Dramarama

Céline Spierers Roman „Bevor es geschah“ erreicht den Verstrickungsgrad griechischer Tragödien

»Ich ha­be et­was mit an­ge­se­hen, was ich nicht hät­te se­hen sol­len«, sagt sie mit er­staun­lich ru­hi­ger Stim­me. On­kel John war­tet, und sein Schwei­gen er­mu­tigt sei­ne Nich­te wei­ter­zu­spre­chen. »Es be­trifft un­se­re Fa­mi­lie. Ich ha­be et­was ge­se­hen, das al­les zer­stö­ren könn­te, wenn ich es erzähle. «“

Das an Dra­men rei­che deut­sche De­büt von Cé­li­ne Spie­rer star­tet mit dem gro­ßen, ein Klein­kind wird in ei­nem Pool auf­ge­fun­den, sein Über­le­ben ist un­ge­wiss. Das Un­glück wird im fran­zö­sisch­spra­chi­gen Ori­gi­nal mit „Noya­de“ klar be­nannt. Die von Si­na de Mal­a­fo­s­se ins Deut­sche über­tra­ge­ne Aus­ga­be trägt den Ti­tel „Be­vor es ge­schah“, was zu­gleich für die Kon­struk­ti­on des Ro­mans steht.
Der Ein­stieg mit un­ge­wis­sem En­de bil­det den Aus­gangs­punkt für ei­nen Rück­blick auf den we­ni­ge Stun­den zu­vor be­gon­ne­nen som­mer­li­chen Brunch, zu dem sich die Fa­mi­lie Hay­nes je­des Jahr im Haus der Mut­ter ver­sam­melt. Ei­gent­lich ha­ben al­le kei­ne Lust da­zu, denn wie das so ist, wenn sich Ge­schwis­ter nebst An­hang im El­tern­haus zu­sam­men­fin­den, stö­ren Er­in­ne­run­gen und Er­war­tun­gen die er­hoff­te Harmonie.
So emp­fin­det es Eli­sa­beth, die Ma­tri­ar­chin, wie ih­re Kin­der sie ins­ge­heim nen­nen, eben­so ihr Sohn Win­s­ton und sei­ne Frau Mat­hil­de, die El­tern des ver­un­glück­ten Tho­mas, ihr jün­ge­rer Sohn Sean und sei­ne Frau Em­ma, Jac­que­line, die sich in „un­er­schüt­ter­li­cher Un­ter­stüt­zung“ nicht nur um ih­ren Mann Lu­cas und die bei­den Tee­nie-Töch­ter, son­dern auch um den per­fek­ten Ab­lauf des Nach­mit­tags küm­mert, so­wie Ro­se, die jüngs­te und at­trak­tivs­te Toch­ter, und ihr Mann Raj. Nur in der Er­in­ne­rung an­we­send sind der ver­stor­be­ne Ehe­mann und Va­ter Alas­ta­ir und des­sen Bru­der, der un­ste­te John.
Es sind sehr un­ter­schied­li­che Cha­rak­te­re, die sich zu die­ser Fa­mi­lie ver­ei­nen. Der au­ßen­ste­hen­de Raj fin­det, daß sie „so schlecht zu­ein­an­der­pass­ten wie zu­fäl­lig aus­ge­wähl­te Klei­dungs­stü­cke. Al­les, von ih­ren Prin­zi­pi­en zu ih­rem Stil über ih­re be­ruf­li­che Kar­rie­re und ih­re Per­sön­lich­keit, schien sie ge­gen­ein­an­der aufzubringen.“
Wie die dro­hen­den Kon­flik­te un­ter der Ober­flä­che im Zaum ge­hal­ten wer­den, wäh­rend man über Be­lang­lo­sig­kei­ten spricht, zeigt Spie­rer mit gro­ßem Ge­spür. Da­bei merkt man der in Genf ge­bo­re­nen und in New York le­ben­den Au­torin ih­re Nä­he zum Film an. Mul­ti­per­spek­ti­visch stellt sie die Fi­gu­ren wech­sel­wei­se in den Mit­tel­punkt und ver­mit­telt de­ren Fremd- und Ei­gen­sicht. Wäh­rend ih­rer In­tro­spek­tio­nen drif­ten sie in ih­re Ver­gan­gen­heit, die Spie­rer als Flash­backs und we­ni­ger als Er­in­ne­run­gen an­legt. Pas­send fin­den sich Zeit­an­ga­ben als Ka­pi­tel­über­schrif­ten, was eben­so wie die Ge­stal­tung der Über­gän­ge an fil­mi­sche Mit­tel er­in­nert. Manch­mal nutzt Spie­rer ein Trig­ger­mo­tiv, wie den Mer­ce­des, des­sen An­blick in Ro­se trau­ma­ti­sche Er­fah­run­gen evo­ziert, die im Fol­ge­ka­pi­tel er­zählt wer­den. Bis­wei­len greift die Au­torin aber auch zu har­ten Schnit­ten, bei­spiels­wei­se beim ab­rup­ten Wech­sel von Jac­que­lines Ge­ständ­nis zu Johns An­sa­ge an Ro­se, der nach nur vier Sät­zen ein aber­ma­li­ger Sze­nen­wech­sel folgt. Oh­ne Zwei­fel be­inhal­tet die­ser Drei­pass ei­ne der wich­tigs­ten Aus­sa­gen des Ro­mans, doch oh­ne be­glei­ten­de Bil­der, wie ein Film sie lie­fert, könn­te er miss­ver­ständ­lich sein.
Durch wech­seln­de Per­spek­ti­ven und Zeit­ebe­nen wer­den nach und nach die Mo­ti­ve für das Ver­hal­ten der Fi­gu­ren auf­ge­deckt. Die zahl­rei­chen Trau­ma­ta und Lü­gen die­ser Er­fah­run­gen und Prä­gun­gen ent­wi­ckeln den Ver­stri­ckungs­grad grie­chi­scher Tra­gö­di­en. Es trieft vor Ge­heim­nis­sen und fast je­der hat min­des­tens ei­ne Lei­che im Kel­ler. Un­recht wird ver­schwie­gen oder ge­deckt, Schuld wird ge­fühlt oder ganz kon­kret be­gan­gen. Spie­rer ver­steht es, die Am­bi­va­lenz der Fi­gu­ren auch durch Par­al­le­len dar­zu­stel­len. So tei­len Ro­se und Nao­my die Pro­ble­me ih­rer Füh­rei­fe, Eli­sa­beth und Em­ma hin­ge­gen das Ge­fühl der Fremd­heit, die der so­zia­le Auf­stieg in ih­nen auslöst.
Über­zeugt ha­ben mich ne­ben der Kon­struk­ti­on auch die Psy­cho­gram­me, die die­ser Ro­man bie­tet, oft wohl­for­mu­liert, mit fei­ner Iro­nie. „Lu­cas ist so ein Mann, der zu­rück­ge­lehnt lebt, mit ei­nem an­ge­neh­men Ge­halt, fes­ten Ar­beits­zei­ten und ei­nem All­tag, der ei­nen Hauch zu fest­ge­legt ist, in dem je­des De­tail, von der Au­to­mar­ke bis zu den Aus­ga­ben über die be­ruf­li­chen Am­bi­tio­nen und die se­xu­el­le Lust, den mus­ter­gül­ti­gen Re­geln der Mä­ßi­gung folgt.“ Die Zeit­an­ga­ben über den Ka­pi­teln wir­ken hin­ge­gen wie Film­ein­blen­dun­gen und hät­ten li­te­ra­risch ge­löst wer­den kön­nen und so man­che Red­un­danz bei der Be­schrei­bung von Äu­ßer­lich­kei­ten vermieden.
Spie­rer öff­net sehr vie­le Pro­blem­fel­der, die den Ro­man bis­wei­len leicht über­kon­stru­iert wir­ken las­sen, al­ler­dings kom­po­niert sie die­se sorg­fäl­tig zu ei­ner span­nen­den Geschichte.

Céline Spierer, Bevor es geschah, übers. v. Sina de Malafosse, Kein&Aber Verlag 2024

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