Wilhelm Genazino, Die Reise, der Tagtraum, das Versteck

Nein, es han­delt sich nicht um den Ti­tel des neu­en Ro­mans, son­dern um die Re­de Gen­a­zi­nos an­läss­lich der Ver­lei­hung des Rin­ke-Prei­ses 2010. Ih­re leicht ge­kürz­te Fas­sung wur­de in der heu­ti­gen Aus­ga­be der Süd­deut­schen Zei­tung veröffentlicht.

Ver­lie­hen wird der Preis durch die Stif­tung von Gun­tram und Ire­ne Rin­ke für „Das Le­bens­ge­fühl des Jah­res in sprach­lich über­zeu­gen­den Tex­ten“. Gen­a­zi­no er­hielt den Preis am 28. April für sei­nen im let­zen Jahr er­schie­nen Ro­man Das Glück in glücks­fer­nen Zei­ten.
Der mit 10000 Eu­ro do­tier­te Rin­ke-Preis wird seit 2007 ver­ge­ben. Bis­he­ri­ge Preis­trä­ger wa­ren Raoul Schrott mit Dich­ter am Ball(2007), der an­ony­me Ver­fas­ser von Wo­hin mit Va­ter?(2008) und Ro­ger Wil­lem­sen für Der Knacks(2009).

Der fol­gen­de Text ver­sucht ei­ne Aus­ein­an­der­set­zung mit die­ser Re­de. Zi­ta­te aus die­ser oder aus an­de­ren Wer­ken Gen­a­zi­nos sind gekennzeichnet.

Was be­deu­tet ein Preis für ei­nen Schrift­stel­ler, der in sei­nen Wer­ken dem Bei­fall des Pu­bli­kums eher kri­tisch ge­gen­über steht? Er stellt ei­ne Be­sänf­ti­gung des ste­ten Selbst­skep­ti­zis­mus dar, un­ter dem je­der rich­ti­ge Schrift­stel­ler lei­det. Der Preis wirkt als Si­gnal der Au­ßen­welt, am Schrei­ben dran zu blei­ben, denn „ein rich­ti­ger Schrift­stel­ler fängt im­mer wie­der von vor­ne an“. Auch wenn un­se­re heu­ti­ge Zeit mit ih­rer Fül­le von Er­eig­nis­sen, die ein kon­kre­tes Han­deln er­for­dern, die Pro­duk­ti­on von Li­te­ra­tur und die Aus­ein­an­der­set­zung mit Li­te­ra­tur ent­behr­lich und so ih­re Da­seins­be­rech­ti­gung in Fra­ge stel­len könnte.

Gen­a­zi­no sieht sich wie je­der Künst­ler als ein „an den Rand ge­dräng­tes Sub­jekt“ in ei­ner „selbst­ver­häng­ten Ver­ban­nung“. Sei­ne Ro­ma­ne be­zeich­net er als „nicht kom­pen­sa­to­risch“ und so wie Au­toren oft nach den Mo­ti­ven ih­res Schrei­bens be­fragt wer­den, stellt er den Le­sern die Fra­ge „War­um le­sen Sie?“. Ei­ne Viel­falt von Ant­wor­ten wä­re mög­lich. Gen­a­zi­no ist al­ler­dings über­zeugt, daß sei­ne Bü­cher den Le­sern wie ihm selbst ei­nen Schutz­raum bie­ten, denn die Le­ser be­mer­ken „dass es in der mo­der­nen Welt schwie­ri­ger wird, ei­ne hal­be Stun­de lang un­be­ob­ach­tet und al­so un­zen­siert le­ben zu dür­fen.“ Die Hel­den sei­ner Bü­cher, sei­en es nun der Fla­neur im fei­nen Schuh­werk oder der stu­dier­te Wä­sche­rei­mit­ar­bei­ter, ver­su­chen al­le ihr „Zwangs­abon­ne­ment der Wirk­lich­keit“ zu kün­di­gen oder sich we­nigs­tens mit ihm zu ar­ran­gie­ren, wo­bei vor al­lem „das Sich-tot-Stel­len“ zu ei­ner Über­le­bens­tech­nik wer­den kann. Das In­di­vi­du­um, die Da­seins­be­rech­ti­gung des Ichs, stellt Gen­a­zi­no als ei­nes sei­ner Haupt­an­lie­gen dar, sei­ne Bü­cher bie­ten sei­nen Le­sern „ei­ne Übungs­stät­te für ih­re Individuierung.“

Die Un­si­cher­heit, die sich beim Ver­fas­sen ei­nes neu­en Tex­tes ein­stellt, ver­gleicht Gen­a­zi­no mit der Ängst­lich­keit beim Be­tre­ten ei­nes Flug­zeu­ges. Bei bei­den Un­ter­neh­mun­gen ist das gu­te En­de kein si­che­res, es dro­hen Ab­sturz oder Schei­tern, das im Fall des Schrei­bens un­wei­ger­lich mit Scham ver­bun­den ist. „Je­der Au­tor ist für sie prä­de­sti­niert, weil er die be­son­de­ren Fä­hig­kei­ten, die an­de­re ihm un­ent­wegt zu­spre­chen nicht hat. Er muss so tun als ob: und ist des­we­gen für die Scham ein be­son­ders leich­ter Fall.“ Die­ses Ge­fühl ge­hört zum Da­sein ei­nes Schrift­stel­lers, da die­ser nie­mals aus­schließ­lich erst­klas­si­ge Li­te­ra­tur er­schafft. Gen­a­zi­no ist über­zeugt, dass zwi­schen den gu­ten Ro­ma­nen im­mer zwei bis drei mit­tel­mä­ßi­ge die nö­ti­ge Di­stanz hal­ten. Das ha­be ich als Le­se­rin sei­ner Wer­ke bis­her noch nicht fest­stel­len kön­nen. Ich dan­ke ihm für sei­nen bis­her er­schie­nen Wer­ke, die mir stets „Bei­stand“ mit mei­nen „in­ne­ren Aus­ein­an­der­set­zun­gen“ bieten.

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