Angharad Price besingt im Roman ihrer Familie das Walisische Idyll
„Mir war ein langes, an Erfahrung reiches Leben beschieden, es hat sich über das ganze zwanzigste Jahrhundert erstreckt. Ich habe die Schläge des Unglücks zu spüren bekommen und die Liebkosungen des Glücks. Viele dunkle Stunden habe ich durchlebt. Aber immer wieder wurde es hell. Ich habe gelernt: Haben bedeutet Verlieren. Das ist der Preis.“
Dieses Resümee formuliert Rebecca Jones, die Ich-Erzählerin in Angharad Prices Roman, als sich ihr Leben seinem Ende nähert. In Tynybraich bei Maesglasau in einem Tal von Wales wurde sie 1905 als älteste Tochter eines Farmers geboren. Sie schildert das harte Leben in der Natur, besingt diese aber hymnisch. Im Mittelpunkt des Romans steht die Familie Jones, Vater Evan, Mutter Rebecca und die Kinder Rebecca, Robert, Gruffydd, William und Lewis, sowie deren Vor- und Nachfahren. Zu ihnen zählt auch die Autorin dieser Familienbiographie, Angharad Price. Sie ist die Großnichte der Erzählerin und Literaturwissenschaftlerin an der walisischen Universität Bangor. Ihren Roman, der in Wales ausgezeichnet wurde, nutzt sie als Streitschrift für die Kultur ihres Landes.
Dennoch ist es eine fiktive Familienchronik, die sie ihre Protagonistin in fünf Kapiteln entwickeln lässt. Sie beginnt mit der Hochzeit der Eltern im Jahr 1904 und dem Einzug in das Farmhaus Tynybraich. Auf dem im Buch abgebildeten Foto von 1912 sind neben den Eltern die vier älteren Kinder zu sehen. Zwei Söhne sind blind geboren, zwei weitere Kinder überleben die ersten Jahre nicht. Lewis, der Nachzügler, kommt Jahre später zur Welt, zunächst sehend erblindet auch er schon als Kind.
Die walisische Landschaft, die Erfordernisse der Farmarbeit und der calvinistische Glaube prägen den Umgang der Familie mit ihrem Schicksal.
Die Entwicklung der blinden Brüder rückt in den Vordergrund des Romans. Ihr Handicap öffnet ihnen das Tor zur Bildung und reißt sie zugleich aus der Familie heraus. Sie besuchen Internate, ein College für Blinde und studieren an der Universität. Für Bob und Rebecca muss die Grundschule genügen und ihre Träume weichen der Realität auf der Farm. Ihre Brüder hingegen werden Akademiker. Gruff wird Pfarrer, William Redakteur für das Royal National Institute of Blind People. Er wird in sein Elternhaus zurückkehren und dort seine Texte und Übersetzungen anfertigen. Lewis arbeitet schließlich als Telefonist und Programmierer in Nottingham. Die achtenswerten Erfolge dieser Männer wirken bisweilen stark heroisiert, besonders bei der Erwähnung der 1964 entstandenen Filmdokumentation der BBC ist Familienstolz zu spüren.
Dem gegenüber bleibt Rebecca eher blass. Sie, die das Tal bei Maesglasau nur zu zwei kurzen Reisen nach Oxford und London verlassen darf, widmet sich vollkommen der Familie und der Farm. Eine eigene Familie gründet sie nicht. Warum bleibt im Dunkeln. Mangelt es an Männern oder an Mitgift? Als während des 2. Weltkriegs italienische Kriegsgefangene nach Tynybraich kommen, darf Rebecca eine Liebesgeschichte erleben, wenn auch nur eine kurze.
Der als Familienchronik stilisierte Roman besticht durch eine klare und dennoch literarische Sprache. Er verläuft nicht schlicht linear, sondern verknüpft Rückblicke und Querverbindungen. Interessant ist zudem die Konstruktion. Jedes Kapitel besitzt einen Vorspann, in dem poetische Naturbeobachtungen als Lebensmetaphern gelesen werden können. Das ist meist gelungen, wirkt zuweilen allerdings pathetisch, wie in der folgenden Beschreibung eines Bachs. „Mein ganzes Leben habe ich an seiner Seite verbracht und trotz seiner Wandelbarkeit ist er mir vertrauter als das Blut in meinen Adern. Wenn er aufhört zu fließen, wird auch mein Leben zu Ende sein.“
Ein weiteres stilprägendes Element sind die im Roman aufgenommenen Gedichte und Gedanken von Hugh Jones. Dieser lebte von 1749 bis 1895 in Maesglasau, gründete nach seiner Ausbildung in London die calvinistisch-methodistische Gemeinschaft von Dinas Mawddwy und verfasste zahlreiche religiöse Schriften. Sein bekanntester Hymnus, der auch im Roman zu finden ist, dient zugleich als Titel der walisischen Originalfassung. Die Vielzahl der Verse des frommen Lehrers überfrachten den Roman jedoch mit calvinistischer Erbauung.
Die semifiktionale Familienchronik gewährt interessante Einblicke in das abgelegene walisische Landleben des letzten Jahrhunderts. Die von der Autorin erschaffene Erzählerin wirkt jedoch nicht authentisch. Sie besitzt einfach zu viel, zum Teil zu modernes Wissen, für eine Bauersfrau mit Grundschulbildung, auch wenn Roman wie Nachwort diese ungewöhnliche Bildung der großväterlichen Büchertruhe und den Gesprächen mit den Brüdern zuschreiben wollen. Neben vielen Autoren zitiert Rebecca auch Virginia Woolf, nicht nur wenn sie endlich in ein eigenes Häuschen zieht, um „einen Ort, ganz für mich allein“ zu haben. Doch wie wahrscheinlich ist es, daß ihre Großvater die Romane Virginia Woolfs las oder daß sich in der Bibliothek von Dolgellau walisische Übersetzungen von Woolfs Werken finden ließen? Fiktion darf vieles. Dennoch wundert es, wenn Rebecca, die ihr Schicksal von Anfang an ohne Widerstand annimmt, plötzlich rebelliert, weil sie während des Besuchs in Oxford als Frau nicht das Innere der Universität betreten darf. Solche Gedanken passen nicht zu dieser Figur, zumal, wenn sie im letzten Kapitel als Verfechterin von Prices Hauptanliegen auftritt.
In diesem Schlusskapitel wandelt sich der Familienroman zu einer Streitschrift für den Erhalt des Walisischen, ein Ziel, das man der Walisischen Autorin gerne zugesteht. Rebeccas Rückschau auf ihr Leben jedoch als Zivilisationsklage, den Fortschritt des 20. Jahrhunderts gar als „Armageddon“ zu bezeichnen, ist rückwärtsgewandt und widersprüchlich. Wenn sie wenige Seiten zuvor schildert, wie Elektrizität die harte Hausarbeit erleichtert, sollte ihr klar sein, daß nachfolgende Generationen die digitale Erschließung der nebligen Hügel Wales’ wohl kaum als Weltuntergang erleben werden.
Im Buch sind einige Schwarzweiß-Abbildungen zu finden, die durch geringe Druckqualität und Größe kaum eine Aussage transportieren. Das Familienporträt ragt allerdings daraus hervor. Ich hätte es gerne als Coverbild gesehen. Stattdessen lassen die nebeldurchzogenen Hügel zusammen mit dem schlichten Titel ein süßliches Familiendramolett erwarten. Das wird dem Roman, der trotz allen kritischen Anmerkungen durchaus lesenswert ist, nicht gerecht.
Das walisische Original mit dem Titel O! Tyn y Gorchudd (Oh! Zieh hinfort den Schleier) wurde von Lloyd Jones ins Englische übertragen und aus der englischen Fassung von Gregor Runge ins Deutsche. Das Nachwort stammt von Jane Aaron.
Angharad Price, Das Leben der Rebecca Jones, dtv, 1. Aufl. 2014