Taiye Selasi ergründet in „Diese Dinge geschehen nicht einfach so“ die Brüche der Afropolitans
„Warum wohnen wir hier?, fragte er sich, plötzlich wütend, in diesem Grau? Wie Schatten, Kreaturen aus Asche, deren zerbrechliche Wohlstandsträume beherrscht wurden von der leisen Angst, dass alles eines Tages einfach ins sich zusammenfallen könnte? Hatten sie etwas an sich, das sie in der Luft hängen ließ, trotz ihrer Intelligenz und obwohl sie so hart arbeiteten? Wenn das stimmte, warum konnten sie dann ihre Lage nicht einfach akzeptieren und sich bei den Armen niederlassen, die in Würde lebten? Er dachte an seine Klassenkameraden, die reichen in Brookline, die armen in Metco, und er irgendwo dazwischen, irgendwo in der Mitte steckengeblieben, ohne den Trost einer Gruppenzugehörigkeit, beschämt und verängstigt.“
Diese Gedanken bedrängen Olu, den ältesten Sohn von Kweku und Fola, er aus Ghana, sie aus Nigeria, die an einer Hochschule in Nordamerika zu einem Paar wurden.
Auf dieselben Wurzeln blickt auch Taiye Selasi zurück, die mit „Diese Dinge geschehen nicht einfach so“ ihr Debüt vorlegt. Geboren in London als Tochter eines Ghanaers und einer Nigerianerin wuchs sie in den USA auf und studierte in Yale. Während weiterer Jahre in Oxford lernt sie Toni Morrison kennen, die sie im Schreiben dieses Romans bestärkte. Als 2013 die deutsche Übersetzung erschien, wurde der Roman von der Literaturkritik gefeiert, mancher Rezensent schien sogar regelrecht verliebt.
Grund genug das Buch in unserem Literaturkreis zur Diskussion zu stellen. Schon der eher nach einem Vorwurf als nach einer Behauptung klingende deutsche Titel weckt im Gegensatz zu dem lakonischen „Ghana must go“ des Originals eine Neugier, die er mit Spannung einlöst.
Doch hat Selasi tatsächlich „den Roman neu erfunden“ wie ein Blurb auf der Rückseite enthusiastisch wirbt?
Selasi erzählt die Geschichte einer Familie. Die Eltern, Fola und Kweku, haben ihre afrikanischen Herkunftsländer verlassen. Krieg und Gewalt vertrieben Fola aus Nigeria, Armut und Chancenlosigkeit zwangen Kweku aus Ghana fort. Ihre Freiheit suchten sie in den USA, ihre Ausbildung der Universität von Baltimore. Kweku wird Chirurg, Fola hingegen Mutter. Jahre vergehen, Kweku macht Karriere, weitere Kinder kommen zur Welt. Die Familie mit dem Ältesten Olu, den Zwillingen Taiwo und Kehinde und dem Baby Sadie leben nun in Bostons Stadtteil Brookline, ausgerechnet in einem Haus im Kolonialstil. Sie wollen eine neue Heimat finden, schicken ihre begabten Kinder auf die besten Colleges, Fola wird erfolgreiche Geschäftsfrau. Doch ihr Versuch dazu zu gehören scheitert am noch immer vorhandenen Rassismus. Durch die Unfähigkeit über dieses Unrecht und überhaupt miteinander zu sprechen scheitert diese Familie schließlich an sich selbst. Wie die Einzelnen sich einander annähern erzählt Selasi im weiteren Verlauf.
Es ist vor allem die Form ihres Romans, der auf paradoxe Weise einen mitreißenden Lesefluss erzeugt. Zu Beginn schildert die Autorin auf gut hundert Seiten den Tod Kwekus. Getrennt von der Familie und erneut verheiratet lebt er wieder in Ghana als er eines Morgens die ersten Anzeichen eines Herzinfarkts spürt. Anstatt Alarm zu schlagen erinnert er sich an sein Leben mit Fola und seinen Kindern.
Erst am Ende dieses ersten der insgesamt drei Teile mit dem Titel „Abschied“ stirbt Kweku. Der Leser ist bis dahin nicht nur Kwekus Gedanken begegnet, sondern auch den Erlebnissen der anderen Familienmitglieder. Die anfängliche Flut multiperspektiver Eindrücke scheint zunächst das Lesen zu behindern. Abrupte Schnitte stehen zwischen den verschiedenen Zeit- und Handlungsebenen. Diese Erzähltechnik verwirrt, steigert allerdings auch das Interesse, mehr zu erfahren und die einzelnen Schilderungen einzuordnen. Bisweilen werden sie durch Motive verbunden, dazu zählen die Pantoffeln, in denen Kweku seine in der Kindheit zerschundenen Füße versteckt. Ein Fingerzeig auf afrikanische Verhältnisse durch vermeintliche Camouflage. Ein weiteres, fast kitschiges Motiv bildet ein Schmetterling, der im Augenblick des Todes vorbei flattert. Wenig geglückt scheinen mir die Anspielungen auf Mythologie und Sprache der Antike. Dass ausgerechnet die durch Mißbrauch traumatisierte Taiwo über Podo- und Pädophilie sinniert, wirkt ebenso seltsam wie die Idee ihres Zwillings Kehinde allen neun Musen das Antlitz seiner Schwester zu malen. Überhaupt bin ich aus der Kunst Kehindes nicht schlau geworden. Auch bleiben seine wie die Persönlichkeit manch anderer Figur blass. Dafür spielt das Schicksal in diesem Roman in voller Lautstärke und beendet ihn mit einem Überschuss an Harmonie.
Trotzdem habe ich ihn ganz gerne gelesen, diesen Roman über die Identitätskrisen einer aufstrebenden Einwandererfamilie, über Schande und Stolz und Unverständnis, die die afrikanische Herkunft als Zerrissenheit in den fern von Afrika Lebenden hinterlässt. Taiye Selasi bezeichnet diese wie sich selbst als Afropolitans, wie sie 2005 in ihrem Essay „Bye, Bye Babar“ darlegte. Ihr Roman „Diese Dinge geschehen nicht einfach so“ ist die Fiktion zu dieser Theorie.