Iris Wolff erzählt in „Lichtungen“ von „Zugehörigkeit und Fremdsein“
„Schon während der Gespräche im Zug war ihm der Gedanke gekommen, dass alle Reisenden auf gewisse Weise ihr Land vertraten. Aber durften einzelne Menschen und Erfahrungen fürs Ganze stehen?“
„Ihr Deutschen lebt in der Straße, seid ganz mit eurem Haus verwachsen, zieht die Vorhänge zu, verbergt euch im Hof wie ein Fuchs in seiner Höhle. Wir Rumänen jedoch leben auf der Straße, für jeden sichtbar, ansprechbar. Sollte sich die Straße neigen, wegrutschen, fallen wir mit, rutschen wir mit. Nimmt man euch die Straße, euer Haus, was seid ihr dann? – Noch jetzt traf ihn die Unterscheidung seines Bruders in: wir und ihr.“
„Imre war schweigsam, lebte für sich. Aber nach Levs Ermessen taten dies alle: Bredica, Dorin, Valea, Bunica, Ferry und auch seine Mutter Lis. Das Wesentliche teilten sie nicht. Selbst bei Kato und ihm war das nicht anders, auch wenn er sich das manchmal wünschte.“
Vor kurzem fiel mir auf dem Dachboden ein Tagebuch in die Hand, ich fing an darin zu lesen und blätterte beim letzten Eintrag beginnend zurück. Ganz ähnlich hat Iris Wolff ihren neuen Roman „Lichtungen“ angelegt. Er liest sich wie ein Journal voller Erlebnisse, Beobachtungen und Ideen und erzählt seine Geschichte vom Ende her. Damit dies auch jeder versteht, werden die Kapitel im Countdown gezählt. Zu Beginn steht die Hauptfigur, Lev, mit Mitte 30 am Ende seiner Entwicklung, soweit dies den Roman betrifft. Doch wovon handelt dieser?
Da ist zum einen die Geschichte zwischen dem Mädchen Kato und dem Jungen Lev, die sich als Kinder begegnen und eine Freundschaft zueinander entwickeln, die mit zunehmendem Alter so intensiv wird, daß daraus mehr werden könnte. Vor allem Lev empfindet dies so, aus dessen Perspektive das Geschehen erzählt wird. Ganz klar wird es allerdings nicht, ob hier die Geschichte einer großen Liebe vorliegt. Auch wenn der letzte Satz, den Kato konstruktionsbedingt zu Beginn äußert, lautet „Ich komme mit“. Es bleibt ein offenes Ende, aus dem Wolff einen offenen Anfang macht.
Ebenso viel Gewicht wie auf die Beziehung dieses Paares legt Iris Wolff, die aus Siebenbürgen stammt, auf den Ort der Handlung. Das Dorf, in dem alles begann, liegt in der Maramuresch, einer Region Rumäniens, die an Siebenbürgen grenzt. Die Lage und die Geschichte der Gegend bedingen das Gemisch der Bevölkerungsgruppen. Rumänen, Siebenbürger Sachsen, Roma und Juden bilden eine Gemeinschaft, was sich in unterschiedlichen Sprachen und Traditionen zeigt. Dies gilt auch für die Familie von Lev. Seine Mutter aus Siebenbürgen und der Großvater aus Österreich sprechen deutsch, der Vater, seine älteren Stiefgeschwister und die Großmutter rumänisch. Lev spricht beides, so auch Kato, deren Herkunft als Roma angedeutet wird. Sie wohnt mit ihrem Vater am Rande des Dorfs in einer baufälligen Hütte. Eine Familie gibt es nicht. Kato hat kaum Kontakt und fühlt sich fremd. Neben Lev hat sie nur zwei weitere Freunde, wie sie Außenseiter, die gegen das Regime Ceaușescus kämpfen. Die prekäre politische Situation wird allerdings ebenso wie die soziale Katos im Roman nur angedeutet. „Worüber man nicht sprach, war nie geschehen.“ Wir hören von Überwachung und Zwangsarbeit, doch die Securitate bleibt unerwähnt, der Terror subtil versteckt.
Der widerständige Freund verschwindet, Lev verschwindet im Arbeitslager, Kato verschwindet schließlich mit einem Durchreisenden. Es zog sie schon immer fort und so ergreift sie ihre Chance als ein junger Fahrradtourist aus dem Westen im Dorf vorbeikommt. Sie besorgt sich ein Fahrrad und fährt mit ihm. Lev und Kato verlieren sich aus den Augen. Es folgen Jahre der Distanz, die beide auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichen Partnern überbrücken. „Sie waren Freunde gewesen, dann wurden sie sich fremd.“
Lev bleibt in der Maramuresch und arbeitet wie seine Brüder im Wald. Die künstlerisch begabte Kato wird Straßenmalerin in fernen Ländern. Schon als Kind skizzierte sie Tiere, Natur und Menschen. Auf einer zurückliegenden Reise mit Lev ans Schwarze Meer fertigte sie Skizzen zur Erinnerung. Auf einer zukünftigen Reise werden sie sich wiederbegegnen.
Die Geschichte über ein Paar zwischen „Zugehörigkeit und Fremdsein, Erinnern und Vergessen“ erzählt Wolff vom Ende her. Sie beginnt mit dem neunten, dem letzten Kapitel des Romans. Mit jedem Folgenden unternimmt sie einen Sprung in die Vergangenheit. Funktioniert das? Und ist das überhaupt neu? Rückblenden sind ein wichtiges Mittel der Literatur, kaum ein Roman kommt ohne sie aus. Meist sind sie in den Handlungsablauf eingebunden. Wie geschickt dies geschieht, liegt im Vermögen des Autors. Auf diese Integration verzichtet Wolff, die die Rückblicke kapitelweise unternimmt. Innerhalb der Kapitel fragmentiert sie stark. Da stehen poetisch schöne Naturimpressionen, „er geriet immer wieder in Schafherden, die wollenen Rücken umspülten ihn wie Wasser ein Hindernis im Bachlauf“, neben prägnant formulierten Gefühlszuständen „jedes Mal, wenn er etwas sagen sollte, spürte er die Worte schwer und träge im Mund. Seine Herkunft war in seinem Akzent, war ihm eingenäht in Kleidung und Schuhe“. Bisweilen taucht aus der melancholischen Grundstimmung sogar Humor auf.
Gebunden wird alles von einem rückwärts geknüpften Faden, an dessen Ende die Leserin nicht nur erfahren wird, wie alles begann, sondern auch, welches Geheimnis Lev verbirgt. Doch diese Konstruktion verheddert manchmal. Es entstehen Längen durch Nebenschauplätze, wie der ausführlichen Darstellung der Straßenmalerei, oder durch Nebenfiguren, die blass bleiben und im Beziehungsgeflecht verloren gehen. Der poetisch anmutende Schreibstil ist zu Beginn von Aufzählungen geprägt. Das mehrfache Aneinanderreihen von Aussagen oder Worten wird zum Kontinuum. „Alle waren in Bewegung, eilig, getrieben“, „der Straßenlärm wurde lauter, Autohupen, Motorengeräusche, das Rollen“, „vor ihm lag eine mehrspurige Straße, Zebrastreifen, fünfstöckige Häuserzeilen“. Man erkennt den Zweck, die Dehnung der Zeit, wie es Wolff im letzten Kapitel formuliert, „Alles war rückwärtsgelaufen, weniger geworden, und wo sich die Zeit am Anfang dehnte, verkürzte sie sich jetzt unbarmherzig“. Dennoch erzeugt das Zuviel Überdruss. Das gilt auch für tiefsinnig scheinende Formulierungen, wie „Man ist, einmal gegangen, immer ein Gehender“. Überzeugt hat mich hingegen, wie Wolff ihre Motive Zugehörigkeit und Fremdheit an die Sprachen ihres Handlungsorts bindet und wie sie dies im Roman sichtbar macht. Am augenfälligsten erreicht sie dies durch Sentenzen vor den einzelnen Kapiteln. Diese sind in der Originalsprache belassen und für die meisten deutschen Leser zum Großteil unverständlich. Wenigstens so lange bis man ihre Übersetzung im Anhang nachschlägt. Dort finden sich auch die Quellenangaben und wir erfahren, wie Wolff von der altgriechischen Fabel über ein Roma-Märchen, der Bibel, rumänischen Gedichten und einem englischen Songtext die Sprachvielfalt der Figuren zum Ausdruck bringt. Auch im Text spiegelt sich dieser Sprach- und Literaturkosmos.
Iris Wolff, Lichtungen, Klett Cotta 2024