A🏆ypse now”

Daniel Wisser schreibt in „Wir bleiben noch“ über das Schräge und das Schöne unserer Zeit

Vic­tor wur­de klar, dass er die Re­ak­ti­on der Fa­mi­lie un­ter­schätzt hat­te. Doch er hat­te auch sei­nen ei­ge­nen Wi­der­stands­geist un­ter­schätzt. In dem Mo­ment, in dem sei­ne ei­ge­ne Mut­ter ihm sei­ne Kind­heits­fo­tos aus­hän­dig­te, weil sie da­für nach ei­ge­nen Wor­ten kei­nen Platz mehr hat­te, in dem Mo­ment, in dem sie zu­sam­men mit sei­ner Tan­te mit al­len recht­li­chen Mit­teln ge­gen den Letz­ten Wil­len der ei­ge­nen Mut­ter vor­ging, be­gann Vic­tor, sie und ih­re gan­ze Ge­ne­ra­ti­on zu ver­ach­ten. Ih­re El­tern hat­ten kämp­fen müs­sen, da­mit die Kin­der über­leb­ten, da­mit sie zur Schu­le, zur Uni­ver­si­tät ge­hen und im Wohl­stand le­ben konn­ten. Doch als die Ge­ne­ra­ti­on von Vic­tors Mut­ter und Tan­te Mar­ga­re­te in ih­rer Ju­gend ih­re Schein­idea­le aus­ge­lebt hat­te, wähl­te sie Rechts­par­tei­en und for­der­te die Schein­mo­ral, die sie an ih­ren El­tern kri­ti­siert hat­te, neu­er­dings von ih­ren Nach­kom­men. Da­bei sprach sie über ih­re Ju­gend so we­nig wie die Kriegs­ge­nera­ti­on, der sie ihr Schwei­gen im­mer zum Vor­wurf ge­macht hat­te. Sie hat­te ei­nen ma­xi­ma­len Ge­winn aus dem wach­sen­den Wohl­stand in ih­rer Ju­gend, aus den Ar­beits­be­din­gun­gen der 60er- bis 90er-Jah­re und schließ­lich aus ih­ren Pen­sio­nen, von de­nen die Ge­ne­ra­ti­on ih­rer Kin­der nur träu­men konn­te. Das Frie­dens- und Frei­heits­ge­schwätz, mit dem sie ih­ren El­tern und sich selbst auf die Ner­ven ge­fal­len war, küm­mer­te sie nicht mehr. Die tra­di­tio­nel­len Par­tei­en, die ih­nen ih­ren Wohl­stand ver­schafft hat­ten, küm­mer­ten sie nicht mehr. Sie wa­ren Rechts­po­pu­lis­ten ge­wor­den, weil nun kein Platz mehr war. Ei­ne trä­ge, selbst­ge­rech­te, un­mensch­li­che Generation.“

Wie wür­de Vic­tor die neu­es­ten po­li­ti­schen Ent­wick­lun­gen in sei­nem Hei­mat­land Ös­ter­reich kom­men­tie­ren? Über­rascht vom Kor­rup­ti­ons­ver­dacht ge­gen Kurz und Co wä­re der über­zeug­te So­zi­al­de­mo­krat wohl kaum. Des­sen Sicht auf Po­li­tik und un­se­re west­li­che Ge­sell­schaft würzt Wis­ser mit ei­ner ge­hö­ri­gen Por­ti­on Iro­nie. Sei­nen Hu­mor gab Wis­ser be­reits in „Die Let­ten wer­den die Es­ten sein“ zu er­ken­nen, ei­ne Pro­duk­ti­on sei­ner Band „Ers­tes Wie­ner Heim­or­ge­l­or­ches­ter“ und er ver­sieht ihn mit bit­te­ren An­klän­gen in sei­nem neu­en Ro­man „Wir blei­ben noch“.

Die Lust an der sprach­spie­le­ri­schen Sa­ti­re scheint et­was Ös­ter­rei­chi­sches zu sein. Sie prägt die Li­te­ra­tur von Wolf Haas eben­so wie die von Mi­cha­el Zie­gel­wag­ner. Es muss an der Luft oder am viel be­sun­ge­nen Wie­ner-Blut lie­gen, denn mit die­ser Ei­gen­schaft sind auch Da­ni­el Wis­sers Prot­ago­nis­ten aus­ge­stat­tet, al­len vor­an Vic­tor und Karoline.

Wis­sers Ro­man spielt in der Ge­gen­wart, mit­ten im vom Slim-Fit-Schnö­sel nach rechts ge­rück­ten ös­ter­rei­chi­schen Po­li­tik-Wahn­sinn. Nicht nur dies ist ein Grund für die bei­den Haupt­fi­gu­ren von der Stadt aufs be­schau­li­che Land zu zie­hen, in ei­nen Ort der hübsch hei­me­lig Hei­li­gen­brunn heißt. Doch zu­nächst muss sich das Paar fin­den oder bes­ser sich zu fin­den trau­en. 30 Jah­re hat es ge­dau­ert be­vor Vic­tor, Mit­te 40, und sei­ne aus Nor­we­gen heim­ge­kehr­te Cou­si­ne Ka­ro­li­ne end­lich zu­sam­men­kom­men. Sie muss­ten ei­ge­ne Hem­mun­gen über­win­den und fa­mi­liä­ren Wi­der­stand, ge­nau wie einst Ju­lia und Ro­meo, nur wird der Kon­flikt nicht zwi­schen zwei Fa­mi­li­en aus­ge­tra­gen, son­dern im sel­ben Clan. In die­sem bro­delt es be­reits, es wä­re nicht über­trie­ben zu sa­gen, seit je­her. Die Grün­de für Neid und Miss­gunst lie­gen, wie bei al­len un­glück­li­chen Fa­mi­li­en, in Lie­be, Po­li­tik und ei­ner Erbschaft.

Der An­lass, bei dem sich Vic­tor und Ka­ro­li­ne wie­der­se­hen, ist der Ge­burts­tag der Groß­mutter Ur­li, den die Fa­mi­lie mehr schein- als ein­träch­tig in de­ren Häus­chen in Hei­li­gen­brunn fei­ert. Seit­dem bahnt sich, sehr zum Ver­gnü­gen der Le­se­rin, in wun­der­ba­ren Bil­der­rät­seln — per SMS ver­steht sich, nicht per Whats­App -, zwi­schen Vic­tor und Ka­ro­li­ne ei­ne Be­zie­hung an. Als Ur­li kurz dar­auf stirbt, erbt Vic­tor das Häus­chen und Ka­ro­li­ne das Geld. Sie zie­hen ge­mein­sam nach Hei­li­gen­brunn, doch da­mit sind längst nicht al­le Pro­ble­me gelöst.

Wir be­fin­den uns in der Mit­te des Ro­mans, es bleibt al­so noch ge­nug Zeit, um Dos­to­jew­ski zu le­sen, ei­ne Pra­xis zu er­öff­nen, al­te Be­kann­te mit den ei­ge­nen Lie­bes­ver­hält­nis­sen und sich selbst mit dem Ibi­za-Vi­deo zu scho­ckie­ren. Ach ja, ein Fa­mi­li­en­ge­heim­nis wird auch noch gelöst.

Ge­nug Le­se­stoff, um sich Kri­sen­zei­ten al­ler Art ein we­nig ver­gnüg­li­cher zu vertreiben!

Daniel Wisser, Wir bleiben noch, Luchterhand Verlag 2021

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