Kunstvolles Spiel von Wort und Bild

Angelika Overath porträtiert in „Sie dreht sich um“ die Nebenfiguren der Kunst

9783630873497_CoverIch ha­be mich trei­ben las­sen, war in Edin­burgh, Ko­pen­ha­gen, Bos­ton, Städ­te, die ich nicht kann­te. Es war schön, zum ers­ten Mal ir­gend­wo zu sein. Ich bin viel in Ga­le­rien. Und nun wer­de ich in die Ber­ge fah­ren, ich weiß noch nicht wo­hin. Ich no­ma­di­sie­re ein biß­chen. So vie­le Jah­re ha­be ich mich ver­nünf­tig ver­hal­ten. Wann, wenn nicht jetzt wä­re Zeit für et­was Un­ge­plan­tes? Ich rei­se wie im Spiel, den Zu­fäl­len nach.“

An­ge­li­ka Ove­r­ath ken­ne ich seit sie im Jahr 2009 mit  Flug­ha­fen­fi­sche für den Deut­schen Buch­preis no­mi­niert war. Dar­in er­zählt sie von der ka­pri­ziö­sen Fort­pflan­zungs­akro­ba­tik der See­pferd­chen und von mensch­li­cher Lie­bes­mü­he. Auch in ih­rem neu­en Ro­man fin­det sich ein Aqua­ri­um, doch der Schwer­punkt liegt auf Ge­mäl­den, in de­nen ih­re Haupt­fi­gur den Fi­gu­ren der Ma­ler begegnet.

Wie Bild­wer­ke zu Li­te­ra­tur wer­den, ha­be ich im Herbst 2013 be­reits in der Kunst­hal­le Karls­ru­he be­staunt. In der Aus­stel­lung „Un­ter vier Au­gen – Por­träts se­hen, hö­ren, le­sen“ zeig­ten Schrift­stel­ler der deut­schen Ge­gen­warts­li­te­ra­tur ih­re li­te­ra­ri­schen Bild­phan­ta­sien zu Ge­mäl­den be­kann­ter Künstler.

An­ge­li­ka Ove­r­ath war ei­ne der be­tei­lig­ten Künst­le­rin­nen. Ih­rer Be­trach­tung zu Ru­bens „Mar­che­sa Spi­no­la Do­ria“ ‑das Ge­mäl­de ziert den Ka­ta­log­ein­band- war das ers­te Ob­jekt der Prä­sen­ta­ti­on. Die Au­torin be­schreibt de­tail­liert den Bild­in­halt, ana­ly­siert Bild­ach­sen und Auf­bau, äu­ßert sich aber auch zur ver­steck­ten Sym­bo­lik, zu Mo­ti­ven und Vor­bil­dern. Doch dann geht sie über die kunst­his­to­ri­sche Bild­be­trach­tung hin­aus, sucht nach Per­sön­lich­keit und Psy­che der Dar­ge­stell­ten und ent­deckt bei der Mar­che­sa schließ­lich ei­ne Auf­for­de­rung zum Aufbruch.

Im Auf­bruch be­fin­det sich auch An­na Mi­chae­lis, die Prot­ago­nis­tin in Ove­r­aths neu­em Ro­man „Sie dreht sich um. Die 50-Jäh­ri­ge steht in der Mit­te ih­res Le­bens plötz­lich vor dem En­de ih­rer Be­zie­hung. Ihr Mann ver­lässt sie we­gen ei­ner Jün­ge­ren und sie flieht in den Schutz der Mu­se­en. Den Fra­gen nach Ur­sa­che und Schuld be­geg­net sie mit räum­li­cher und in­ner­li­cher Di­stanz. Auf der Ex­pe­di­ti­on, die sie weit weg wie in den Hi­ma­la­ya führt, sucht sie un­ter schnee­ver­weh­ten Gip­feln ihr Selbst.

Ih­re Rei­se, die sie spä­ter als Spiel emp­fin­det und „Hi­ma­la­ya“ tauft, führt sie zu­nächst nach Edin­burgh in die Na­tio­nal Gal­lery. Dort ent­deckt sie un­ver­mu­tet ein ver­trau­tes Ge­mäl­de, „Ja­kobs Kampf mit den En­geln“ von Paul Gau­gu­in. Auf die­sem 1888 in der Bre­ta­gne ent­stan­de­nen Bild sind ne­ben dem Haupt­mo­tiv, der Vi­si­on Ja­kobs, ei­ni­ge jun­ge Mäd­chen ab­ge­bil­det. Rü­cken­an­sich­ten jun­ger Bre­to­nin­nen, in ih­rer ty­pi­schen Tracht. Vom kunst­his­to­ri­schen Stand­punkt aus nur Ne­ben­rol­len, doch plötz­lich spricht ei­nes der Mäd­chen zu ihr. Die Jüngs­te, de­ren Lo­cken aus der Hau­be her­vor­blit­zen, dreht sich so­gar neu­gie­rig zu der Be­trach­te­rin um. Nicht nur auf dem Ge­mäl­de hät­ten sie den de­ko­ra­ti­ven Part, auch für Gau­gu­in selbst. „Wer wa­ren wir denn für ihn und sei­nes­glei­chen? Bau­ern­mäd­chen aus der Bre­ta­gne.“ Be­nutzt füh­le sie sich, nicht nur in der Funk­ti­on als Mo­dell. Ei­ne wah­re Miss­brauchs­kla­ge schließt sich an. „Ich weiß schon, wel­che Furt er mein­te. Da­ge­le­gen bin ich wie ein Strom. Un­term Apfelbaum.“

Die Frau des Ma­lers, ei­ne Dä­nin, hat­te Gau­gu­in schon längst ver­las­sen, sie war in ih­re Hei­mat zu­rück­ge­kehrt. An­na denkt an den Ma­ler, der von neu­er Ero­tik ge­lockt in die Süd­see zieht, und wird sich ih­res ei­ge­nen Bruchs be­wusst. Mit un­si­che­rem Selbst­ver­ständ­nis folgt sie der Frau des un­treu­en Ma­lers zum nächs­ten Rei­se­ziel. An­na Mi­chae­lis fliegt nach Ko­pen­ha­gen. Dort trifft sie im Staat­li­chen Kunst­mu­se­um auf ei­ne Aus­stel­lung Vil­helm Ham­mers­høis. An meh­re­ren Ta­gen streift sie durch die Räu­me und lässt sich von den Dar­stel­lun­gen fas­zi­nie­ren. Sie blickt mit dem Künst­ler durch die Tü­ren und Fens­ter sei­ner In­te­ri­eurs, sieht sei­ner jun­gen Frau beim Put­zen der Pfif­fer­lin­ge zu und be­geg­net end­lich ei­ner Fi­gur, die zu ihr spricht. Es ist das Haus­mäd­chen Ham­mers­høis. Auf sei­nem Ge­mäl­de „In­te­ri­eur mit jun­ger fe­gen­der Frau“ dreht sie sich aus der ihr zu­ge­wie­se­nen Po­si­ti­on und be­rich­tet An­na vom Le­bens­ge­heim­nis des Künst­lers. Sie sol­le des­sen Ge­mäl­de „Ar­te­mis“ ge­nau be­trach­ten, dann wür­de sie schon se­hen. Vor die­sem Rät­sel der se­xu­el­len Iden­ti­tät trifft An­na auf ei­nen Frem­den, der ihr die ei­ge­ne wie­der be­wusst macht. Doch ihr Spiel ist noch nicht be­en­det. Sie be­geg­net in Bos­ton Ed­ward Hop­pers Frau Jo, ent­deckt in St. Mo­ritz in ei­nem über­mal­ten Werk Gio­van­ni Se­gan­ti­nis ei­ne Schwan­ge­re, reist nach Pa­ris und be­en­det ih­re kunst­vol­le Rei­se zu sich selbst schließ­lich in Skagen.

Ih­re li­te­ra­ri­schen Bild­phan­ta­sien kom­bi­niert Ove­r­ath mit Er­in­ne­run­gen und mit rea­len Be­geg­nun­gen. Auf sehr sinn­li­che Wei­se fla­niert ih­re Prot­ago­nis­tin durch die be­reis­ten Or­te. Der Ge­schmack von Spei­sen und Ge­trän­ken steht wie der Ge­ruch der Gas­sen und Gär­ten na­he­zu gleich­be­rech­tigt ne­ben den Bil­dern. Auf ih­rem ers­ten Gang durch Ko­pen­ha­gen, ent­deckt An­na über­all Paa­re. Sie fühlt sich al­lein und alt, zwei­felt, daß sie noch ein­mal be­gehrt wer­den wird. Der An­blick von An­der­sens Sta­tue lässt sie an sei­ne Meer­jung­frau den­ken, die in ihr Ei­fer­sucht auf die jun­ge Ge­lieb­te ih­res Man­nes evo­ziert und de­ren „meer­jung­frau­en­schö­ne Lo­cken“. Und doch ge­lingt es An­na sich wie­der auf sich selbst und ih­ren ei­ge­nen Wert zu besinnen.

Wie Ove­r­ath in den ru­hi­gen Fluss der Hand­lung As­so­zia­tio­nen ein­flie­ßen lässt, mit Ge­dan­ken und Ge­füh­le das In­ne­re ih­rer Fi­gur auf­bricht, wäh­rend das Äu­ße­re un­auf­fäl­lig bleibt, be­weist die li­te­ra­ri­sche Qua­li­tät ih­res Schrei­bens. In be­we­gen­den Bei­nah-Be­geg­nun­gen sucht sie nach Hin­wei­sen auf das Prin­zip von Nä­he. Ant­wort­mög­lich­kei­ten ge­ben ihr die Kunstwerke.

 

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Paul Gau­gu­in, Ja­kobs Kampf mit dem En­gel, 1888, Na­tio­nal Gal­lery of Scot­land, Edinburgh

Vil­helm Ham­mers­høi, In­te­ri­eur mit jun­ger fe­gen­der Frau, 1899, Samm­lung Hirsch­sprung, Kopenhagen

id., Ar­te­mis, 1893–94, Sta­tens Mu­se­um for Kunst, Kopenhagen

Ed­ward Hop­per, Room in Brook­lyn, 1932, Mu­se­um of Fi­ne Arts, Boston

Gio­van­ni Se­gan­ti­ni, Früh­mes­se, 1884/86, Se­gan­ti­ni- Mu­se­um, St. Moritz

In­gres, Die Ba­den­de von Val­pin­con, 1808, Lou­vre, Paris

Ja­co­bus Vrel, Frau am Fens­ter, 1645, Coll­ec­tion Frits Lugt, Pa­ris

An­na An­cher, Mäd­chen in der Kü­che, 1886, Samm­lung Hirsch­sprung, Kopenhagen

Angelika Overath, Sie dreht sich um, 1. Aufl. 2014, Lucherhand Literaturverlag

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