Clare Chambers unterhält in ihrem Roman „Kleine Freuden“ mit erwartbaren wie unerwarteten Wendungen
„Kleine Freuden — die erste Zigarette des Tages, ein Glas Sherry vor dem Mittagessen am Sonntag, eine Tafel Schokolade, so aufgeteilt, dass sie eine Woche hielt, ein neu erschienenes Buch aus der Bibliothek, noch unberührt und makellos, die ersten Hyazinthen des Frühlings, ein sauber gefalteter Stapel Bügelwäsche, der Geruch des Sommers, der Garten im Schnee, ein Briefpapier-Spontankauf für ihre Schublade – das alles war belebend genug gewesen.“
Kleine Freuden, so der Titel von Chambers Roman, empfindet die Journalistin Jean ebenso, wenn sie in ihrer Kolumne die skurrilen Tipps der Leserinnen veröffentlicht. Jean lebt mit ihrer Mutter in Hayes nahe London und arbeitet als einzige weibliche Reporterin in der Redaktion des ansässigen Lokalblatts „The Kent Echo“. Im Jahr 1957, der Handlungszeit des Romans, sind die Rollen klar verteilt. Neben den Haushalts-Kolumnen fallen der Journalistin stets die weiblichen Themen zu, so auch als eines Tages ein besonderer Leserbrief die Zeitung erreicht.
Er stammt von Gretchen Tilbury und bezieht sich auf einen wenige Tage zuvor erschienenen Bericht über Parthenogenese bei Tieren. Die Leserin behauptet, sie sei ohne männliche Mitwirkung schwanger geworden. Sollte sich die Zukunftsvision des Artikels bereits erfüllt haben? Eine Sensation, deren sensible Überprüfung qua natura Jean zufällt. Sie vereinbart einen Termin zum Interview im Haus der Tilburys in Sidcup. Dort trifft sie auf die aparte Gretchen und ihre 10-jährige Tochter Margret, hübsch wie ihre junge Mutter und von auffallender Ähnlichkeit. Ist dies Zufall, und Gretchens Behauptung eine Lüge, oder ist Gretchen tatsächlich die „Jungfrau Maria von Sidcup“, wie Jeans Kollege sie nennt?
Rein rational muss man dem Spötter recht geben, Fortpflanzung durch Zellteilung käme beim Menschen einem Mirakel gleich. Doch der Leserin ergeht es wie der Jean, „aus Gründen, die nicht nur mit dem journalistischen Hunger nach der guten Story zu tun hatte, wollte sie, dass es wahr ist“.
Die Wahrheit würden letztendlich nur die Untersuchungen ans Licht bringen, zu denen sich Dr. Hilary Endicott, Genetikerin und Verfasserin des besagten Artikels, bereit erklärt. Jean will als Vertreterin der Zeitung alles organisieren und exklusiv darüber berichten. Doch bevor Gretchen mit ihrer Tochter ins Charing Cross Hospital fahren kann, benötigt Jean die Einverständnis von Mr Tilbury.
So vergehen die ersten Seiten des mit einer Mischung aus Mystery und Spannung angereicherten Romans von Clare Chambers in Nu. Als Jean aber Gretchens Mann in seinem Juwelierladen im Zentrum Londons begegnet, verliert sich dieser Schwung und der Reiz des Rätselhaften verfliegt. Denn dort, im winzigen Hinterzimmer des kleinen Ladens, häufen sich die Omina für das weitere Geschehen. Ein junger Mann sucht Geschmeide für seine Geliebte, ein Paar nach einem Verlobungsring. Jean, die mit 39 Jahren von den Männern enttäuscht in einer tristen Gemeinschaft mit ihrer alternden Mutter gefangen ist, nimmt das fremde Glück mit Sehnsucht wahr. Was die Leserin ahnt, bleibt der Protagonistin jedoch verborgen. Jeans Gefühle richten sich zunächst auf Gretchen und deren Tochter. Die Atmosphäre dieser Zweisamkeit zieht sie an. Sie bildet einen Gegensatz zu ihrer eigenen Situation, in der ihre kränkelnde Mutter ihr Pflichtbewusstsein ausnutzt und ihr kaum Freiraum lässt. Wie ein Gegenprogramm wirkt das makellose Heim der Tilburys. Die freundliche Bilderbuchfamilie mit der hübschen Gretchen, der liebenswerten Margret und dem fürsorglichen Howard nimmt Jean freundschaftlich auf. Obwohl sie professionelle Distanz wahren sollte, erwidert sie die Zuneigung. „In Wahrheit waren sympathische neue Bekannte ein zu seltenes Phänomen, um abgelehnt zu werden.“ Es entwickeln sich engere Beziehungen, wenn auch zu jedem ihrer neuen Freunde spezielle. Was sich bereits beim ersten Treffen mit Howard anbahnte, nimmt Fahrt auf und gibt dem Roman eine neue, wenn auch konventionelle Ausrichtung.
Chambers erzählt aus der Sicht ihrer personalen Erzählerin wechselweise vom schwierigen Verhältnis zwischen Jean und ihrer Mutter und von Jean im Umgang mit Gretchen, Margret und Howard. Dazwischen begleiten wir Jean auf Recherchen zu Gretchens Vorleben und erfahren die Testergebnisse aus dem pathologischen Labor.
Im Vordergrund steht dabei das Innenleben der alleinstehenden Jean, die sich zwischen Pflicht und Verantwortung, beruflich wie privat, und dem Bedürfnis nach Selbstbestimmung aufgerieben fühlt. Neben diesen psychologischen Innensichten platziert Chambers feine Beobachtung menschlichen Verhaltens. So fahren zwei Rezeptionistinnen des Krankenhauses „mit ihrem Gespräch fort, bis es an eine natürliche Pause geriet – eine höchst gekonnt gewählte Zeitspanne, die signalisieren sollte, dass sie der Allgemeinheit zu ihren eigenen Bedingungen dienten“. Ebenso fehlt es in diesem britischen Roman nicht an britischem Humor, im Labor unterstellt Jean den Pathologen, „sie schärften schon ihre Skalpelle, bereit, sie für Objektträger in Scheibchen zu schneiden“.
„Kleine Freuden“ bietet viele erwartete wie unerwartete Wendungen, macht Pathos mit Unernst erträglich und überrascht mit seinem Ende. Die historische Begebenheit, die Chambers zum Roman inspirierte, und von der ein Zeitungsausschnitt erzählt, hätte es fast gar nicht gebraucht.