Ljuba Arnautović macht in „Erste Töchter“ aus großen Leben eine kleine Geschichte
„Später hat er über sein Leben ein Buch geschrieben und darüber, wie politische Verhältnisse menschliche Schicksale bestimmen.“
Dieses Zitat könnte das Motiv von Ljuba Arnautovićs Schreiben sein und somit auch das ihres Buchs „Erste Töchter“. Zugeschrieben hat sie es Wolfgang Leonhard, einer ihrer Nebenfigur, der durch seinen autobiographischen Bericht „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ bekannt wurde. Autobiographisch ist auch Arnautovićs Werk. Wie bereits in „Im Verborgenen“ und in „Junischnee“ erzählt die in Wien lebende und 1954 in Kursk geborene Autorin von ihrer Familie, die, so der Klappentext, vom „Drama des 20. Jahrhunderts in Wien, Moskau und im Gulag“ geprägt wurde. Der letzte Band dieser Trilogie fügt München als Handlungsort hinzu.
Dort lebt Karl mit seiner neuen Frau und einer seiner ersten Töchter. Zuvor hatte er diese und ihre jüngere Schwester erst von deren Mutter Nina, dann von der Ersatzmutter Erika getrennt und nun sogar voneinander. Lara geht nach Wien, Luna bleibt in München. Eine Konstellation wie in Erich Kästners bekanntem Kinderbuch, was die Autorin ausdrücklich betont. „Die Schwestern sind fortan wie Erich Kästners doppelte Lottchen in einem ihrer Lieblingsbücher, sogar ihre Vornamen beginnen mit einem L. Auch ihre Eltern sind geschieden. Die eine lebt jetzt beim Vater, die andere bei der Mutter, die eine in München, die andere in Wien.(…) Nur wird in dieser echten Geschichte das Happy End ausbleiben.“ Zudem stehen bei Arnautović nicht die Trennung der Eltern und deren Auswirkung auf die Kinder im Vordergrund, sondern die ungleich schwerere Traumatisierung durch Krieg und Gulag.
Leonhard und Kästner scheinen Arnautovićs literarische Leitsterne zu sein. Leonhard als zeitkritischer Biograph, während Kästners Kinderbuch für sie „eine verblüffende frühe Erfahrung mit Literatur. Wie sie Zustände benennen, Erschütterungen und Gefühle beschreiben kann“ bedeutet. Zu letzterem zeigt sie auch in der Erzählweise einige Parallelen, so die auktoriale Erzählstimme oder die eingefügten Briefe.
Leider gilt dies nicht für die literarische Qualität, was hauptsächlich am Ton liegt. In 39 Kapiteln, die in der Zeit vor und zurück springen und nicht frei von Redundanzen sind, spannt Arnautović den weiten Zeitrahmen von 1955 bis 2001. Auf den 160 Seiten sind sogar Rückblicke bis in das Jahr 1934 eingeschlossen. Diese schildern Karls Situation als Schutzbundkind und seine frühe Trennung von den Eltern. Erst 1955 kehrt Karl zu seiner Mutter nach Wien zurück und holt bald Ehefrau Nina und die Töchter nach. Wir erfahren, wie er sein neues Leben gestaltet und sich in den folgenden Jahrzehnten immer wieder ein weiteres erfindet. Luna und Lara sind ihm dabei lästig, sie werden herumgeschubst zu Betreuerinnen oder in Heime. Als Heranwachsende emanzipieren sie sich, doch nicht ohne Verluste.
Das Verhalten dieser Figur ist verabscheuungswürdig. Karls Erfahrungen mögen dies bedingen. „Das harte Leben hat ihn eine Lektion gelehrt: Nie wieder Opfer sein! Nie wieder der Unterlegene, der Ohnmächtige sein. Stärker sein als andere. Keine Rücksicht nehmen. Immer nach oben streben, dorthin, wo die Macht ist.“ Als Entschuldigung gilt dies jedoch nicht. Der Egomane spielt alle gegeneinander aus und denkt nur an seinen Vorteil. Nina, die russische Mutter der ersten Töchter, heiratet er, um Sibirien verlassen zu dürfen. Erika, die einst mit seinem Bruder liiert und jetzt mit seiner Mutter befreundet ist, hilft ihm in Wien Fuß. Er verfügt über sie, emotional wie sexuell. Später trifft er Dörte, eine junge Medizinstudentin aus gutem Haus, naiv genug dem wesentlich älteren Aufschneider zu erliegen. Seine Tricks und Betrügereien führen ihn schließlich nach Moskau, wo eine junge Russin ihm zu Diensten ist. „Wenn Karl betrunken ist, prahlt er: »Ich habe eine 25-jährige geheiratet, und als sie 35 war, hab ich mir wieder eine 25-jährige genommen, und als die 35 war, hab ich mir wieder eine 25-jährige genommen.«“
Es ist dieses perfide Verhalten, das trotz aller Ungeheuerlichkeit, den Spannungsbogen dieser Lebenserinnerungen trägt. Erzählerisch mangelt es ihnen allerdings an Kompositionswillen. Der „Roman“ wirkt wie ein Konglomerat aus Texten, die zu verschiedenen Zeiten entstanden sind, aber das Gleiche erzählen, was die inhaltlichen Überschneidungen erklärt. Dazwischen finden sich Einschübe zu Zeitphänomenen und Ereignissen. So begegnen wir den Studentenprotesten, Hausbesetzungen, libertären WGs, Kriegsdienstverweigerern und einem lexikalen Eintrag zu Rudi Dutschke. Dagegen stehen sehr persönlich wirkende Szenen, in denen Arnautovic die Eigenheiten der Mädchen schildert. Diese überzeugen auch sprachlich, da sie Emotionen vermitteln. Zuweilen misslingt allerdings der Ausdruck von Gefühlen und gerät ins Kitschige. So liest sich die erste Begegnung von Dörte und Karl wie in einem Lore-Roman. „Die Art, wie er die Beine übereinanderschlägt, den Ellbogen aufstützt, die Zigarette hält, die Sauberkeit seiner Fingernägel überprüft. Das alles wirkt so souverän, so männlich.“ Nicht minder konventionell gerät die Charakterisierung des traumatisierten Karl. „Karl ist ein Gezeichneter. Nicht nur Gesicht und Körper tragen die Narben eines schweren Schicksals, auch seine Seele ist verwüstet.“ In weiten Teilen dieses autobiographischen Berichts hält jedoch eine seltsam trockene Sprache den Leser auf Distanz. Der Roman liest sich im besten Fall wie eine Reportage, da er oft den Blick aus der Metaebene auf das Geschehen bietet. „Wie verhalten sich zwei erwachsene Frauen, die wissen, dass sie Mutter und Tochter sind, diese Rollen aber so lange nicht miteinander gelebt haben.“
Es ist bedauerlich, daß Ljuba Arnautović ihre historisch wie psychologisch interessanten Lebenserinnerungen literarisch nur unzureichend gestaltet hat. Ein Happy End gewährt sie dennoch, wenn auch anders als ihr großes Vorbild Kästner. „In diesem Moment regt sie sich wieder, diese Ahnung von Zusammengehörigkeit. Ihr Vater hatte die Schwestern damals auseinandergerissen, jetzt führt er sie — wenn auch auf eine verquere Art — wieder zusammen. Luna und Lara hatten damals begonnen, eine Distanz zwischen sich zu spannen, eine Schutzvorrichtung gegen den Schmerz der Trennung. Diese Distanz brauchen sie doch längst nicht mehr.“