In „Italien in vollen Zügen“ schildert Tim Parks die Tücken und Freuden der italienischen Eisenbahn
„INTERCITY – Sei – Zero – Otto – UGO FOSCOLO! – di-prima-e-seconda-classe – delle ore – sedici – e – Zero – cinque – conserviziodiristoranteeminibar – per – VENEZIA SANTA LUCIA! – è in partenza dal binario — QUATTORDICI – si ferma a – Brescia — Desenzano-Peschiera — Verona Porta Nuova – San Bonofacio – Vicenza – Padova- e – MESTRE! – carozze di prima classe in settori – B — E – C.“
Eine derartige Durchsage hätte Mark Twains Begeisterung für das italienische Eisenbahnwesen, welches er über die Antiken stellte, ohne Zweifel gesteigert. Twain hatte Humor, der für eine Reise im italienischen Schienennetz die beste Voraussetzung ist. Dies bestätigen auch meine Erinnerungen an Reisen im Liegewagen durch die nächtliche Po-Ebene oder an unzählige Fahrten mit der Circumvesuviana. Man war auf alles gefasst, Diebstähle, Verspätungen, Wartezeiten, und erreichte schließlich das Ziel voll interessanter Beobachtungen.
So war es vor vielen Jahren. Neuerdings übertrifft, wie ich unlängst in Venetien erlebte, das Bahnfahren in Italien nicht nur meine Erwartungen, sondern auch die Zustände der Deutschen Bahn. Der Zug war pünktlich, modern und klimatisiert. Doch ist diese Erfahrung repräsentativ? Wurde das Reisen in italienischen Zügen tatsächlich im letzten Jahrzehnt revolutioniert?
Darüber Auskunft gibt Tim Parks in seinem neuen Buch „Italien in vollen Zügen“. Der Engländer lebt mit seiner Familie seit mehr als 30 Jahren in Verona. In seinen vielen Romanen thematisiert er meist eigene Erfahrungen, seien es Meditation oder das Leiden am persönlichen Befinden. Oft widmet er sich auch seiner Wahlheimat und den verschiedenen Mentalitäten von Briten und Italienern. Als Mitarbeiter an der Universität Mailand nutzt er mehrmals wöchentlich die Zugverbindung zwischen seinem Wohn- und Arbeitsort. Wenn nicht immer ohne Chaos aber stets ohne Stau, zieht Parks sie dem Auto vor, er scheut den italienischen Verkehr. Wieso er das Ampelgedrängel und die Parkplatzsuche ein für alle Mal leid ist, erzählt der Autor in einer der Anekdoten seines Bahnbuches. Womit wir schon beim Rezept wären. Parks legt keinen Reisebericht vor, keinen Führer durch das Streckennetz Italiens, keine Tipps und Tricks für Touristen. Und doch fehlt dies alles nicht in seiner sehr persönlichen Hommage.
Diese ist dreigeteilt, von der alltäglichen Kurzstrecke zwischen Verona und Mailand im Zug der lebenden Toten über die Hochgeschwindigkeitsfahrt von Mailand nach Florenz im Frecciarossa bis zu einer Reise zu den eingleisigen Strecken Siziliens. Ganz und gar nicht eingleisig oder linear erzählt Tim Parks von seinen Erlebnissen. Man sitzt mit ihm im Waggon, blickt aus dem Fenster, versinkt in Gedanken und Erinnerungen, beobachtet die Mitreisenden, teilt mit ihnen Luft, Lektüren, Telefonate und zuweilen den Groll über einen pingeligen Schaffner. Warum den Capotreno noch eine Aura von Autorität umgibt, liegt in der Rolle der Eisenbahn für die Einigung Italiens begründet. Ohne die Ferrovie dello Stato wären Garibaldis Tausende kaum so schnell ans Ziel gekommen. Diese historischen Rückblicke lässt Parks zwischen den verschiedenen Stationen seiner Strecken einfließen. Oder manchmal auch an der Stazione selbst. Milano Centrale, Knotenpunkt von Parks Fahrten, ist zwar unverkennbar ein faschistischer Repräsentationsbau, wurde jedoch bereits 1912 in Angriff genommen. Moderne Umbauten bieten heute unter den Marmorfriesen der Monumentalarchitektur Platz für Shoppingmalls, Cafés und einem Rolltreppensystem, das zwar Mobilità genannt, jedoch eher für ein bequemes als ein schnelles Vorankommen genutzt wird. Ebenso eigenwillig funktionieren die Fahrkartenautomaten oder die Ansagen auf dem Bahnsteig. Wer damit zurecht kommt, kann wie Parks von sich behaupten, Italien verstanden zu haben. Doch selbst dieser zugerfahrene Italienkenner stößt noch an Grenzen. Um den überfüllten Abteilen im Venezianischen Karneval zu entgehen, kauft er sich ein Biglietto für die erste Klasse. Doch die, so stellt er fest, ist ebenfalls gnadenlos voll mit Furbi, die sich den Aufpreis gespart haben. Falls doch ein Kontrolleur kommt, kann man immer noch aussteigen. Es sei denn, man ist ein hübsches Mädchen, das selbst einen gestandenen Capotreno um den Finger zu wickeln vermag. Bei älteren englischen Signore zeigt dieser sich jedoch hart, besonders wenn es sich um Innovationen wie Online-Tickets handelt.
Frei von Klischees sind Parks Reiseimpressionen nicht, die interkulturellen Differenzen wollen bedient werden und sie werden es von ihm mit einer Ironie, die sich selbst nicht ausnimmt.
Wenn er schließlich in den fernen Süden reist, treten inneritalienische Voreingenommenheit zu Tage und ein tiefes Misstrauen gegen die Zuverlässigkeit von Zugreisen. „I treni fanno schifo“, diese Aussage wird für jeden nachvollziehbar, der mehrere Stunden in Messina auf das Ankoppeln warten muss. Warum die Züge nach Sizilien auf der Fähre verschifft werden, ist in der Tat eines der merkwürdigsten Phänomene des italienischen Bahnverkehrs.
Stefano Maggi, auf dessen historische Darstellung „Le ferrovie“ sich Parks in seinem Buch bezieht, berichtet, daß die Eisenbahn Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Aufkommen des Bahnhofskiosk die Lesekultur förderte. Dem entsprechend widmet Tim Parks sein Buch allen, „die gerne im Zug lesen“. Es sei allen empfohlen, die gerne nach Italien reisen, mit welchem Verkehrsmittel auch immer.