Emmanuel Carrère erzählt in „Yoga“ von seinem Kampf gegen innere Irrlichter
„Es ist ein dornenreiches Unterfangen einer so irrlichternden Bewegung wie der unseres Geistes zu folgen, ihm in die verborgenen Winkel nachzudringen und noch die winzigsten Erscheinungsformen seiner Unruhe auzumachen und aufzuzeichnen. Mehrere Jahre sind es schon, dass ich meinen Gedanken nur mich selbst zum Gegenstand gesetzt habe, dass ich nichts anderes untersuche und erforsche als mich, und erforsche ich doch etwas anderes, dann nur, um es auf mich zu beziehen.“ (Montaigne)
„Ich würde gerne etwas anderes denken als das, was ich denke, denn was ich denke und oft genug aufgezählt habe ist sinnlos, es ist immer dasselbe und übertrieben selbstbezogen.“(Carrère)
„Yoga“, der Titel des jüngsten von Emmanuel Carrère verfassten Romans mag den Leser in die falsche Richtung führen. Man lernt zwar einiges über Yoga oder besser über Meditation, das stille sich von allen inneren Irrlichtern frei machende Sitzen, wie es bereits in einem Roman von Tim Parks beschrieben wurde. Doch Carrères Aufenthalt in einem klostergleichen „Gehege“, wo alles, was Spaß macht, verboten ist, bildet nur den ersten der vier Teile des Buchs dieses auf autofiktionales Erzählen abonnierten Autors. Seinem ich-erzählenden Roman-Ego ist bewusst, daß seine Art alle Sätze mit Ich zu beginnen, zumindest was das Briefeschreiben betrifft, entgegen allen Regeln ist. Regeln der Höflichkeit und der Rücksicht, gegen die auch der Roman verstößt, wovon die Leserin allerdings nur sekundär und durch mutmaßliche Lücken erfährt. Letztere sind das Resultat eines Prozesses, den Carrères Ex-Frau Hélène Devynck gewann. Als der Autor sich mittels Vipassana bemüht seine Vritti zu vertreiben und seinen Kampf gegen „die Bewegungen, die den Geist erschüttern“ zu einem Buch zu machen, weiß er davon noch nichts. Noch gilt ein zumindest geringer Teil seiner Sorgen der Frau und den gemeinsamen Kindern.
Auch in den folgenden drei Teilen schildert Carrère Situationen, denen er ausgesetzt ist und die er mehr durchleidet als durchlebt. „1825 Tage“ liegen die Begebenheiten nach den Terror-Morden an der Redaktion von Charlie Hebdo zugrunde, denen ein Freund zum Opfer fiel. Sie bieten ihm jenseits der Bemühung um eine Gedenkrede, die die Gefährtin des Ermordeten von ihm erbittet, Anlass über deren Liebesglück nachzudenken und sein eigenes zu hinterfragen. Fast schon therapeutisch treten zwischen Selbsterkenntnis und Lebensweisheiten Aussagen zu Tage, die aus dem Roman entfernte Inhalte andeuten. „Wenn das Leben einem ein solches Geschenk macht [die wahre Liebe], muss man es annehmen und behüten, denn es gibt nichts Wertvolleres und es gibt nur wenige Personen, denen es ein zweites Mal gemacht wird, falls man das Pech oder die Dummheit hat, es zu verspielen: Das Leben ist nach einem solchen Fehler zwangsläufig ein bitteres, schlechtes Leben, ich hätte viel dazu zu sagen.“
Das erzählende Ich ist immer Carrère, bei der Meditation, in den Wochen nach dem Anschlag und erst recht im dritten Teil, der „Geschichte meines Wahnsinns“. Warum er in eine akute Phase der Depression fällt, bleibt ungesagt. Carrères literarisches Credo, seine Literatur sei „der Ort, an dem man nicht lügt“, kann er diesmal nicht einhalten. Er springt direkt zu den psychischen Folgen, die ihn dank der Hilfe seiner Schwester in eine psychiatrische Klinik führen. Erst hier erkennt er sein „neurotisches Elend“, welches ihn fast sein ganzes Leben begleitet. Es ist kein Normalzustand des Lebens, es betrifft nicht jeden. Oder stimmt es doch, was ein Priester ihm einst verriet, „die Leute seien viel unglücklicher, als man glaubt“? Nach vier Monaten in Saint-Anne beschließt der Schriftsteller, „meine psychiatrische Autobiographie und mein Essay über Yoga sind ein und dasselbe Buch“, auch wenn er Erfahrungen wie „unerzählbarer, unbeschreibbarer, unbenennbarer (…) unerinnerbarer Horror“ macht. Vielleicht ist dies ein Grund, weshalb er in diesem höchstintimen Teil seines Romans, seine Reportage-Recherchen zu Sadam Husseins Blut-Koran einfließen lässt. Ähnlich disparat erscheint der letzte auf der griechischen Insel Leros angesiedelte Teil „Die Jungs“. Die Episode beruht auf Erlebtem und ist dennoch weit fiktiver gestaltet als die vorangehenden. Der auf einer Nachbarinsel urlaubende Erzähler erfährt von einer Historikerin, die auf Leros Schreibkurse für Flüchtlinge gibt. Er schließt sich ihr an und die beiden unterstützen nicht nur eine Handvoll junger Männer, sondern sich gegenseitig in ihrer Hilflosigkeit, was Carrère mit Ironie schildert.
Das Mittel der Ironie zieht sich durch das ganze Buch. Seine besten Momente hat es, wenn der Autor über sich selbst spottet, über seine Idiosynkrasien als „labiler Narzisst“.
Man könnte „Yoga“ vorwerfen, es sei ein narzisstischer Roman, und doch finden sich in ihm weise Sätze über das „innere Geplapper“, das in der Meditation zur Ruhe kommt, über die Ironie als Remedium gegen die Traurigkeit, über die wahre Liebe und nicht zuletzt über die Literatur als Ort von Wahrheit und Lüge.