Hajo Steinerts „Der Liebesidiot“ erzählt von der Last an der Lust
Den Ich-Erzähler eines Romans nicht mit dessen Autor gleichzusetzen muss Lesern und erst recht Rezensenten nicht erst gesagt werden. Doch beim Debüt Der Liebesidiotvon Hajo Steinert, den ich als Literaturkritiker schätze, werden sowohl der Autor wie auch dessen Hauptfigur nicht müde dies zu betonen.
Nachzuprüfen ist dies bei der Lektüre des Romans und bei dem Gespräch, das Wolfgang Herles mit dem Autor führte. Lag es nur daran, daß Herles im Interview auf dem Blauen Buchmessesofa das Alter von Autor und Hauptfigur verwechselte? Oder liegt es an der Thematik des Romans, der auf jeder zweiten Seite Einblicke in das voyeuristische Potential eines älteren Mannes bietet?
Mit Sicherheit könnten die beiden spezifischen Fähigkeiten, die der Autor mit seiner Figur teilt, zu Verwechslungen führen. Zum einen ist dies die Sensibilität für die gesprochene Sprache. Steinert wie sein Protagonist Sigmund Seiler besitzen die ausgebildete Stimme unddas Gehör eines professionellen Sprechers. Dazu gesellt sich ihre Lust am Erzählen. Seiler wird durch die Phantasie seines Autors selbst zum Autor, der seinen Roman Kapitel für Kapitel einem lauschenden Publikum vorträgt. Diese Lesungen in der Patientenbibliothek einer Reha-Klinik bilden die Rahmenhandlung der eigentlichen Geschichte, in der Sigmund Seiler offenbart, welches Gebrechen ihn in die Siegerland-Klink brachte.
Dieses, ein entglittener Gleitwirbel und der resultierende Bandscheibenvorfall, ‑orthopädische Details entnehme man dem Roman- lässt sich ursächlich auf einen akuten Schub chronischer Erotomanie zurückführen.
Ausgelöst wurde er von Amors Pfeil, der Seiler ins empfindliche Ohrläppchen traf und sein Blut in der Lendengegend in Wallung brachte. Er vernachlässigt die Rückenpein aber auch seine beiden seelenlosen Ersatzgeliebten, die dem Alleinerziehenden bisher über seinen Notstand hinweg halfen. Die bewegten Bilder der russischen Youpornqueen Anastasia Fuckmenow vermögen ihn kaum noch zu erregen, Botticellis Simonetta über seinem Bett hat als Pin-Up-Girl ausgedient. Schließlich hat er die echte Simonetta gehört und erblickt, jetzt muss er sie nur noch erkennen. Doch es ist weit von der ersten Begegnung in der Kantine des Media Centers, wo Seiler bei der Agentur Voice als Sprecher verpflichtet ist, bis zum angestrebten Ziel. Immerhin neun Kapitel auf 285 Seiten, gesprochen fast sieben Stunden.
Seilers Leiden an dem einzigen Tag der Handlung wird noch etwas länger gedauert haben. In den Stunden zwischen Mittag und spätem Abend ringt er um die beste Strategie sich der Angebeteten zu nähern. Er ist kein Draufgänger wie der forsche Kollege, der groß an Nase und Wuchs jede Frau in Flug erobert. Seiler wirkt auf pubertäre Weise scheu, so ist es nur nahe liegend, daß ihm die erotischen Erfahrungen seiner Jugendzeit in den Sinn kommen. Mit welchem Bekenntnisdrang er sie allerdings beichtet, bildet einen merkwürdigen Gegensatz zu seiner sonstigen Zurückhaltung. Seine Lustfurcht am Ertapptwerden machen ihn zum Voyeur und die Leserin zwangsläufig mit. Diese hätte nach den ersten beiden Kapiteln das Buch fast zur Seite gelegt, doch die Einzelheiten über das professionelle Sprechen, die Notwendigkeit von präziser Aussprache und sinnvoller Betonung, machten sie neugierig, besonders auf angedeutete Interna.
Welcher Sprecher eines Murakami-Hörbuchs scheitert an der Aussprache von Haruki? Welcher der unzähligen Tatort-Kommissare hat in immer gleicher Tonlage einen amerikanischen Erfolgskrimi eingelesen? Und wer ist der großgewachsene, bei den Damen so erfolgreiche Sprecherkollege? Doch weder ein Literaturbetriebsroman noch ein Sprechbetriebsroman folgen.
Die Literatur lässt Steinert allerdings zu Wort kommen und schafft so kleine literarische Atempausen zwischen dem Gehechel seines Getriebenen. Cyrano de Bergerac, der wortgewandte aber verkannte Liebende, steht diesem bei und mit Büchners Lenz sehnt er sich nach Ruhe. Die affektierten Anzugträger aus dem Autohaus erinnern an Romane Wilhelm Genazinos, der auch über die Lust alter Männer zu klagen weiß, allerdings nebenbei und mit subtiler Ironie.
In Der Liebesidiot steht die Furchtlust Seilers im Vordergrund. Damals wie heute.
Schon als Kind schaute Sigmund den schaukelnden Mädchen unter die Röcke und den Spielplatz-Müttern ebenso. Heute sitzt er selbst auf der Bank und schielt über seine Lektüre auf die Haut um ihn herum. Seiner Lust als jugendlicher Spanner frönte er an Italiens Stränden und in deutschen Freibädern. Als Erwachsener versucht er es im Swingerclub, wenn auch ergebnislos ein einziges Mal. Selbst jetzt in der Siegerlandklinik und in mehrfacher Hinsicht leidend, bringt eine Klangschale sein altes Lied zum klingen.
„Eine etwa Vierzigjährige lag auf der Matte neben mir, der Länge nach hingestreckt, in einem engen, schwarzen Gymnastikanzug, ein entspanntes Lächeln auf ihrem Gesicht, die Wölbung ihres Schamhügels enorm. (…) Als sie an der Reihe war, die flachste aller Schalen für eine Minute auf ihrem Bauch zu dulden, stellte ich mir vor, ich wäre es, der ihre Schale und damit ihren ganzen Körper mit dem Klöppel zum Vibrieren bringt.“
Der Liebesidiot äußert vieles, was an Witze von Thekenstehern oder Komplimente von FDP-Politikern erinnert. Hajo Steinerts Erzähler Sigmund Seiler ist nicht der erste, der sich in altbekannter Altherrenerotik übt. Er teilt dies mit Schriftstellerkollegen, die sich um vieles älter und berühmter als meisterliche Spätsünder erweisen. Steinerts Kritikerkollege Julian Schütt hat dies vor einiger Zeit in einem gleichnamigen Essay in der Schweizer Zeitschrift Die Weltwoche erhellend dargelegt.
„Die Altherrenerotik braucht den ultimativen Kick, den Geruch von Endstadium, das elegische Aroma. Sex wird stets so dargestellt, dass es das letzte Mal sein könnte. Und dazu steht nur scheinbar im Widerspruch, dass ausgiebig in die Pubertät zurückgeblendet und der ersten Male gedacht wird.“ (Julian Schütt, Die Weltwoche, 41/2003)
Die Liste der von Schütt gefundenen Indizien ist lang, vieles davon findet sich auch Steinerts Roman. Schade!
Der Schreibstil hat mich zu Anfang etwas irritiert. Alles in allem ist der Roman aber besonders für die Generation derer interessant, die mit dem Begriff Kommune I oder Uschi Obermaier etwas anzufangen wissen.
Hallo Beatrix, danke für Deinen Kommentar. An „freie Liebe” habe ich allerdings bei diesem Roman nicht gedacht. Ich finde da kaum Gemeinsamkeiten. Aber vielleicht kannst Du mich da aufklären.