In „Engel des Vergessens“ erzählt Maja Haderlap vom Kampf der Kärntner Slowenen
„Nun hat das Wäldchen seine Vertrautheit verloren. Es hat sich dem großen Wald angeschlossen und sich in ein grünes Meer gewandelt, voll spitzer Nadeln und scharfkantiger Schuppen, mit einem wogenden, ausufernden Unterholz aus rauen Borken.”
Ein Mädchen sieht den Wald plötzlich mit anderen Augen. So setzt sie ein die Lesung von Maja Haderlap, der letztjährigen Preisträgerin des Bachmann-Wettbewerbs in Klagenfurt. Klagenfurt am Wörthersee, nicht weit von der österreichischen Grenze zu Slowenien gelegen, ist heute Wohn- und Arbeitsort der Autorin. In der Vergangenheit fuhr sie nach Klagenfurt zur Schule, wohnte dort während der Woche, ihre Heimat, ihr Zuhause lag in den bewaldeten Tälern um Eisenkappel, in den Gräben mit ihren Huben. Dort in der Walddunkelheit zwischen Brombeersträuchern und Pilzplätzen kämpften die Partisanen gegen die Nazischergen. Davon erzählt „Engel des Vergessens“, der erste Roman der Dichterin und Dramaturgin in seiner poetischen deutschen Sprache. Das Deutsche, so Haderlap, lasse sie zu den Ereignissen der Vergangenheit den Abstand einnehmen, der ihr das Erzählen erst ermögliche. Die 1961 geborene Autorin hat den Widerstand der Kärntner Slowenen gegen die Unterdrückung und Grausamkeit der Nationalsozialisten nicht selbst erlebt. Aber sie ist in einer Gemeinschaft aufgewachsen, die noch tiefe Spuren der Traumatisierung trug. Nicht nur die Menschen, die Partisanen, deren Familien, die Nachbarn und Waldbewohner zeigten unheilbare Verletzungen. Auch die Natur erinnert an den Krieg. „Der Krieg hat sich in unseren Gräben in den Wald zurück gezogen, er hat die Wiesen und Äcker, Hügel und Hänge, die Berglehne und Bachbette zu seinem Kampfplatz gemacht, …“
Alle Bewohner des Tals haben Geschichten von Angst und Gewalt zu erzählen. Der Vater diente, selbst noch ein Kind, den Partisanen als Meldebote, die Großmutter berichtet von ihrer Gefangenschaft in Ravensbrück. Auch die nicht unmittelbar Beteiligten, ihre Mutter und die Geschwister, leiden, sie werden von den beängstigenden Ausbrüchen des traumatisierten Vaters gequält. Diesem Vater, dem zwölfjährigen Partisanen, der von der Nazipolizei gefoltert, den Gräueln des Krieges entrinnen konnte, widmet die Autorin ihr Buch. Er ist ihre Hauptperson, deren Schicksal sie begleitet. Indem sie von ihm erzählt, von seinen Erinnerungen, von seinem Leben, vom Holzfällen und Jagen und von seiner Verzweiflung. Als Kind gab sie ihm das stille Versprechen, „ihn auf seinen Heimwegen und seinen Schulwegen zu begleiten, auf den Wegen in diese Landschaft vielleicht oder in seine Erinnerung“. Als Schriftstellerin löst sie dies nun ein. Mit der ihr eigenen poetischen Sprache führt sie in die Heimat und Häuser ihrer Kindheit. Neben den Schrecken der zurückliegenden Erinnerung bestimmen auch gute Erfahrungen ihr Kindheitsbild. Besonders die Großmutter trägt dazu bei, die ihre Enkelin mit Stärke und Wärme schützt. Auf ihre Leitung vertraut sie in der oft orientierungslosen Familie. „Kaum setzt sie sich in Bewegung, folge ich ihr. Sie ist meine Bienenkönigin und ich bin ihre Drohne. Ich habe den Duft ihrer Kleidung in der Nase, den Geruch nach Milch und Rauch, einen Hauch von bitteren Kräutern, der an ihrer Schürze haftet. Sie gibt mir den Rundtanz vor und ich tänzle ihr nach.“
Kurz vor der Matura stirbt die Großmutter. Ihr Tod bildet eine Zäsur im Leben der Erzählerin, die man auch in der Erzählweise zu spüren vermeint. Um Nuancen nüchterner berichtet sie von den politischen Zuständen, über die immer noch vorherrschenden Ressentiments gegen die einstigen Freiheitskämpfer. Immer noch wird die Geschichte der slowenischen Minderheit verfälscht dargestellt. Manche Bewohner verlassen ihre Heimat, um den Erinnerungen und Begegnungen zu entgehen. Bei den Zurückgebliebenen weckt die Kriegsdrohung Jugoslawiens große Verzweiflung.
Die Erzählerin entschließt sich zum Studium der Theaterwissenschaft, das sie nach Wien führt und von Gräben und Wäldern entfernt. Dort träumt sie von den Personen ihrer Heimat. Träume, die als surreales Element Unbewusstes mit Realem mischen. Mit ihrem Vater bleibt sie eng verbunden durch den ununterbrochenen Versuch ihn zu verstehen. In einem der letzten Kapitel, dem Vaterkapitel, schildert sie wie es zu seinem Verhalten kam, das sie nun als krankmachendes Kriegstrauma erkennt. Als der Vater stirbt bleibt der Tochter diese Erinnerung, der Engel des Vergessens hat vergessen sie zu tilgen.
„Ich fürchte, dass sich der Tod in mir eingenistet hat, wie ein kleiner schwarzer Knopf, wie eine dunkle Spitzenflechte, die sich unsichtbar über meine Haut zieht.“
Im Archiv des Bachmann-Wettbewerbs finden sich Aufzeichnungen von Lesung und Diskussion sowie ein Textausschnitt und Informationen zur Autorin.
Maja Haderlap, Engel des Vergessens, Wallstein Verlag, 4. Aufl. 2011