Bodo Kirchhoffs „Widerfahrnis“ — über Schuld und den Versuch der Erinnerung zu entfliehen
„Widerfahrnis“ ist mein erstes Buch von Bodo Kirchhoff und ich weiß gar nicht so recht, warum? Aber ich weiß nach der Lektüre, daß es nicht mein letztes sein wird.
Gewählt habe ich Kirchhoffs neuestes Werk nicht, weil er damit den Deutschen Buchpreis gewonnen hat, sondern weil mir die Leseprobe im zugehörigen Heft sehr gut gefiel. Zudem steht der Titel in zwei Diskussionsrunden auf dem Programm. Die eine findet virtuell bei Whatchareadin statt, die andere demnächst in unserem Literaturkreis.
Auch im vorliegenden Buch taucht eine solche Runde auf. Leonie Palm, eine der beiden Hauptfiguren, ist deren „treibende Kraft“. So bezeichnet sie jedenfalls Julius Reither, an dessen Tür Leonie eines Abends klopft. Der 70jährige hat vor kurzem seinen Verlag geschlossen und sich in ein nobles Apartment in den Bergen zurückgezogen. Hier lebt er in der Natur und in den Erinnerungen, die er redigiert wie einst als Lektor neue Texte. Ein schmerzhafter Prozess. Reither „dreht den Dorn in die Flasche“ und öffnet dadurch nicht nur den Wein, sondern markiert die einsetzende Erinnerung als Bohren in der Vergangenheit. Resignation und Selbstzweifel leiten die Korrektur, der Reither auch seine gesprochenen Sätze unterwirft. Dass ein Sprachmensch sein eigenes Sprechen kritisch überwacht, erscheint plausibel und wirkt stellenweise durchaus amüsant.
Gleich auf der ersten Seite vollführt Kirchhoff den Dreh in die Metaebene. Reither wirft dem Erzähler vor, seinen Namen viel zu früh einzuführen. Wenn kurz darauf sich auch die Palm auf dieses Spiel einlässt, ahnt der Leser, wie gut die Beiden zusammenpassen.
Dies wird den Hauptfiguren bald nach der Begegnung bewusst, wobei die Frau dem Mann immer einen Schritt voraus scheint. Während Julius Reither sich davon betören lässt, wie Leonie Palm Sommerkleid und Sandalen dem Schweizer Frühling entgegen setzt, will sie wissen, wie er ihr Buch findet. Ein Memoir, in dem sie den Selbstmord ihrer Tochter verarbeitet. Noch bleibt es beim Pseudonym, aber Reither ahnt, wer sich dahinter verbirgt.
Kirchhoff lässt die Liebesgeschichte schnell voran schreiten. Schon auf Seite 35 lesen wir „einen Herzschlag lang sah er sie an, das hieß, sie sahen sich an“. Ebenso rasch gelingt es ihm die Hauptmotive anzudeuten: Reithers an einer Abtreibung gescheiterte große Liebe, Palms Leiden am Suizid der Tochter und das Flüchtlingsdrama. Letzteres verkörpern zunächst die beiden Empfangsdamen der Wallberg-Apartments, die wirtschaftsflüchtige Bulgarin und Aster aus Eritrea. Mit feiner Ironie macht der Autor gerade diese beiden Geflüchteten zu Gehilfen bei der Flucht der frisch Verliebten.
Reither und die Palm, oder in diesem intimen Moment lieber Julius und Leonie, sind schon mittendrin und bereit miteinander weg zu fahren. „Über alle Berge, Leonie, das wollten sie doch.“ Die Fahrt führt nach Italien, ins Sehnsuchtsland. Leonie war noch nie dort. Sie weiß nicht, ob sie sich sehnt. Anders als Reithers Mutter, die dies erst kurz vor dem Tod verspürt, unerfüllbar.
Es gibt auch Menschen, für die ist Italien kein nach Zitronenblüten duftender Traum, sondern nur eine Etappe auf ihrer Flucht vor dem Tod. Diesen Flüchtenden begegnen die Fliehenden auf ihrer Reise. Besser, sie fahren an ihnen vorbei, lassen sie links liegen. Den Pulk an der Brennerbahn, die Großfamilie auf dem Parkplatz und später den Jungen im Olivenhain.
Dazwischen liegt eine lange Autofahrt mit wenigen Pausen und vielen Zigaretten, deren Rauchsignale das Sprechen ersetzen. Genug Raum um an die Menschen zu denken, „die es in unserem Leben nicht mehr gibt oder gab“. Miteinander zu reden misslingt, wenn Reither Leonie zu ihrer Geschichte befragt. Eine Annäherung gelingt dennoch über Gesten und Signale, die geliehene Jacke, eine gemeinsame Zahnpasta, eine Hand im Rücken. Reither fühlt, wie sein Kopf verdreht wird und kündigt doch mit einem amavero – ich werde geliebt haben- bereits das Ende dieses Gefühls an. Für ihn ist die Unternehmung mit dieser noch fremden Frau „eine Fahrt, in die Richtung, in die er nie mehr hatte fahren wollen“. Doch die Erinnerung kann nicht zerstört werden. Selbst ein zufällig geschossenes Foto erweist sich als präzise Replik eines längst vergangenen Augenblicks.
Als sie lange genug gefahren sind, um einander näher zu kommen, landen sie in Catania, nehmen dort ein Zimmer und begegnen einem Kind. Zunächst eine Erscheinung, die genährt von Erinnerungen immer präsenter wird und sich schließlich zwischen sie stellt. Ist es Leonies Barmherzigkeit oder Reithers Hartherzigkeit, an der diese Liebe scheitert? Diese Frage nach Schuld stellt die Novelle vielfach.
Ist Reither schuld an der Abtreibung?
Trägt die Palm Schuld am Selbstmord ihrer Tochter?
Hat Reither durch sein Winken das Mädchen ermuntert?
Verschuldet Reither den Tumult im Auto? Die Palm, weil sie keine Konsequenzen fürchtet? Oder das Mädchen, weil es sich so verhält, wie es sich verhält?
Kommen Reither und die Palm nicht zusammen, weil sie wegläuft? Weil er sie nicht sucht? Oder kann er es wegen seiner Verletzung nicht, die das Mädchen verschuldet hat? Hat Reither Schuld, daß das Mädchen sich derart wehrt?
Haben Reither und Palm, stellvertretend für alle Menschen, Schuld am Schicksal der Flüchtlinge, verkörpert durch das Mädchen?
Offene Fragen, die für mich einen guten Roman ausmachen.