Tod und Trauma prägen Robert Seethalers Roman „Ein ganzes Leben“
„Der Tod gehört zum Leben wie der Schimmel zum Brot“, dieser Satz fällt im neuen Roman von Robert Seethaler, der laut Titel „Ein ganzes Leben“ schildern will. Ist dies überhaupt möglich auf 154 Seiten? Zumal die Ereignisse der von Seethaler gewählten Handlungszeit selbst das abgelegene Hochgebirgstal erreichen.
Dort verbringt Andreas Egger fast sein ganzes Leben. 1902 kam der Vierjährige nach dem Tod seiner Mutter, der Vater war längst abhanden gekommen, aus der Stadt in die Obhut seines Onkels. Der wohlhabende Bergbauer nahm ihn als heranwachsende billige Arbeitskraft auf, versorgte ihn mehr schlecht als recht und ließ an dem Kind seine sadistischen Neigungen aus. Die Misshandlungen, an die ihn sein hinkendes Bein immer erinnern wird, erträgt Egger so lange bis er stark genug ist sich zur Wehr zu setzten. Er verlässt den Hof, gerade 16 Jahre alt, bleibt aber im Dorf und verdingt sich als Hilfsknecht. Später findet er sein Auskommen beim Bergbahnbau. Als Ortskundiger erschließt er den unzugänglichen Fels. Mit 29 Jahren kann er sich ein kleines Grundstück am oberen Ortsrand leisten, wo er eine Hütte baut.
Es wundert, daß Egger in diesem Dorf bleibt, das ihn weder willkommen heißt noch aufnimmt. Sein karges Dasein hellt sich auf als er die Hilfskellnerin Marie heiratet. Doch eine Lawine nimmt Haus und Frau mit und beendet Eggers kurzes Glück.
Auch dieser zweiten großen Lebenskrise begegnet der junge Mann fatalistisch. Vermittelt die harte Bergwelt eine solche Lebenseinstellung? Besingt Seethaler die Hoffnung, Zufriedenheit, das Weitermachen der urwüchsigen naturverbunden Bergburschen? Mit Sicherheit nicht. Andreas Egger ist ein traumatisierter Mensch, dem der frühe Verlust der Mutter und der Heimat das Vertrauen entzogen hat. Er verschließt sich. Nur Marie hatte er Zugang gewährt. Im Dorf wird er immer der Fremde bleiben, auch wenn man sich nach dem Unglück um ihn kümmert. Dies würde erklären, warum Seethaler seinen Helden kein neues Glück suchen lässt, könnte dieser doch mit der florierenden Bergbahnfirma weiterziehen zu neuen Baustellen.
Es erklärt auch, warum Egger sich freiwillig zum Fronteinsatz meldet. „Es war kein Entschluss, der von irgendwelchen Überlegungen getragen wurde. Er war ganz einfach plötzlich da, wie ein Ruf von weit her, und Egger wusste, dass er ihm folgen musste.“ Zunächst wird er abgelehnt, wenige Jahre später darf auch der Krüppel als Kanonenfutter herhalten. Nach sieben Jahren Krieg und Lager kehrt er aus Russland zurück mit der Erinnerung an „die ungezählten Toten“. Andreas Egger lebt weiter und verdient sein bescheidenes Brot als Bergführer. Als es eines Tages zu einem fast tödlichen Unfall kommt, Egger die Touristin jedoch vor dem Absturz rettet und ihr nur ein verstauchtes Bein zurück bleibt, bietet sie ihm an, nun zusammen ins Tal zu hinken. „Ein jeder hinkt für sich allein“, lautet Eggers abweisende wie weise Antwort.
Soweit gefiel mir Seethalers Darstellung dieses stillen Lebens, dessen Verschlossenheit sich noch bei einer letzten Chance manifestiert. Wenn er seinen Helden jedoch zum Sterben in einen Schafstall schickt, haftet er dieser Figur, die bisher so ganz ohne Gott und Glauben ausgekommen ist, etwas Biblisches an. Er idealisiert Egger zum Märtyrer der Zeit und der Umstände. Der Roman läuft dadurch Gefahr den Eskapismus bestimmter Leserschichten zu bedienen, die ihre Landlustphantasien und Achtsamkeitssehnsüchte in dieser bescheidenen Heiligenvita zu finden glauben, wohlig in der Wärme ihrer Zentralheizung weilend.
Robert Seethaler, Ein ganzes Leben, Hanser Verlag, 1. Aufl. 2014