Ein Abend mit Robert de Saint-Loup, Bd. 3, 555–580
„Die seltenen mit ihm zu zweit verbrachten Stunden, besonders aber diese, sind mir seither unvergesslich geblieben. Für ihn wie für mich war dies ein Abend der Freundschaft. Und doch brachte ich ihm wohl (aus diesem Grund auch von Gewissensbissen geplagt) in jenem Augenblick kaum, so fürchte ich, eine Freundschaft von der Art entgegen, wie er sie mir am liebsten eingeflößt haben würde.“
Saint-Loup ist auf Fronturlaub, seinen einzigen Abend in Paris will er mit Marcel verbringen. Er bittet, ihn in ein Restaurant zu begleiten. In diesem Gasthaus trifft sich Robert sehr oft mit seinen adligen Freunden, Marcel hingegen war noch nie dort. Als die Kutsche vor dem Eingang dieses Lokals, einer neumodischen Revolvertür, hält, fordert Robert den Freund auf schon einzutreten, während er den Kutscher bezahlt. Es ist sehr kalt an diesem Abend und Marcel sehr empfindlich.
Obgleich das Restaurant nur einen einzigen Gastraum besitzt, beherbergt es zwei
getrennte Welten. Adel und Bürgertum, darunter viele Juden, Proust bezeichnet sie als Israeliten, speisen und trinken in verschiedenen Bereichen. Ein niedriges, mit hohen Pflanzen bewachsenes Podest bildet die Schranke. Das Volk sitzt beengt auf langen Bänken an schmalen Tischen, der kleinere Bereich ist den Aristokraten vorbehalten. Diese beiden Separees besitzen sogar eigene Zugänge. Während die Bürgerstube durch eine einfache Tür betreten wird, die bei jedem Öffnen einen Schwall kalte Luft hereinlässt, dreht sich dort die Drehtür leise und diskret und hält jede Kälte von den jungen Herren ab.
„Für Liebhaber eine präzisen Vokabulars sei angemerkt, daß man eine solche Tür, die sich in einer Trommel bewegt, trotz ihres friedlichen Aussehens nach dem englischen revolving door auch Revolvertür nennt.“
Ihr überlässt sich Marcel, nicht ohne Angst in ihr gefangen zu werden. Er entkommet ihr unter dem kritischen Blick des Patrons, der ihn aus dem noblen Teil seines Etablissements verweist auf einen Platz an den Bürgerbänken, ausgerechnet in der Nähe der Klapptür. Der Wirt achtet die Standesunterschiede, auch wenn ihm die Ökonomie anderes raten sollte. Denn die Bürger sind meist zahlungskräftig, während die Jeunesse dorée bis auf ihre Titel kaum etwas in der Tasche trägt.
Das gilt allerdings nicht für jeden, besonders nicht für Robert de Saint-Loup. Als er das Lokal betritt, überschlagen sich Wirt und Kellner beim Katzbuckeln. Der gerngesehene, freigiebige Gast gesellt sich zu Marcel, da erkennt der Patron seinen Faux-Pas. Nicht nur ihm fallen die verkehrten Verhältnisse auf. Fürst Foix, ein Freund Roberts, bittet, um ihre Gesellschaft. Doch Marcel, dem Robert die Entscheidung überlässt, lehnt ab. Er will Robert an diesem einzigen, seltenen Abend für sich alleine. Fürst Foix und seine Vertrauten, mit denen Robert sonst alles teilt, nur ihre homosexuellen Neigungen halten sie voneinander fern, gehen diesmal leer aus. Und doch gelingt es Robert eine Brücke zwischen den beiden Welten zu bauen, gestützt auf Marcels zarter Natur, der Zugluft im Gastraum und dem Vicunja-Mantel von Fürst Foix. Diesen erbittet er und schwingt sich vom Sitz der hohen Herren über Bänke und Rücklehnen balancierend über die wogende Menge hinweg. Er bringt ihn zu Marcel, adelt ihn auf diese Weise zum Prinzen oder zur Prinzessin und überwindet so erneut die Schranken.
Roberts ungeteilte Aufmerksamkeit hat Marcel verdient, denn wegen diesem Beisammensein muss das Schreiben an seinem Roman warten.
Sehr geehrte Frau P., ohne den obigen Text gelesen zu haben, nutze ich diese Möglichkeit in ein mir fremdes Metier (Blog) schauen und komme mit meinem Ansinnen direkt auf den Punkt:
Hier in Berlin lesen wir seit 2007 Proust und sind mit dem 3. Band fast zu Ende. Ich lese und bereite mich — gemessen an meinen Fähigkeiten — sehr gründlich vor. Da aber die anderen Teilnehmer den Text nur durch mein einmaliges (für sie) Lesen kennen, ist eine Diskussion kaum möglich; aber die Leseabende und meine Vorbereitungen haben mich relativ tief in den Text einsteigen lassen, so dass für mich allmählich die Intensionen Prousts erkennbar werden, ich aber meine Defizite durch die fehlende Diskussion immer deutlicher erkenne.
In einem Interview erwähnten Sie, Sie würden Proust weiterhin lesen, wenn Ihnen auch die Mitleser abhanden gekommen seien. Wäre es möglich für mich, hier einzusteigen und als Mitleser zu fungieren und mich an Ihren Kommentaren zu „reiben”?
Wie erfolgen die Lesevorgaben — per email? Wie kommunizierten Ihre Mitleser im Internet?
Für einen Hinweis auf das Procedere wäre ich dankbar — für Diskussionen über bestimmte Textstellungen noch mehr.
Goetz Magiera
Hallo Herr Magiera,
der virtuelle Proust-Lesekreis hat sich leider schon vor langem aufgelöst. Ich lese also alleine nach Lust und Laune. Über Kommentare freue ich mich, besonders über die von Proust-Lesern. Also, nur zu!
Ich werde demnächst den 3. Band beenden und habe mir vorgenommen, den 4. Band in der Reclam-Neuübersetzung und in der Suhrkamp-Ausgabe zu lesen.
In den aktuellen Leseseiten Bd.3, S.555–580) beurteilt Proust die Freundschaft deutlich negativ, weil Abhängigkeiten entstehen. Ich kann ihm nur bedingt folgen, da wir kommunikative Wesen sind und sich daraus immer Abhängigkeiten und damit Kompromisse ergeben; er hat aus seinen Freundschaften die Schlüsse gezogen, und dort war sicherlich so etwas wie Abhängigkeit oder sogar Hörigkeit, so dass ein Bruch zur Erzeugung von Unabhängigkeit und damit zur Schaffung seines Werkes notwendig war. Thomas Mann oder auch Gustav Mahler haben hier den „Teilbruch” gefunden, nämlich die strikte Trennung zu gegebener Zeit zwischen der Familie und dem Künstler.
In dieser Szene empfinde ich nicht, daß der Protagonist Freundschaft gegenüber negativ eingestellt ist. Er ist enttäuscht, da er sich auf ein seltenes Zusammensein zu zweit mit Robert gefreut hatte, dieses aber schon am überfüllten Lokal zu scheitern droht. Erst recht an den adligen Freuden Roberts, die auch ihn vereinnahmen wollen.
Freundschaft ist nach meiner Lesart nur eines der Themen in diesem Abschnitt. Es tritt sogar zurück gegenüber den verschiedenen Kreisen der Gesellschaft, die Proust alle in dem Gasthaus zusammenpfercht und voll Ironie vorführt.
Was Freundschaft für Proust bedeutete, lässt sich sicher zum Teil an seinem Werk ablesen. Dennoch stellt sich die Frage, wieviel von seiner Identität er in seiner Figur offenbart.
Damit befasst sich mein Beitrag „Auf der Suche nach Marcel”
Wie Marcel die Freundschaft (S.553) durch die Erfahrung im Restaurant negativ beurteilen kann, obwohl die Restaurantszene (ab ca. S.557) mit den Freunden Roberts erst nach dem Urteil über Freundschaft kommt, mag ich nicht erkennen – literarische Kunstgriff? Im Übrigen sagt Proust oder Marcel auf Seite 553: „… was ich von Freunschaft halte, nämlich so wenig, dass …”. Das wird nicht als negativ empfunden?
Auch wenn die Freundschaft im Buch von 4500 Seiten nur einen „Abschnitt” einnimmt, kann diese Einstellung sehr grundlegend sein …
Er offenbart in seinem Werk und in den Personen darin seine ganze Lebenseinstellung als auch seine Identität einschließlich seines philosophischen Hintergrundes (Kant, Schopenhauer, Bergsson usw.). Künstler und Schriftsteller sowie die vielen Bildassoziationen zu Bildern von Whistler, Manet (Olympia), Monet, Renoir usw., die unmißverständlich darauf hinweisen. Natürlich macht Marcel eine Entwicklung durch und vielleicht könnte er am Ende des Buches eine andere Einstellung zur Freundschaft gewinnen — Prousts Leben zeigt das m.E. nicht und der letzte Band ebenfalls nicht. Sein ganzes Werk ist eine riesige Ansammlung von Gleichnissen und Metaphern, die die Handlungen des Buches erläutern und vertiefen; hier ordnet sich der Freundschaftsbegriff ein. Die Handlung ist immer nur das Werkzeug seiner Überzeugungen – die Gleichnisse und Erläuterungen spiegeln seine Überzeugungen unmittelbar.
Und ein letztes zur Freundschaft: Proust hat bitter erfahren, dass die Freundschaften seiner Jugend und seines „Mittelalters“ – neben seiner Mutter – ihn von der selbständigen Erarbeitung seines Werkes abgelenkt haben.
Natürlich sind die vielfältigen Spielarten von Beziehungen Gegenstand der Recherche, da gebe ich Ihnen recht. Man sollte vielleicht differenzieren zwischen Freundschaft, gesellschaftlicher Verpflichtung, Liebe und erotischer Beziehung. Alle diese unterschiedlichen Erfahrungen haben, nach meinem Eindruck, Proust nicht abgelenkt, sondern im Gegenteil zum Schreiben motiviert.
Die Recherche offenbart wie jedes literarisches Werk die Lebenseinstellung seines Verfassers, aber sie bleibt ein Roman.
Die von Ihnen angeführte Stelle liegt vor der Restaurant-Szene, um die es in meinem Beitrag hier geht.
Allerdings macht der Erzähler in ihr durchaus Einschränkungen, in denen er Freundschaft nicht nur negativ bewertet. Das geben auch viele andere Szenen wieder. Ich weiß nicht, ob ein umfassendes Urteil überhaupt möglich ist, ich fühle mich dazu außerstande. Nach meiner bisherigen Lektüre scheint mir allerdings die Bewertung zwischenmenschlicher Beziehungen durch den Erzähler stark von dessen jeweiliger psychischer Verfassung abhängig. Eigentlich ist Freundschaft bzw. Liebe seine größte Sehnsucht.
Aber, lieber Herr Magiera, wie heißt es immer so schön, „Jeder liest sein eigenes Buch.” 😉