei­nen Wün­schen zu ste­hen. Hans spürt, wie die De­menz sein Selbst ver­än­dert. Dies könn­te man, be­son­ders bei den ge­schil­der­ten De­tails als kli­schee­haft auf­fas­sen. Doch wer selbst Er­fah­run­gen mit de­men­ten Per­so­nen hat, weiß, dass Kli­schees lei­der oft zu­tref­fen. Die Krank­heit ver­än­dert Hans. Er ver­liert Tei­le sei­ner Per­sön­lich­keit, aber er ver­liert auch sei­ne mo­ra­li­sche Ri­gi­di­tät. Ei­ne An­nä­he­rung zu sei­nen Kin­dern scheint da­durch mög­lich zu werden.

Ju­lie von Kes­sels Ro­man er­zählt, wie ei­ne Fa­mi­lie al­les un­ter den Tep­pich kehrt, bis ein Berg ent­steht, des­sen Hän­ge un­ter gro­ßer An­stren­gung be­wäl­tigt wer­den müssen.

Julie von Kessel, Die anderen sind das weite Meer, Eisele Verlag 2024

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