Matthias Brandt erzählt in „Raumpatrouille“ von seiner Kanzlerkind-Kindheit
„Alles, was ich erzähle, ist erfunden. Einiges davon habe ich erlebt, manches von dem, was ich erlebt habe, hat stattgefunden.“
Wer soll die Geschichten lesen, die in Matthias Brandts „Raumpatrouille“ versammelt sind? Alle, die den Autor als Schauspieler schätzen? Leser von Biographien, geschrieben von Schauspielern — man denke an Meyerhoff — oder von Nachkommen der Politikprominenz? Oder die Altersgenossen des Autors, die, so der Klappentext, „literarische Reisen in einen Kosmos, den jeder kennt, den Kosmos der eigenen Kindheit (…) in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts“ unternehmen können?
Schnell wird klar, daß in diesen 178 Seiten mehr steckt. Brandt mischt nicht nur Autobiographisches mit Symbolen der Siebziger. Er widmet diese vierzehn Geschichten der Phantasie, der des damaligen Jungen und der des jetzigen Schriftstellers Matthias Brandt. Schließlich kennt Erinnerung keine Authentizität.
Sein Vater, Willy Brandt, Bundeskanzler von 1969 bis 1974 war ein vielbeschäftigter, selten anwesender Vater, wie viele Männer seiner Generation. Er gestaltet die Umstände der Geschichten, spielt in ihnen eine Rolle, doch selten ist er Hauptfigur.
Brandt bietet keine intime Sicht auf die Familie des berühmten Politikers. Seine Brüder erscheinen in den Geschichten nicht. Der 1948 geborene spätere Historiker Peter Brandt blieb in Berlin und nahm nicht an den Bonner Jahren teil. Lars, um zehn Jahre jünger als Matthias, hat seinerseits ein „Andenken“ an den Vater vorgelegt.
So erscheint Matthias Brandt in seinen Erinnerungen als Einzelkind. Alleine mit den Eltern und den Polizisten, die ihn wie die Grundstücks-Mauern von der Zudringlichkeit der Außenwelt abschirmen, wohnt er in der Villa auf dem Bonner Venusberg. Einsam fühlt er sich nie, davor bewahren ihn Hund Gabor, Besuche bei den Wachposten und Ausflüge in die Phantasie.
Das sind einige der Themen, die Brandt in seinen Geschichten aufgreift. Er folgt dabei keiner Chronologie, sondern erzählt von Erinnerungsmomenten an einen Jungen, der nur am Rande auch ein Kanzlerkind war. Manche geraten komisch, wie die Schilderung seiner Torwartkarriere, mache sehr traurig, wie die des misshandelten Mitschülers. Fast alle berichten von der Kraft der Phantasie. Diese zeigt sich im Rollen- und Verkleidungsspiel, der Lieblingszuflucht des Jungen. Als Zauberer, im Astronautenanzug oder als Trapper verschmelzen für ihn Spiel und Realität. Zum Besuch beim benachbarten Alt-Präsidenten Lübke schlüpft er mühelos in Anzug und seine Rolle als Kind, das einen Greis zu erfreuen weiß. Sogar ganz ohne Maske, nur beim Betrachten eines Bildes, taucht er in das Dargestellte ein und beginnt sich „in dieser Illusion aufzulösen“.
Die genannten Personen verorten Brandts Geschichten in den Siebziger Jahren, von dieser Zeit zeugen auch die Fernsehserien „Percy Stuart“ und die „Bezaubernde Jeannie“, Bärenmarke und das Bonanza-Rad, die Mondlandung und Autofahrerhandschuhe.
Dadurch gleitet der Leser in die eigene Kindheit und beginnt über Familie und Phantasie nachzudenken. Um so leichter, da Matthias Brandt seine Erinnerungen ebenfalls aus der Jetzt-Perspektive erzählt, erkennbar an seinen Wertungen, wenn er beispielsweise das Verhältnis zwischen seinem Vater und Herbert Wehner charakterisiert.
Natürlich beeinflusste die Bedeutung des Vaters das Familienleben und das Selbstverständnis des Jungen. Sie waren anders, wie ihm als Übernachtungsgast bei seinem Schulfreund Holgers bewusst wird. Und doch fühlt er sich in seiner Familie zu Hause, auch wenn die Nähe zum Vater, wie die letzte Geschichte zeigt, meist eine sehnsuchtsvolle bleibt.
Zu verfolgen ist „Raumpatrouille“ auch auf der Bühne, in einem gemeinsamen Projekt von Brandt und dem Musiker Jens Thoma.