Charles Ferdinand Ramuz hat mit „Derborence“ ein Sprachkunstwerk in antiker Tradition erschaffen
„Ah! Derborence, du warst so schön, du warst schön in jener Zeit, wenn du dich schmücktest von Ende Mai an, für die Männer, die kommen würden. Und sie ließen nicht warten; sobald du das Zeichen gabst, kamen sie.“
Charles Ferdinand Ramuz (1878–1947) gilt als einer der bedeutendsten Schriftsteller der Schweiz. 1936 erhielt er den Großen Preis der Schweizerischen Schillerstiftung, 2005 wurden seine Romane in die Bibliothèque de la Pléiade in Paris aufgenommen, sogar der Nobelpreis wurde für ihn gefordert.
Der vorliegende 1934 erschienene Roman „Derborence“ lag bereits ein Jahr später in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Bergsturz auf Derborence“ vor. Der Titel ist Programm. Die Alp Derborence, unterhalb des Bergmassivs Les Diablerets, liegt auf einer Höhe von annähernd 1500 Metern zwischen den Tälern der Rhone und des Wallis. In den Sommermonaten weideten die Talbewohner dort ihr Vieh. In den Dörfern zurück blieben nur die Frauen und die Alten. Am 23. Juni 1749 ereignete sich auf dieser von Felswänden eingekesselten Hochalp ein Bergsturz. Er begrub Lebewesen und Hütten unter sich und zerstörte die Weiden. Dieses Naturereignis steht im Mittelpunkt von Ramuz‘ Roman, den mancher auch als Liebesroman lesen mag, wie es beispielsweise die Filmadaption vorführt. Dies wäre aber eine schlichte Sicht. Das Schicksal des jungen Antoine, der beim Unglück verschüttet wurde, und seiner schwangeren Frau Thérèse, die dies ertragen muss, mag keine außergewöhnliche Geschichte sein, außergewöhnlich ist allerdings, wie Ramuz sie erzählt.
Er lässt das Innere der Figuren durch seine Sprache aufleuchten. Die Sehnsucht, an der Antoine schon nach wenigen Tagen oben auf der Alp leidet. Das Glück, als Thérèse ihre Schwangerschaft spürt. Die Sorge der Dorfbewohner nach dem nächtlichen Bergdonnern. Die Furcht, die Verzweiflung, die Trauer und den Mut.
Diese Seelenzustände vermittelt Ramuz durch poetische Naturbeschreibungen. Man spürt das Gefährliche, wenn Berge aussehen, „wie zwei Messerklingen, die mit dem Rücken im Boden stecken, und die Schneide steht in die Luft voller Scharten“. Aber man sieht auch ihre Schönheit, wenn Ramuz‘ in Worte gewandelter Blick einer Schafherde folgt, „bald an den Hängen, bald am Boden einer Schlucht ahmt sie den Schatten einer Wolke nach, die über uns der Wind beständig umformt. Sie geht vorwärts, sie wölbt sich über einer Erhebung, (…)“.
Charles Ferdinand Ramuz kannte die Landschaft, ihre Bewohner und ihre Geschichten. Er stammte aus dieser Gegend, von „den Ufern der Rhone, unweit der Quelle“, wie er schrieb. Er bezeichnete sich als Waadtländer, nicht als Schweizer.
Bevor er in Paris zum Schriftsteller wurde, hatte Ramuz in Lausanne Klassische Philologie studiert. Seine Kenntnisse der griechischen Tragödie merkt man dem Roman an. Ramuz‘ Stil zeigt rhythmischen Gestaltungswillen. Er arbeitet mit Wiederholungen, besonders auffällig ist der erste Absatz des zweiten und des letzten Kapitels, er akkumuliert Wörter, „man sieht, dass es da nur noch Steine gibt, Steine und nochmals Steine“, oder steigert sie zu Abläufen „erlischt alles, erkaltet alles, verstummt alles, schwindet und stirbt“.
Seine Protagonisten sind neben dem jungen Antoine und seiner Thérèse die Bewohner der Dörfer Aϊre, Premier, Zamperon und Anzeindaz. Ramuz erzählt aus wechselnden Perspektiven, auch darin zeigt sich seine Vertrautheit mit der antiken Literatur. Mal erfahren wir vom Innenleben Antoines, mal von den Empfindungen der jungen Thérèse oder ihrer Mutter Philomène. Manche Figuren scheinen aus antiker Feder zu stammen, wie der hinkende Nendaz oder der greise Hirte Plan, beide besitzen seherische Fähigkeiten. Ein allwissender Erzähler erklärt die Ereignisse, blickt auf Vergangenes zurück oder greift vor. Und wie der Chor in der griechischen Tragödie kommentieren hier die Dorfbewohner das Geschehen. „So kommt das Unglück näher, auf zwei Beinen oder auf zweimal zwei Beinen, aber man kennt es nicht; so kommen die schlimmen Nachrichten, und sie kommen geschwind, aber man weiß nichts davon.“
„Derborence“ beeindruckt nicht nur durch die Sprache und einen kunstvoll konstruierten Aufbau, der Roman ist auch äußerst spannend erzählt. Man leidet, man hofft, man fiebert mit. Durch geschickte Verzögerung erzeugt Ramuz ein Auf und Ab der Gefühle, das seine Leser atemlos bis zur letzten Seite begleitet.
Nach knapp 200 Seiten ist die Lektüre leider zu Ende. Doch es warten weitere Romane.
Dem Limmat Verlag ist es zu verdanken, daß „Derborence“ 1987 in der Übersetzung von Hanno Helbling (1930–2005) neu aufgelegt wurde und 2021 in einer dritten Auflage erschien.