Damnatio Memoriae

Bodo Kirchhoffs „Widerfahrnis“ — über Schuld und den Versuch der Erinnerung zu entfliehen

jpeg_1718_160429Wi­der­fahr­nis“ ist mein ers­tes Buch von Bo­do Kirch­hoff und ich weiß gar nicht so recht, war­um? Aber ich weiß nach der Lek­tü­re, daß es nicht mein letz­tes sein wird.

Ge­wählt ha­be ich Kirch­hoffs neu­es­tes Werk nicht, weil er da­mit den Deut­schen Buch­preis ge­won­nen hat, son­dern weil mir die Le­se­pro­be im zu­ge­hö­ri­gen Heft sehr gut ge­fiel. Zu­dem steht der Ti­tel in zwei Dis­kus­si­ons­run­den auf dem Pro­gramm. Die ei­ne fin­det vir­tu­ell bei Whatch­are­a­din statt, die an­de­re dem­nächst in un­se­rem Literaturkreis.

Auch im vor­lie­gen­den Buch taucht ei­ne sol­che Run­de auf. Leo­nie Palm, ei­ne der bei­den Haupt­fi­gu­ren, ist de­ren „trei­ben­de Kraft“. So be­zeich­net sie je­den­falls Ju­li­us Reit­her, an des­sen Tür Leo­nie ei­nes Abends klopft. Der 70jährige hat vor kur­zem sei­nen Ver­lag ge­schlos­sen und sich in ein no­bles Apart­ment in den Ber­gen zu­rück­ge­zo­gen. Hier lebt er in der Na­tur und in den Er­in­ne­run­gen, die er re­di­giert wie einst als Lek­tor neue Tex­te. Ein schmerz­haf­ter Pro­zess. Reit­her „dreht den Dorn in die Fla­sche“ und öff­net da­durch nicht nur den Wein, son­dern mar­kiert die ein­set­zen­de Er­in­ne­rung als Boh­ren in der Ver­gan­gen­heit. Re­si­gna­ti­on und Selbst­zwei­fel lei­ten die Kor­rek­tur, der Reit­her auch sei­ne ge­spro­che­nen Sät­ze un­ter­wirft. Dass ein Sprach­mensch sein ei­ge­nes Spre­chen kri­tisch über­wacht, er­scheint plau­si­bel und wirkt stel­len­wei­se durch­aus amüsant.

Gleich auf der ers­ten Sei­te voll­führt Kirch­hoff den Dreh in die Me­ta­ebe­ne. Reit­her wirft dem Er­zäh­ler vor, sei­nen Na­men viel zu früh ein­zu­füh­ren. Wenn kurz dar­auf sich auch die Palm auf die­ses Spiel ein­lässt, ahnt der Le­ser, wie gut die Bei­den zusammenpassen.

Dies wird den Haupt­fi­gu­ren bald nach der Be­geg­nung be­wusst, wo­bei die Frau dem Mann im­mer ei­nen Schritt vor­aus scheint. Wäh­rend Ju­li­us Reit­her sich da­von be­tö­ren lässt, wie Leo­nie Palm Som­mer­kleid und San­da­len dem Schwei­zer Früh­ling ent­ge­gen setzt, will sie wis­sen, wie er ihr Buch fin­det. Ein Me­moir, in dem sie den Selbst­mord ih­rer Toch­ter ver­ar­bei­tet. Noch bleibt es beim Pseud­onym, aber Reit­her ahnt, wer sich da­hin­ter verbirgt.

Kirch­hoff lässt die Lie­bes­ge­schich­te schnell vor­an schrei­ten. Schon auf Sei­te 35 le­sen wir „ei­nen Herz­schlag lang sah er sie an, das hieß, sie sa­hen sich an“. Eben­so rasch ge­lingt es ihm die Haupt­mo­ti­ve an­zu­deu­ten: Reit­hers an ei­ner Ab­trei­bung ge­schei­ter­te gro­ße Lie­be, Palms Lei­den am Sui­zid der Toch­ter und das Flücht­lings­dra­ma. Letz­te­res ver­kör­pern zu­nächst die bei­den Emp­fangs­da­men der Wall­berg-Apart­ments, die wirt­schafts­flüch­ti­ge Bul­ga­rin und As­ter aus Eri­trea. Mit fei­ner Iro­nie macht der Au­tor ge­ra­de die­se bei­den Ge­flüch­te­ten zu Ge­hil­fen bei der Flucht der frisch Verliebten.

Reit­her und die Palm, oder in die­sem in­ti­men Mo­ment lie­ber Ju­li­us und Leo­nie, sind schon mit­ten­drin und be­reit mit­ein­an­der weg zu fah­ren. „Über al­le Ber­ge, Leo­nie, das woll­ten sie doch.“ Die Fahrt führt nach Ita­li­en, ins Sehn­suchts­land. Leo­nie war noch nie dort. Sie weiß nicht, ob sie sich sehnt. An­ders als Reit­hers Mut­ter, die dies erst kurz vor dem Tod ver­spürt, unerfüllbar.

Es gibt auch Men­schen, für die ist Ita­li­en kein nach Zi­tro­nen­blü­ten duf­ten­der Traum, son­dern nur ei­ne Etap­pe auf ih­rer Flucht vor dem Tod. Die­sen Flüch­ten­den be­geg­nen die Flie­hen­den auf ih­rer Rei­se. Bes­ser, sie fah­ren an ih­nen vor­bei, las­sen sie links lie­gen. Den Pulk an der Bren­ner­bahn, die Groß­fa­mi­lie auf dem Park­platz und spä­ter den Jun­gen im Olivenhain.

Da­zwi­schen liegt ei­ne lan­ge Au­to­fahrt mit we­ni­gen Pau­sen und vie­len Zi­ga­ret­ten, de­ren Rauch­si­gna­le das Spre­chen er­set­zen. Ge­nug Raum um an die Men­schen zu den­ken, „die es in un­se­rem Le­ben nicht mehr gibt oder gab“. Mit­ein­an­der zu re­den miss­lingt, wenn Reit­her Leo­nie zu ih­rer Ge­schich­te be­fragt. Ei­ne An­nä­he­rung ge­lingt den­noch über Ges­ten und Si­gna­le, die ge­lie­he­ne Ja­cke, ei­ne ge­mein­sa­me Zahn­pas­ta, ei­ne Hand im Rü­cken. Reit­her fühlt, wie sein Kopf ver­dreht wird und kün­digt doch mit ei­nem ama­vero – ich wer­de ge­liebt ha­ben- be­reits das En­de die­ses Ge­fühls an. Für ihn ist die Un­ter­neh­mung mit die­ser noch frem­den Frau „ei­ne Fahrt, in die Rich­tung, in die er nie mehr hat­te fah­ren wol­len“. Doch die Er­in­ne­rung kann nicht zer­stört wer­den. Selbst ein zu­fäl­lig ge­schos­se­nes Fo­to er­weist sich als prä­zi­se Re­plik ei­nes längst ver­gan­ge­nen Augenblicks.

Als sie lan­ge ge­nug ge­fah­ren sind, um ein­an­der nä­her zu kom­men, lan­den sie in Ca­ta­nia, neh­men dort ein Zim­mer und be­geg­nen ei­nem Kind. Zu­nächst ei­ne Er­schei­nung, die ge­nährt von Er­in­ne­run­gen im­mer prä­sen­ter wird und sich schließ­lich zwi­schen sie stellt. Ist es Leo­nies Barm­her­zig­keit oder Reit­hers Hart­her­zig­keit, an der die­se Lie­be schei­tert? Die­se Fra­ge nach Schuld stellt die No­vel­le vielfach.

Ist Reit­her schuld an der Abtreibung?

Trägt die Palm Schuld am Selbst­mord ih­rer Tochter?

Hat Reit­her durch sein Win­ken das Mäd­chen ermuntert?

Ver­schul­det Reit­her den Tu­mult im Au­to? Die Palm, weil sie kei­ne Kon­se­quen­zen fürch­tet? Oder das Mäd­chen, weil es sich so ver­hält, wie es sich verhält?

Kom­men Reit­her und die Palm nicht zu­sam­men, weil sie weg­läuft? Weil er sie nicht sucht? Oder kann er es we­gen sei­ner Ver­let­zung nicht, die das Mäd­chen ver­schul­det hat? Hat Reit­her Schuld, daß das Mäd­chen sich der­art wehrt?

Ha­ben Reit­her und Palm, stell­ver­tre­tend für al­le Men­schen, Schuld am Schick­sal der Flücht­lin­ge, ver­kör­pert durch das Mädchen?

Of­fe­ne Fra­gen, die für mich ei­nen gu­ten Ro­man ausmachen.

Bodo Kirchhoff, Widerfahrnis, Frankfurter Verlagsanstalt, 1. Aufl. 2016

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