„Außer uns spricht niemand über uns“ erkennen die Helden in Wilhelm Genazinos Roman
„Vielleicht gab es die Krücken nur deswegen, weil die Menschen zwischendurch an ihrem Bewusstsein litten, dass ihnen geholfen werden musste. Allgemeine Mangelgefühle waren auch mir seit der Kindheit vertraut. Seit etwa vierzehn Tagen litt ich wieder an einem Drang. Von dem ich nicht wusste, ob er mich irgendwann ins Unglück stürzen würde: Ich wollte endlich ein bedeutsames Leben führen. Ich ahnte, dass die menschliche Bedeutsamkeit in zahllosen Einzelheiten des wirklichen Lebens aufbewahrt war und dass es an den Menschen lag, diese Bedeutsamkeit in ihr Leben einzubauen; aber wie? Zuweilen hatte ich den Eindruck, das Verlangen nach Bedeutsamkeit sei ein verhülltes Heimweh.“
Das Leben des Einzelnen ist kaum spürbar im Getriebe der Welt, das mit oder ohne ihn weiterläuft. Die Sinnsuche bleibt Sache des Subjekts. Mancher Lebensplan erweist sich als Illusion und droht seinen Protagonisten der Bedeutungslosigkeit auszusetzen. Dies ist kurz gefasst das Leid des Ich-Erzählers in Wilhelm Genazinos neuem Roman mit dem prägnanten Titel „Außer uns spricht niemand über uns“. Bedrückt von seiner Belanglosigkeit wird der Hauptfigur bewusst „mein Leben verlief nicht so, wie ich es mir einmal vorgestellt hatte“.
Als typischer Genazino-Held lässt er seinen Entwurf davon schwimmen und ergibt sich in seine Geworfenheit. Beobachtend nimmt er das alltäglich Banale hin, nicht ohne dessen Kuriosität zu bemerken. Doch der flanierende Fatalist ist nicht alleine, Bett aber nicht Wohnung teilt er sich mit Carola. Ebenso das Gefühl gescheitert zu sein. Bereits auf der ersten Seite des Romans fürchtet die 35jährige Telefonistin ohne Ausbildung, „Meine Mutter war eine belanglose Frau und ich werde ebenfalls eine belanglose Frau“. Ihr älterer Partner, ein Schauspieler, arbeitet als freier Sprecher beim Rundfunk. Seine wiederkehrende Angst auf der Straße zu landen bekämpft der durch gelegentliche Einsätze als Modenschau-Moderator in der Provinz. Auch wenn sich ein einkömmliches Projekt ergibt, wie das Einlesen eines Romans, blickt er unsicher in die Zukunft. Ein Zusammenleben mit Carola wagt er nicht, trotz ihres Drängens und trotz seiner viel zu großen Wohnung. Er fürchtet die Konsequenzen, zu einem Kind, über das sie oft sprechen, fühlt er sich nicht in der Lage.
Dieser Mann, ob er nun 40, 50 oder älter ist, fühlt sich alt. Zu alt für Veränderungen und genau richtig alt für die Erkenntnis, daß die Ideale abgenutzt sind und der Alltag zunehmend verblasst. Zu erotischen Abenteuern verspürt er nur wenig Lust, verächtlich blickt er auf ältere Kollegen, die so tun als würden sie „täglich vom Sex durchgeschüttelt“. Sogar die Blaumeisen sind längst zu Graumeisen geworden, erklärt er in seiner nüchternen Weisheit. Widerstand wird ebenso vergeblich wie der Versuch „gegen die Eintrocknung eines ganzen Brotlaibs anzuessen“. Tempus fugit, auch wenn die Marathonrentner dagegen anrennen. Allerdings dürfen sie öffentlich ihre Niederlage zur Schau stellen.
Dem Zerfall unterliegt auch seine Beziehung zu Carola. Das Interesse nimmt ab, die Störungen zu. Er ekelt sich vor ihren Tattoos, sie verabscheut seine Unordnung. Doch der Held kennt die unters Regal gekickten Titel genau. F. Scott Fitzgerald, Peter Weiss, Patricia Highsmith und Jurij Trifonow liegen vorrübergehend dort und starren auf die permanente Körperunzier, die sich nie mehr entfernen lässt. Bevor es zum Bruch zwischen dem Paar kommt, meldet sich eine Schwangerschaft, die sie verheimlicht und die er als Druckmittel empfindet. Schließlich verlässt sie ihn und kommt doch nicht von ihm los. Ihre Erkenntnis „ich bin dir bei weitem nicht so nah wie deine Gewohnheiten“ treibt sie tief in die Depression und beschert dem Roman ein düsteres Ende.
Im ersten Teil trifft der passionierte Genazino-Leser auf Altbekanntes. Ein übersensibler Protagonist, der ebenso lebensleidend ist wie seine Partnerin, die eine eigene Wohnung und ein Alkoholproblem hat. Selbstskeptizismus ist auch dem Autor eigen, wie Genazino in seiner Rede zum Rinke-Preis bekennt. In seinem aktuellen Roman beklagt er noch stärker den allgemeinen Niedergang. Sein Beobachter begegnet Menschen, die Tiere wie Kleinkinder behandeln und in ihrer Vorliebe für Belangloses der „Unterhaltungsunterschicht“ zuzurechnen sind. Eine neue Wortschöpfung für das „Erlebnisproletariat“ aus früheren Romanen. Diese Welt ist dem Helden so fremd, daß er sich manchmal wie ein Eichhörnchen fühlt, „das sich in einer Ecke versteckt und darauf wartet, dass alle fixen Versteher endlich und für immer den Mund halten“. Der Flaneur bevorzugt ein „verstecktes Leben“. „Ich musste vertuschen, dass ich etwas anderes als ein umherschweifender Mensch nie hatte werden wollen. Mein oberstes Ziel war, der Penetranz des Wirklichen zu entkommen.“