Die „schwer erträgliche Leichtigkeit des Cancelns“

In „Der Entmündigte Leser“ führt Melanie Möller einen „leidenschaftlichen Kampf für die Autonomie der Literatur“

Sie ver­ge­hen sich an Kunst und Li­te­ra­tur, und sie wol­len (Literatur)Geschichte um­schrei­ben, in­dem sie sie mo­ra­lisch be­rei­ni­gen, mö­gen die Grün­de für ihr Vor­ge­hen auch mit der Zeit wechseln.“

Ab der Mit­te des 18. Jahr­hun­derts wur­de es in Mu­se­en mo­dern, Stau­en der klas­si­schen An­ti­ke mit Blät­tern zu ver­se­hen, auf daß sie der­art be­klei­det den Blick der Be­trach­ter sitt­sam er­freu­en. Ein Blatt aus Blech, Gips oder Pap­pe ver­hüll­te die Scham ei­nes Apolls oder ei­ner Aphro­di­te, falls die­se es als Ve­nus pu­di­ca nicht gleich selbst be­sorg­te. Zwi­schen den ge­spreiz­ten Bei­nen des da­hin­ge­fläz­ten Bar­ber­ini­schen Fauns brauch­te es so­gar ein mehr­blätt­ri­ges Kon­strukt, String­tan­ga gleich am mar­mor­nen Glu­teus Ma­xi­mus ver­drah­tet. Die al­ten Grie­chen hät­ten sich mehr als ge­wun­dert. Sie dach­ten an An­be­tung und Äs­the­tik, Re­prä­sen­ta­ti­on und Krea­ti­vi­tät. Un­zucht, wie die christ­li­chen Be­trach­ter der nach­fol­gen­den Jahr­hun­der­te die an­ti­ke Ide­al-Nackt­heit ver­kann­ten, kam ei­nem Pra­xi­te­les und sei­nen Zeit­ge­nos­sen wohl kaum in den Sinn. Viel­leicht mag Ero­tik in dem ei­nen oder an­de­ren Be­wun­de­rer an­ge­klun­gen sein, vor al­lem, wenn man in der An­ti­ke ein we­nig vor­an­schrei­tet und ei­nen al­ten Rö­mer be­fragt. Aus­kunft da­zu gibt nicht nur Pe­tro­ni­us, son­dern auch das In­te­ri­eur man­cher pom­pe­ja­ni­schen Vil­la. Et­li­che Jahr­hun­der­te spä­ter er­wärm­te sich Win­ckel­mann für die Schön­heit an­ti­ker Mar­mor­lei­ber und klag­te, die va­ti­ka­ni­sche Zen­sur hän­ge auf päpst­li­chen Be­fehl „dem Apoll, dem Lao­coon und den üb­ri­gen Sta­tu­en im Bel­ve­de­re ein Blech vor den Schwanz“. Noch ein wei­te­res Schritt­chen Rich­tung Ge­gen­wart be­zahl­ten rei­che al­te Kna­ben ar­me hüb­sche Jungs da­für, sich in der Po­se ei­nes an­ti­ken Ephe­ben oder Sa­tyrs ab­lich­ten zu las­sen. Doch sind die an­ti­ken Sta­tu­en des­we­gen ein schlech­tes Vor­bild? Sol­len die Mu­se­en wie­der die Fei­gen­blät­ter raus­kra­men oder nur noch Er­wach­se­ne mit un­ta­de­li­gem Re­gis­ter in ih­re Hal­len las­sen? Dies wä­re Zen­sur, es wä­re ge­gen die Kunst und ge­gen die Frei­heit die­se zu be­trach­ten. Glei­ches gilt für die Li­te­ra­tur. Zu­mal für die, de­ren Ver­fas­ser nicht mehr un­ter den Le­ben­den wei­len. Ih­re Schrif­ten sind nicht nur Kunst, son­dern Quel­len. Do­ku­men­te, de­ren In­halt nicht ver­än­dert wer­den darf. Zeit­geist oder Mo­ral hin oder her. Je­der soll sie in un­ver­än­der­ter Form le­sen können.

Für die­ses Recht strei­tet Me­la­nie Möl­ler in „Der ent­mün­dig­te Le­ser“. Die Klas­si­sche Phi­lo­lo­gin mit ei­ner Pro­fes­sur an der Frei­en Uni­ver­si­tät Ber­lin bringt sich mit Ver­ve in die De­bat­te ein. Ihr Aus­gangs­punkt ist klar. Sie plä­diert für die Un­ver­sehrt­heit der Li­te­ra­tur und das auf pro­vo­kan­te Wei­se. In ih­rem Wi­der­stand ge­gen die „Än­der­wü­ti­gen“ ver­steht sie sich als Hü­te­rin des kul­tu­rel­len Er­bes und blickt auf die An­fän­ge eu­ro­päi­scher Li­te­ra­tur zu­rück, denn Ver­su­che „mo­ra­li­scher Rei­ni­gung von Kunst und Li­te­ra­tur gab es schon vor 2000 Jah­ren“.

Da­bei äu­ßert sie nicht nur ei­ge­ne An­sich­ten. Di­rekt zu Be­ginn weist sie Kaf­ka als Ver­bün­de­ten aus. In ih­rer Ein­lei­tung folgt ein Ein­blick in den ge­gen­wär­ti­gen Dis­kurs und des­sen über­sen­si­ble Blü­ten. So blickt sie bei­spiels­wei­se auf die Schwie­rig­kei­ten, die durch ver­meint­lich „Kul­tu­rel­le An­eig­nung“ bei der Über­set­zung der Ly­rik Aman­da Gorm­ans ent­stan­den oder er­in­nert an Jean-Clau­de Sul­zer, der von ei­ner Ju­ry auf­ge­for­dert wur­de, ein Wort aus sei­nem Ro­man zu til­gen, ob­gleich in der Hand­lungs­zeit des Werks die Be­zeich­nung „Zi­geu­ner“ zum „üb­li­chen Sprach- und Vor­ur­teils­ge­brauch“ zähl­te. Zwei Bei­spiel, die un­ter­schied­li­cher nicht sein, je­doch zum Glei­chen füh­ren könnten.

Möl­ler er­kennt sie als ver­schie­de­ne Aus­prä­gun­gen der glei­chen Er­schei­nung. „Es geht ein Ge­spenst um im Li­te­ra­tur- und Kul­tur­be­trieb. Wie es Ge­spens­ter so an sich ha­ben, kann es ein ge­wis­ses Al­ter vor­wei­sen: Es hat Jah­re, Jahr­hun­der­te, so­gar Jahr­tau­sen­de auf dem krum­men Bu­ckel. Das Ge­spenst ist un­ter ver­schie­de­nen Na­men be­kannt, die von Kul­tur zu Kul­tur, aber auch in­ner­halb ein und des­sel­ben Sprach- und Denk­rau­mes wech­seln: Da­zu ge­hö­ren »Can­cel cul­tu­re«, »wo­ke­ness« »po­li­ti­cal cor­rect­ness« oder »sen­si­ti­vi­ty re­a­ding«. Frü­her ein­mal hör­te es auf den schlich­ten Na­men Zen­sur. Das Ge­spenst hat ei­ne sehr wei­te wei­ße Kut­te, un­ter der sich al­ler­lei Ver­bo­te­nes und Ver­fem­tes, Ver­däch­ti­ges oder Un­lieb­sa­mes ver­steckt; wie und war­um es da­hin­ge­ra­ten ist, kann sich das Ge­spenst selbst nicht so recht erklären.“

Möl­ler zieht mit spit­zer Fe­der ge­gen die­ses Phä­no­men zu Fel­de oder wie sie es sagt, ge­gen „die Ak­ti­vis­ten (…) auf der Ar­che post­ko­lo­nia­ler Kri­tik“. Wer­ke und Schrift­stel­ler ver­schie­de­ner Epo­chen, dar­un­ter je­weils ein Ex­em­plar aus der An­ti­ke, bringt sie zu­sam­men und ver­gleicht ih­re ver­meint­li­chen Ver­ge­hen. Wie soll­te es an­ders sein, steht im ers­ten Ka­pi­tel die Bi­bel den Epen Ili­as und Odys­see ge­gen­über. Bei­de er­zäh­len von den Schwie­rig­kei­ten mensch­li­chen Zu­sam­men­le­bens, von Kon­flik­ten im Klei­nen wie im Gro­ßen. Dass es in die­sen Schil­de­run­gen zu Ge­walt und Se­xis­mus kommt, ist un­ver­meid­lich, zu­dem wird „in die­sen ar­chai­schen Hel­den­epen (…) auf nichts Rück­sicht ge­nom­men, schon gar nicht auf die Be­find­lich­kei­ten et­wa­iger Min­der­hei­ten.“ Til­gen, sen­si­bel über­set­zen oder gar in ein­fa­che Spra­che über­tra­gen las­sen sie sich wohl kaum, oh­ne daß ihr We­sent­li­ches ver­lo­ren gin­ge. Es ist der „Glut­kern“, durch den die­se Tex­te die Jahr­hun­der­te überdauerten.

Doch auch ge­gen kul­tur­prä­gen­den Wer­ke gab es im­mer wie­der Ein­wän­de. Möl­ler ver­weist auf das Bi­bel­ver­bot in den Schu­len Utahs. Das könn­te ich noch auf die kru­de evan­ge­li­ka­le Welt­sicht schie­ben, doch wenn Möl­ler im Ka­pi­tel über Ovid und Brod­sky das Ver­bot der Me­ta­mor­pho­sen an bun­des­deut­schen Hoch­schu­len an­spricht, bin ich mehr als er­staunt, denn kei­ner er­zählt den Ata­lan­te-My­thos schö­ner als Ovid. Dass des­sen Ars ama­to­ria eben­falls un­ter Ver­dacht steht, wun­dert kaum. Wir ha­ben es noch in der Schu­le ge­le­sen, heu­te wä­re das viel­leicht nicht mehr mög­lich. Al­ler­dings hat da­mals, so­weit ich mich er­in­ne­re, der ge­sam­te Grund­kurs mehr er­war­tet als Ovid uns of­fen­bar­te. Da­mals wa­ren wir wohl weit ver­dor­be­ner als die Leu­te von heu­te. Kein Wun­der, als Ju­gend­li­che las man ja, was das el­ter­li­che Bü­cher­re­gal so her­gab. Ca­sa­no­va zum Bei­spiel, wenn auch nur in der drei­bän­di­gen Dünn­druck-Aus­ga­be. Möl­ler be­zeich­net Ca­sa­no­vas „de­li­ka­tes­te“ und „ver­gnüg­li­che Le­bens­ge­schich­ten“ als au­to­fik­tio­na­le Li­te­ra­tur. Der Prot­ago­nist des Werks soll­te nicht mit dem Au­tor gleich­ge­setzt wer­den. Ähn­li­ches gilt für Ca­tull, Ca­sa­no­vas Ka­pi­tel-Part­ner. Der rö­mi­sche Au­tor, der in sei­nen Wer­ken nicht ge­ra­de po­li­tisch kor­rekt vor­geht, kon­sta­tiert, „für den from­men Dich­ter selbst ge­hört es sich, mo­ra­lisch auf­recht zu sein, für sei­ne Vers­lein ist das Mit­nich­ten notwendig“.

Auch bei den Paa­ren der an­de­ren Ka­pi­tel sind es stets Grenz­über­schrei­tun­gen, die sie in den Fo­kus ih­rer Kri­ti­ker rü­cken. Sei­en es die sich selbst er­mäch­ti­gen­den Frau­en bei Eu­ri­pi­des und An­nie Er­naux oder die „weib­li­chen Iko­nen jen­seits der Norm“ bei Sap­pho und As­trid Lind­gren. Möl­lers Ar­gu­men­te öff­nen die Au­gen der Le­sen­den ge­gen­über ver­meint­lich acht­sa­men An­sin­nen. Ne­ben­bei lernt man nicht nur ei­ni­ges über die Viel­falt der an­ti­ken Li­te­ra­tur und ih­rer Li­be­ra­li­tät. Sie muss er­hal­ten blei­ben, un­ge­kürzt und un­ge­glät­tet. Möl­ler räumt ein, daß bei Über­set­zun­gen, die Spra­che an die Zeit an­ge­passt wer­den kann, den Text aber nicht ver­fäl­schen darf. Mo­ral darf je­doch nicht zum Kri­te­ri­um für Kür­zun­gen oder Ver­än­de­run­gen wer­den. Ak­tu­el­le Maß­stä­be las­sen sich nicht an his­to­ri­sche Tex­te an­le­gen, denn die­se sind zeit­ge­bun­den. Die Dis­kre­panz zu even­tu­el­len Be­find­lich­kei­ten kann aber in Kom­men­ta­ren auf­ge­fan­gen wer­den. Warn­hin­wei­se sind für er­wach­se­ne Le­ser über­flüs­sig. „Der Schlüs­sel zur Lö­sung“ könn­te laut Me­la­nie Möl­ler „tat­säch­lich in sprach­li­cher Re­fle­xi­on und Prä­zi­si­on lie­gen, denn Spra­che kann nach wie vor we­sent­li­che Macht entfalten“. 

 Melanie Möller, Der entmündigte Leser. Für die Freiheit der Literatur. Eine Streitschrift, Galiani Berlin 2024

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