Distanzerfahrung

Iris Wolff erzählt in „Lichtungen“ von „Zugehörigkeit und Fremdsein“

Schon wäh­rend der Ge­sprä­che im Zug war ihm der Ge­dan­ke ge­kom­men, dass al­le Rei­sen­den auf ge­wis­se Wei­se ihr Land ver­tra­ten. Aber durf­ten ein­zel­ne Men­schen und Er­fah­run­gen fürs Gan­ze stehen?“

Ihr Deut­schen lebt in der Stra­ße, seid ganz mit eu­rem Haus ver­wach­sen, zieht die Vor­hän­ge zu, ver­bergt euch im Hof wie ein Fuchs in sei­ner Höh­le. Wir Ru­mä­nen je­doch le­ben auf der Stra­ße, für je­den sicht­bar, an­sprech­bar. Soll­te sich die Stra­ße nei­gen, weg­rut­schen, fal­len wir mit, rut­schen wir mit. Nimmt man euch die Stra­ße, eu­er Haus, was seid ihr dann? – Noch jetzt traf ihn die Un­ter­schei­dung sei­nes Bru­ders in: wir und ihr.“

Im­re war schweig­sam, leb­te für sich. Aber nach Levs Er­mes­sen ta­ten dies al­le: Bre­di­ca, Do­rin, Va­lea, Bu­ni­ca, Fer­ry und auch sei­ne Mut­ter Lis. Das We­sent­li­che teil­ten sie nicht. Selbst bei Ka­to und ihm war das nicht an­ders, auch wenn er sich das manch­mal wünschte.“

Vor kur­zem fiel mir auf dem Dach­bo­den ein Ta­ge­buch in die Hand, ich fing an dar­in zu le­sen und blät­ter­te beim letz­ten Ein­trag be­gin­nend zu­rück. Ganz ähn­lich hat Iris Wolff ih­ren neu­en Ro­man „Lich­tun­gen“ an­ge­legt. Er liest sich wie ein Jour­nal vol­ler Er­leb­nis­se, Be­ob­ach­tun­gen und Ideen und er­zählt sei­ne Ge­schich­te vom En­de her. Da­mit dies auch je­der ver­steht, wer­den die Ka­pi­tel im Count­down ge­zählt. Zu Be­ginn steht die Haupt­fi­gur, Lev, mit Mit­te 30 am En­de sei­ner Ent­wick­lung, so­weit dies den Ro­man be­trifft. Doch wo­von han­delt dieser?

Da ist zum ei­nen die Ge­schich­te zwi­schen dem Mäd­chen Ka­to und dem Jun­gen Lev, die sich als Kin­der be­geg­nen und ei­ne Freund­schaft zu­ein­an­der ent­wi­ckeln, die mit zu­neh­men­dem Al­ter so in­ten­siv wird, daß „Di­stanz­er­fah­rung“ weiterlesen

Die Unregelmässigkeit des Herzens

Bodo Kirchhoff erforscht in „Seit er sein Leben mit einem Tier teilt”  Herzen zwischen Unabhängigkeit und Vertrauen

Nur weil wir je­man­den lie­ben, ist der uns nicht das ei­ge­ne Glück schuldig.“

 Das trü­be Wet­ter zu Jah­res­be­ginn ist nur ein Grund zum neu­en Ro­man von Bo­do Kirch­hoff zu grei­fen. Die­ser trägt zwar den sper­ri­gen Ti­tel „Seit er sein Le­ben mit ei­nem Tier teilt“, lässt sich aber um­so ge­schmei­di­ger le­sen. Mit Sze­nen, die so­fort ei­nen in­ne­ren Film er­zeu­gen, ver­setzt Kirch­hoff sei­ne Le­se­rin an den som­mer­li­chen Gar­da­see. Ei­ne Ge­gend, die der Au­tor sehr gut kennt und be­reits zum Schau­platz sei­nes gro­ßen Ro­mans „Die Lie­be in gro­ben Zü­gen“ mach­te. Die­ser war 2012 für den Deut­schen Buch­preis no­mi­niert, den Kirch­hoff un­ver­ständ­li­cher­wei­se erst 2016 für „Wi­der­fahr­nis“ er­hielt. Ei­gent­lich woll­te ich nur ei­nen Blick auf den Hand­lungs­ort Tor­ri wer­fen — im neu­en Ro­man ein­fach nur T. -, als ich das Buch aus dem Re­gal zog. Doch ich ver­sank er­neut dar­in, wes­halb die schon skiz­zier­te Re­zen­si­on war­ten muss­te. Und dann wur­de sie gleich noch ein­mal auf­ge­scho­ben, da auch „Wo das Meer be­ginnt“ noch­mals ge­le­sen wer­den woll­ten. An­ge­neh­mer lässt es sich nicht prokrastinieren.

Ita­li­en al­so, an Fer­ra­gos­to, nicht di­rekt un­ten an den von Tou­ris­ten über­lau­fe­nen Ge­sta­den des Gar­da­sees, son­dern in ei­nem Häus­chen am Hang, das über stei­le Pfa­de er­schlos­sen und für ein Au­to schwer er­reich­bar ist, was die bei­den weib­li­chen Haut­figu­ren auf ver­schie­de­ne Wei­se er­fah­ren. Gleich zu Be­ginn stran­det Fri­da, die jün­ge­re von bei­den, nach miss­glück­tem Wen­de­ma­nö­ver in der Ein­fahrt des Ru­sti­co, in dem Lou­is Ar­thur Schon­gau­er lebt. Nach dem Tod sei­ner Frau hat sich der einst in Hol­ly­wood für sei­nen „kal­ten Blick aus reh­brau­nen Au­gen“ be­gehr­te Schau­spie­ler zu­rück­ge­zo­gen. Sei­ne ein­zi­ge Ge­fähr­tin, mit der er sich „aus der Zeit und der Er­in­ne­rung“ zu steh­len wünscht, ist Ascha, ei­ne Stra­ßen­hün­din aus Ru­mä­ni­en. Ih­re Ge­sell­schaft ist ihm mehr als ge­nü­gend. Er glaubt, „kein Mensch war je so auf­merk­sam mir ge­gen­über. Ascha weiß nicht, dass es die Lie­be gibt, aber liebt.“

Schon nach we­ni­gen Zei­len ist man mit­ten im Ge­sche­hen, das Kirch­hoff ge­ra­de­zu fil­misch in­sze­niert. Vor bild­rei­cher Ku­lis­se ent­wi­ckelt er in star­ken Dia­lo­gen Be­zie­hun­gen zwi­schen den Prot­ago­nis­ten und er­gänzt sie mit Rück­bli­cken voll tie­fer Emp­fin­dung. Da­bei spart er nicht mit fei­ner Iro­nie, et­wa wenn „Die Un­re­gel­mäs­sig­keit des Her­zens“ weiterlesen

Ein alter Alutopf und eine riesige, rote Couch

In ihren Romanen „Mama Odessa“ und „Baumgartner“ erschaffen Maxim Biller und Paul Auster vielfältige Wege zur Erinnerung und zeigen einige Gemeinsamkeiten

An­na war an sei­ner Sei­te, auf der gan­zen Rei­se gin­gen sie ne­ben­ein­an­der­her, spra­chen mit­ein­an­der, hör­ten ein­an­der zu, wäh­rend sie durch die Räu­me und schwach be­leuch­te­ten Kor­ri­do­re des Pa­lasts der Er­in­ne­rung zo­gen und Hun­der­te gro­ße und klei­ne Din­ge auf­such­ten, die sie in die­sen vier­zig Jah­ren er­lebt hat­ten. Selbst­ver­ständ­lich war sie nicht in Fleisch und Blut bei ihm, aber als er zum ers­ten Mal nach weiß Gott wie lan­ger Zeit ih­re Brie­fe und Ma­nu­skrip­te las, fand er im­mer­hin ih­re Stim­me wie­der, und als er sich in die zahl­lo­sen Fo­tos ver­tief­te, die er und an­de­re Zeit ih­res Le­bens von ihr ge­macht hat­ten, fand er auch ih­ren Kör­per wie­der.“ (Paul Aus­ter, Baumgartner)

„Ich stand jetzt, fast fünf­zig Jah­re spä­ter, vor den bei­den Bil­dern im al­ten Ar­beits­zim­mer mei­ner Mut­ter in der Bie­ber­stra­ße und sah sie mi­nu­ten­lang an. Da­bei ver­such­te ich, mich an mei­ne rus­si­sche Kind­heit zu er­in­nern, oder we­nigs­tens an ein paar Mo­men­te, Ge­rü­che, Bli­cke. Aber da war nichts, gar nichts. Mei­ne Er­in­ne­run­gen be­stan­den fast nur aus al­ten Fo­tos und den Bil­dern, die mein Groß­va­ter nach ih­nen ge­malt hat­te. War ich nicht, dach­te ich plötz­lich, manch­mal bei ihm im Ate­lier in der Mol­do­wan­ka ge­we­sen? Ja, rich­tig. Das Ate­lier war im Erd­ge­schoss, hin­ten, am En­de des Hofs, (…) War­um hat­te ich das ver­ges­sen? War­um er­in­ner­te ich mich plötz­lich dar­an?“ (Ma­xim Bil­ler, Ma­ma Odessa)

Manch­mal, es mag Zu­fall sein, of­fen­ba­ren zwei Ro­ma­ne, die ich oh­ne be­stimm­te Ab­sicht nach­ein­an­der ge­le­sen ha­be, star­ke Ge­mein­sam­kei­ten, die mich ein­fach nicht mehr los­las­sen und zum Wei­ter­den­ken an­re­gen. So er­ging es mir auch mit den neu­en Ro­ma­nen von Ma­xim Bil­ler und Paul Aus­ter, „Ma­ma Odes­sa“ und „Baum­gart­ner“.

Die stärks­te Ge­mein­sam­keit liegt dar­in, wie in den bei­den Wer­ken „Ein al­ter Alutopf und ei­ne rie­si­ge, ro­te Couch“ weiterlesen

Verbotene Liebe

In „Schneeflocken wie Feuer“ erzählt Elfi Conrad von früher

Er könn­te häss­lich sein, bö­se, ur­alt, es wür­de nichts än­dern. Kaum ei­ne Frau kann sich ei­nem sin­gen­den, Gi­tar­re spie­len­den Mann ent­zie­hen. Es spielt kei­ne Rol­le mehr, dass es ei­ne Wet­te war, dass ei­ne Halb­star­ke ih­re Rei­ze tes­ten woll­te, dass es sich um die Macht über ei­nen Vor­ge­setz­ten und die Ra­che ei­ner Ge­de­mü­tig­ten han­del­te. (…) Als ich nicht mehr an mich hal­ten kann, zie­he ich mei­ne San­da­let­ten aus. Sprin­ge auf und tan­ze. (…) Flie­gend durch­bre­che ich die ima­gi­nä­re Wand, von der die Gi­tar­ren­ak­kor­de, die Stim­me, der Mann um­ge­ben ist. Drin­ge ein. Der Mann auf dem Stuhl ist die­ser Be­sitz­ergrei­fung aus­ge­lie­fert, an sei­nen Au­gen kann ich es ablesen.“

Ein nicht un­we­sent­li­cher Teil der Tref­fen un­se­res Li­te­ra­tur­krei­ses ge­hört der Fra­ge, wor­über wir beim nächs­ten Mal dis­ku­tie­ren wol­len. Als Grund­la­ge die­nen uns Emp­feh­lun­gen und Lis­ten au­ßer­halb der ver­kaufs­ori­en­tier­ten des „Spie­gel“, die ich, wenn sie mit „Buch­re­port“ un­ter­ge­hen soll­te, nicht ver­mis­sen wer­de. Es lag al­so nicht fern den 30 Li­te­ra­tur­kri­ti­kern des SWR zu fol­gen, die „Schnee­flo­cken wie Feu­er“ von El­fi Con­rad im Sep­tem­ber auf den ers­ten Platz der Bes­ten­lis­te setz­ten. Dass ei­ne un­se­rer Mit­strei­te­rin­nen im glei­chen Al­ter wie die Au­torin ist und wie die­se als Kriegs­flücht­ling im Harz auf­wuchs, hat nicht un­we­sent­lich zu un­se­rer Ent­schei­dung bei­getra­gen. Un­gleich grö­ße­re bio­gra­phi­sche Über­ein­stim­mung weist Con­rad mit ih­rer Prot­ago­nis­tin Do­ra auf. Dass es sich bei „Schnee­flo­cken wie Feu­er“ um ei­nen aus­ge­spro­chen „Ver­bo­te­ne Lie­be“ weiterlesen

Durch die Rose zur Erleuchtung

In „Der Pole“ erschafft  J. M. Coetzee einen Epigonen von Homer, Dante und Goethe

Sie kennt Mar­ga­ri­ta, seit sie als Kin­der zu­sam­men auf der Non­nen­schu­le wa­ren; sie hat schon im­mer den Elan ih­rer Freun­din be­wun­dert, ih­ren Un­ter­neh­mungs­geist, ihr selbst­si­che­res Auf­tre­ten. Jetzt muss sie ih­ren Platz ein­neh­men. Was ge­nau wird es be­deu­ten, ei­nen Mann bei ei­nem flüch­ti­gen Be­such in ei­ner frem­den Stadt aus­zu­füh­ren? In sei­nem Al­ter wird er ge­wiss kei­nen Sex er­war­ten. Doch er wird si­cher er­war­ten, dass man ihm schmei­chelt, so­gar mit ihm flir­tet. Flir­ten ist kei­ne Kunst, die zu be­herr­schen sie sich je be­müht hat. Mar­ga­ri­ta ist an­ders. Mar­ga­ri­ta hat ei­nen leich­ten Zu­gang zu Män­nern. Mehr als ein­mal hat sie, Bea­triz, amü­siert be­ob­ach­tet, wie die Freun­din ih­re Er­obe­run­gen be­treibt. Aber sie hat nicht den Wunsch es ihr gleich­zu­tun. Wenn ihr Gast ho­he Er­war­tun­gen in Sa­chen Schmei­che­lei hat, wird er ent­täuscht werden.“

Die Freun­din ei­ner Freun­din er­hielt un­längst von ei­nem Mann das An­ge­bot, ei­ne sei­ner Woh­nung miet­frei zu be­zie­hen. Sie war dem An­bie­ter, den sie höchs­tens als Be­kann­ten be­zeich­nen wür­de, erst vor kur­zem be­geg­net. An­ge­nom­men hat sie die Of­fer­te nicht, da sie sei­ne „Durch die Ro­se zur Er­leuch­tung“ weiterlesen

Ein Leben lang mittags Pasta und man überlebt alles“

Adriana Altaras jüdisch-deutsch-italienisches Erinnerungsbuch „Besser allein als in schlechter Gesellschaft. Meine eigensinnige Tante“

Im­mer wie­der fängt Adria­na da­von an, ich sol­le nach Deutsch­land kom­men. Dass es mir in ei­nem deut­schen Al­ters­heim schme­cken wür­de, wa­ge ich zu be­zwei­feln. Ich ha­be nichts ge­gen Kar­tof­feln, aber je­den Tag? Mei­ne Schwes­ter Thea lieb­te Kar­tof­feln. Kein Wun­der, dass sie nach Deutsch­land aus­ge­wan­dert ist. Dort ist sie auch ge­stor­ben. Ich will nicht be­haup­ten, die Kar­tof­feln hät­ten ihr ge­scha­det, aber ein län­ge­res Le­ben hat man ein­deu­tig mit Pasta.“

Die Pan­de­mie ist vor­bei, die App ab­ge­schal­tet, je­de Ein­schrän­kung auf­ge­ho­ben. In Pfle­ge­hei­men ist der Zu­gang wie­der un­ein­ge­schränkt mög­lich, le­dig­lich ei­ne Mas­ke müs­sen die Be­su­cher noch tra­gen. Wer wie ich dort ei­nen Men­schen zu be­su­chen hat­te, wird sich an die Stu­fen des Re­gle­ments gut er­in­nern kön­nen. Dem Be­suchs­ver­bot folg­te ein be­grenz­tes Ren­dez­vous an ei­ner dik­ta­tor­lan­gen Ta­fel mit Spuk­schutz­schei­be bis schließ­lich die Kom­bi­na­ti­on aus Test­pflicht, Mas­ke und ei­des­staat­li­cher Ge­sund­heits­er­klä­rung ein Zu­sam­men­sein wie­der mög­lich mach­te. Die­se Pha­sen, die den un­auf­halt­sa­men Ver­fall ei­nes Men­schen be­glei­te­ten und er­schwer­ten, be­schreibt Adria­na Al­ta­ras in ih­ren Ro­man „Bes­ser al­lein als in schlech­ter Ge­sell­schaft“. Der Ti­tel stammt aus der Schatz­kis­te ih­rer Tan­te Jel­ka. Sie lebt im ita­lie­ni­schen Man­tua, ih­re Nich­te in Ber­lin. Die eben­so fer­nen wie un­ter­schied­li­chen Städ­te wur­den für bei­de zur Hei­mat, nach­dem ih­re jü­di­sche Fa­mi­lie vor Jahr­zehn­ten Za­greb ver­ließ. Die schö­ne und stol­ze Jel­ka wur­de in ein La­ger ver­schleppt, von dort ret­te­te sie ein ita­lie­ni­scher Sol­dat und brach­te sie in sein Dorf in Nord­ita­li­en. Mehr aus Dank­bar­keit, denn aus Lie­be hei­ra­te­te sie Gi­or­gio und ar­ran­gier­te sich mit den Verhältnissen.

Durch­hal­ten, nach vor­ne schau­en und das Bes­te dar­aus ma­chen wur­den die Le­bens­prin­zi­pi­en, die der 99-Jäh­ri­gen auch in der Ca­sa di Cu­ra hel­fen. Nach ei­nem lan­gen selbst­be­stimm­ten Le­ben stahl ein Ein Le­ben lang mit­tags Pas­ta und man über­lebt al­les““ weiterlesen

So könnte es gewesen sein“

In einer dunkelblauen Stunde“ errichtet Peter Stamm „ein verwinkeltes Gedankengebäude“, in dem die Leserin „auf Entdeckungstour geht“

Nicht der Au­tor er­zählt, al­le Men­schen und Er­eig­nis­se erzählen.“
„Es geht beim Schrei­ben nicht dar­um, et­was zu ma­chen, son­dern et­was zu finden.“
„Die Wirk­lich­keit schreibt kei­ne Ge­schich­ten. In der Fik­ti­on kann man nicht le­ben, aber auch nicht sterben.“

Wel­che Er­war­tun­gen weckt Li­te­ra­tur? Wie wirkt sie? Wie kann man dar­über re­den? Fra­gen, die sich mir beim Le­sen und Schrei­ben stel­len und die wäh­rend un­se­rer Dis­kus­sio­nen im Li­te­ra­tur­kreis oft gro­ße Ver­blüf­fung aus­lö­sen. Wer sich mit his­to­ri­schen Tex­ten be­schäf­tigt, neigt zur Ana­ly­se. Wer hat wann was wem und vor al­len Din­gen war­um ge­sagt? Erst wenn dies ge­klärt ist, kann man Rück­schlüs­se zie­hen und in­ter­pre­tie­ren. Bei ei­nem li­te­ra­ri­schen Text al­ler­dings kann die Ana­ly­se be­reits die In­ter­pre­ta­ti­on sein, falls er so ge­baut ist wie Pe­ter Stamms Ro­ma­ne al­le­mal. Die elen­de Gret­chen­fra­ge „was will uns der Au­tor da­mit sa­gen“ führt bei Stamm ins La­by­rinth, Ari­ad­ne­fa­den nicht in Sicht.

Pünkt­lich zu sei­nem sech­zigs­ten Ge­burts­tag legt der Schwei­zer Pe­ter Stamm sei­nen neu­en Ro­man vor. Das Ge­schenk an sich selbst wie an sei­ne Le­ser raunt ge­heim­nis­voll „In ei­ner dun­kel­blau­en Stun­de“ und ist in ei­nem be­son­de­ren Pa­pier ver­packt, wel­ches das Por­trät „Pe­ter Stamm“ der Ma­le­rin An­ke Dober­au­er zeigt. Als Schrift­stel­ler be­kannt wur­de Stamm durch So könn­te es ge­we­sen sein““ weiterlesen

Unerinnerbarer Horror“

Emmanuel Carrère erzählt in „Yoga“ von seinem Kampf gegen innere Irrlichter

Es ist ein dor­nen­rei­ches Un­ter­fan­gen ei­ner so irr­lich­tern­den Be­we­gung wie der un­se­res Geis­tes zu fol­gen, ihm in die ver­bor­ge­nen Win­kel nach­zu­drin­gen und noch die win­zigs­ten Er­schei­nungs­for­men sei­ner Un­ru­he au­zu­ma­chen und auf­zu­zeich­nen. Meh­re­re Jah­re sind es schon, dass ich mei­nen Ge­dan­ken nur mich selbst zum Ge­gen­stand ge­setzt ha­be, dass ich nichts an­de­res un­ter­su­che und er­for­sche als mich, und er­for­sche ich doch et­was an­de­res, dann nur, um es auf mich zu be­zie­hen.“ (Mon­tai­gne)

Ich wür­de ger­ne et­was an­de­res den­ken als das, was ich den­ke, denn was ich den­ke und oft ge­nug auf­ge­zählt ha­be ist sinn­los, es ist im­mer das­sel­be und über­trie­ben selbstbezogen.“(Carrère)

Yo­ga“, der Ti­tel des jüngs­ten von Em­ma­nu­el Car­rè­re ver­fass­ten Ro­mans mag den Le­ser in die fal­sche Rich­tung füh­ren. Man lernt zwar ei­ni­ges über Yo­ga oder bes­ser über Me­di­ta­ti­on, das stil­le sich von al­len in­ne­ren Irr­lich­tern frei ma­chen­de Sit­zen, wie es be­reits in ei­nem Ro­man von Tim Parks be­schrie­ben wur­de. Doch Car­rè­res Auf­ent­halt in ei­nem klos­ter­glei­chen „Ge­he­ge“, wo al­les, was Spaß macht, ver­bo­ten ist, bil­det nur den ers­ten der vier Tei­le des Buchs die­ses auf au­to­fik­tio­na­les Er­zäh­len abon­nier­ten Au­tors. Sei­nem ich-er­zäh­len­den Ro­man-Ego ist be­wusst, daß sei­ne Art al­le Sät­ze mit Ich zu be­gin­nen, zu­min­dest was das Brie­fe­schrei­ben be­trifft, ent­ge­gen al­len Re­geln ist. Re­geln der Höf­lich­keit und der Rück­sicht, ge­gen die auch der Ro­man ver­stößt, wo­von die Le­se­rin al­ler­dings nur se­kun­där und durch Un­erin­ner­ba­rer Hor­ror““ weiterlesen

Die unsichtbare Begleiterin

Peter Stamm erzählt in seinem Roman „Das Archiv der Gefühle“ von einer Befreiung

Im Flur gleich ne­ben dem Ein­gang un­ter der al­ter­tüm­li­chen Gar­de­ro­be steht ein gro­ßer Papp­kar­ton mit lee­ren, grau­gel­ben Ak­ten­map­pen, die ich beim sel­ben Groß­händ­ler be­zie­he, von dem auch das Pres­se­haus sei­ne Map­pen ge­kauft hat­te. Ich neh­me zwei her­aus und be­schrif­te sie. Die Ge­räu­sche des Was­sers und Die Ge­räu­sche der Vö­gel im Flug, und le­ge sie auf ei­nen Sta­pel auf dem Schreib­tisch, auf dem be­stimmt schon ein Dut­zend sol­cher be­schrif­te­ter, aber lee­rer Map­pen liegt. Ich weiß nicht, wie ich sie fül­len soll, ich ha­be im­mer nur ge­sam­melt und sor­tiert, ein­ge­ord­net, was an­de­re er­lebt und auf­ge­schrie­ben hatten.“

Manch­mal bin ich über­rascht, wie sehr sich zwei auf­ein­an­der fol­gen­de Lek­tü­ren the­ma­tisch äh­neln. Die von Da­ni­el Wis­ser be­schrie­be­ne gro­ße Lie­be, die nach Jahr­zehn­ten des klan­des­ti­nen Seh­nens end­lich er­füllt wird, fin­det sich auch im neu­en Ro­man von Pe­ter Stamm, wenn auch in gänz­lich an­de­rer Ausführung.

Der Held und na­men­lo­se Ich-Er­zäh­ler ist im Ge­gen­satz zu Wis­sers Vic­tor Jar­no ein in sich ge­kehr­ter Mensch. Äu­ße­re Be­lan­ge, wie die po­li­ti­sche La­ge oder der Zu­stand der Ge­sell­schaft, küm­mern ihn nur als Mel­dun­gen, die zu ar­chi­vie­ren sind. Als Ar­chi­var ei­nes Pres­se­hau­ses war er lan­ge Jah­re zu­ver­läs­sig, aber oh­ne Am­bi­tio­nen tä­tig, wie er im ers­ten Teil des Ro­mans dar­legt. In die­ser Fi­gu­ren­ex­po­si­ti­on schil­dert Pe­ter Stamm gleich zu Be­ginn ei­ne Ei­gen­art sei­nes Hel­den, die sich auch als Ei­gen­art des Ro­mans be­schrei­ben lie­ße. Der Er­zäh­ler ist so sehr in un­ge­leb­ter Lie­be an Fran­zis­ka ge­fes­selt, daß sie „Die un­sicht­ba­re Be­glei­te­rin“ weiterlesen

A🏆ypse now”

Daniel Wisser schreibt in „Wir bleiben noch“ über das Schräge und das Schöne unserer Zeit

Vic­tor wur­de klar, dass er die Re­ak­ti­on der Fa­mi­lie un­ter­schätzt hat­te. Doch er hat­te auch sei­nen ei­ge­nen Wi­der­stands­geist un­ter­schätzt. In dem Mo­ment, in dem sei­ne ei­ge­ne Mut­ter ihm sei­ne Kind­heits­fo­tos aus­hän­dig­te, weil sie da­für nach ei­ge­nen Wor­ten kei­nen Platz mehr hat­te, in dem Mo­ment, in dem sie zu­sam­men mit sei­ner Tan­te mit al­len recht­li­chen Mit­teln ge­gen den Letz­ten Wil­len der ei­ge­nen Mut­ter vor­ging, be­gann Vic­tor, sie und ih­re gan­ze Ge­ne­ra­ti­on zu ver­ach­ten. Ih­re El­tern hat­ten kämp­fen müs­sen, da­mit die Kin­der über­leb­ten, da­mit sie zur Schu­le, zur Uni­ver­si­tät ge­hen und im Wohl­stand le­ben konn­ten. Doch als die Ge­ne­ra­ti­on von Vic­tors Mut­ter und Tan­te Mar­ga­re­te in ih­rer Ju­gend ih­re Schein­idea­le aus­ge­lebt hat­te, wähl­te sie Rechts­par­tei­en und for­der­te die Schein­mo­ral, die sie an ih­ren El­tern kri­ti­siert hat­te, neu­er­dings von ih­ren Nach­kom­men. Da­bei sprach sie über ih­re Ju­gend so we­nig wie die Kriegs­ge­nera­ti­on, der sie ihr Schwei­gen im­mer zum Vor­wurf ge­macht hat­te. Sie hat­te ei­nen ma­xi­ma­len Ge­winn aus dem wach­sen­den Wohl­stand in ih­rer Ju­gend, aus den Ar­beits­be­din­gun­gen der 60er- bis 90er-Jah­re und schließ­lich aus ih­ren Pen­sio­nen, von de­nen die Ge­ne­ra­ti­on ih­rer Kin­der nur träu­men konn­te. Das Frie­dens- und Frei­heits­ge­schwätz, mit dem sie ih­ren El­tern und sich selbst auf die Ner­ven ge­fal­len war, küm­mer­te sie nicht mehr. Die tra­di­tio­nel­len Par­tei­en, die ih­nen ih­ren Wohl­stand ver­schafft hat­ten, küm­mer­ten sie nicht mehr. Sie wa­ren Rechts­po­pu­lis­ten ge­wor­den, weil nun kein Platz mehr war. Ei­ne trä­ge, selbst­ge­rech­te, un­mensch­li­che Generation.“

Wie wür­de Vic­tor die neu­es­ten po­li­ti­schen Ent­wick­lun­gen in sei­nem Hei­mat­land Ös­ter­reich kom­men­tie­ren? Über­rascht vom Kor­rup­ti­ons­ver­dacht ge­gen Kurz und Co wä­re der über­zeug­te So­zi­al­de­mo­krat wohl kaum. Des­sen Sicht auf Po­li­tik und un­se­re west­li­che Ge­sell­schaft würzt Wis­ser mit ei­ner ge­hö­ri­gen Por­ti­on Iro­nie. Sei­nen Hu­mor gab Wis­ser be­reits in „Die Let­ten wer­den die Es­ten sein“ zu er­ken­nen, ei­ne Pro­duk­ti­on sei­ner Band „Ers­tes Wie­ner Heim­or­ge­l­or­ches­ter“ und er ver­sieht ihn mit bit­te­ren An­klän­gen in sei­nem neu­en Ro­man „Wir blei­ben noch“.

Die Lust an der sprach­spie­le­ri­schen Sa­ti­re scheint et­was Ös­ter­rei­chi­sches zu sein. Sie prägt die Li­te­ra­tur von Wolf Haas eben­so wie die von Mi­cha­el Zie­gel­wag­ner. Es muss an der Luft oder am viel be­sun­ge­nen Wie­ner-Blut A🏆ypse now”“ weiterlesen