Der Österreicher Robert Palfrader blickt in „Ein paar Leben später“ auf seine etruskisch-ladinischen Wurzeln
„Familie. Schwieriger Begriff. Denn wo Familie beginnt, ist leicht definiert, aber wo hört sie auf? Denn wenn man nur acht Generationen nach hinten blickt, sind das 256 direkte Vorfahren. Nicht, wenn man ein Habsburger ist, selbstverständlich. Da muss man mit der Hälfte zufrieden sein. Aber im Normalfall sind das 256 Leute, die ebenfalls aus ebenso vielen Familien stammen. Welche dieser Familien ist jetzt die eigene? Oder sind es alle?“
Es sind nicht nur die Dackel und die Etrusker, die meine Leselust auf Robert Palfraders unkonventionelle Familienchronik „Ein paar Leben später“ geweckt haben und für die ich aus nostalgischen Gründen ein Faible habe. Es ist auch das historische Interesse am Leben in der heute norditalienischen Bergregion, die vom Ende des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, dem Handlungszeitraum des Romans, neben den naturgegeben existentiellen Schwierigkeiten, zahlreichen Konflikten ausgesetzt war. Palfraders Vorfahren väterlicherseits stammen aus dem ladinischen Teil Südtirols, wie der Autor in seinem Vorwort schildert, das zudem auf die etruskischen Wurzeln der Ladiner verweist. Dieser doppelte Ahnenpool wird im weiteren Verlauf als sprachliches Erbe der Ladiner und als materielles Erbe der Etrusker eine Rolle spielen. Ebenso warnt Palfrader, nicht alles in seinem Ahnenmemoire für bare Münze zu nehmen. „Sie machen sich keine Vorstellung davon, wie oft ich die Unwahrheit erzählen werde müssen, um die Geschichte der Familie meines Vaters glaubhaft erscheinen lassen zu können. Denn die ganze Wahrheit kann ich niemandem zumuten, dafür ist sie zu absurd.“ Das weckt Erwartungen, die allerdings, soviel vorweg, durchaus erfüllt werden.
Die locker und stets mit einem Augenzwinkern erzählte Familienchronik beginnt bei den Urgroßeltern des Autors und endet bei seinen Großeltern, weitere Ahnen tauchen in Seitensträngen auf. Den sechs Hauptfiguren, von denen besonders die literaturbegeisterte „Dackelflüstererin“ beeindruckt, begegnen wir in neun Kapiteln, in denen neben dem Leben der Einzelfiguren, das der Paare geschildert wird.
Zu Beginn steht der Zweig der Craffonaras. Wir lesen erwartungsgemäß vom harten Leben der jungen Angela, die den Entbehrungen und frühen Verlusten mit fatalistischer Frömmigkeit begegnet, bis sie Alberto trifft, der nie an materieller Not, aber seit dem Tod der Mutter an Lieblosigkeit litt. Als Erbe eines Holzbetriebs war er wohlhabend, zudem kam er unverhofft zu so viel Geld, daß man es ihm ansah. Es „wollte niemand mehr an ehrlich verdientes Geld glauben. Aber auch nicht an unehrlich verdientes“.
Grob skizziert, aber längst nicht so amüsant, wie im mündlichen Ton des Erzählers, sind dies die ersten beiden Ahnen-Leben. Der ahnungslose Leser der Rezension könnte denken, es handele sich um eine der schon oft gehörten Geschichten vom einstigen Leben in armen Alpendörfern, vom harten Klima und schwierigem Terrain, von viel Arbeit und wenig Bildung, mangelnder Ernährung und schlechter Gesundheit. Damals starben die Menschen zu früh, bei der Arbeit, wegen des Wetters oder als Folge natürlicher Umstände, bei denen Geburten an erster Stelle standen. Man denkt an die vielen betulichen Varianten, wie bei Robert Seethaler, oder an literarische, wie bei Monika Helfer oder Aline Valangin. Also alles wie gehabt? Robert Palfraders Roman überzeugt durch seine Machart. Sein Witz und sein Hang zum Historischen erinnern mich an Herbert Rosendorfer, der ebenfalls aus Südtirol stammte.
Die fiktionalisierte Geschichte der Familie Palfrader entwickelt sich im Plauderton des Erzählers, der die Chronologie mit zahlreichen Ahnen-Anekdoten spickt. Wir begegnen einem Missionar und betreten das Hinterzimmer eines Mailänder Antiquitätenhändlers. Wir erfahren, warum der eine Pfarrer über die Eltern unehelicher Kinder Buch führt und der andere als „Fleischengel“ Furore macht. Wir lernen, wieso vier Brüder am gleichen Tag Geburtstag haben, was ein „Lumpenloch“ ist und wie sich ein dreibeiniger Dackel entscheidend auf die Ahnenreihe auswirkt.
Jede dieser unglaublichen Geschichten kommentiert, der griechischen Tragödie ähnlich, eine Instanz, die man als Chor der Dorfbewohner bezeichnen könnte. Naiv, zugleich schlau und witzig lesen sich diese Bemerkungen „der einen“ und „der anderen“. So nach einem plötzlichen Todesfall: Wenn es nicht das Herz war, dann der Aufprall des Schädels“, haben die einen gesagt. „Ob Herz oder Schädel, tot ist tot“, die anderen. Nach einer Hochzeit: „Diese Ehe ist gesegnet, die hat der Himmel geschlossen. Sie haben einander durch die Gottesmutter kennengelernt!“, haben die einen gesagt. „Ja, aber ob sie jemals Kinder haben werden, ist die Frage. Die beten ja nur miteinander die ganze Zeit“, die anderen. Oder einfach: „Komisch!“, sagten die einen. „Sehr komisch!“, die anderen.
Es macht Spaß der erlebnisreichen Geschichte voller derart unterschiedlichen Leben zu folgen. Dass Robert Palfrader auch als Kabarettist arbeitet, merkt man seinem Roman an. Einige seiner Vorfahren blieben nicht im Ladinischen, sie zogen nach China oder Argentinien. Zu einem Österreicher machten den Autor hingegen erst seine Großeltern Maria und Franz. Nachdem sie zunächst als Pioniere des Skitourismus in ihrer Heimat ein Hotel eröffneten, wo sie mit der Eigenkreation „Jägerblut“ bei der Nazi-Kundschaft durchschlagenden Erfolg erzielten, trieb sie der Pakt zwischen Hitler und Mussolini 1941 nach Spitz an der Donau.
Für all‘ dies findet Palfrader einen Ton, um bisweilen auch schwere Dinge mit Humor zu erzählen, ohne in die Kalauerfalle zu tappen.