Mit „Unmöglicher Abschied“ errichtet Han Kang den Opfern ein Mahnmal zwischen Traum und Realität
„Es schneite stark. Ich stand auf einem Acker, an dessen einem Ende sich ein niedriger Berg anschloss. Auf dieser Seite war er vom Fuß bis zur Kuppe mit Tausenden von schwarzen Baumstämmen bestanden, die etwa so dick wie Eisenbahnschwellen und verschieden hoch waren, wie Menschen unterschiedlichen Alters. Zugleich waren sie nicht kerzengerade gewachsen, sondern leicht gebogen oder geneigt und wirkten, als hätte man am Hang Tausende von Männern, Frauen und mageren Kindern im Schnee ausgesetzt, die die Schultern hochzogen. Ist das hier ein Friedhof?, frage ich mich.“
Den Literatur-Nobelpreis des vergangenen Jahres erhielt Han Kang, deren Romane in ihrer Heimat Südkorea sehr erfolgreich sind und die mit „Die Vegetarierin“ weltweit Furore machte. Die 1970 geborene Schriftstellerin studierte Koreanische Literatur und unterrichtete Kreatives Schreiben. Sie debütierte mit Gedichten und verfasste mehrere Romane. Der Nobelpreises „für ihre intensive Prosa, die sich historischen Traumata stellt und die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens aufzeigt“, schenkte allerdings nicht nur der Autorin selbst Aufmerksamkeit. Er lenkte den Blick auf die historische Vergangenheit Südkoreas, die europäischen Lesern weitgehend unbekannt sein dürfte.
Es ist vor allem die Gewaltgeschichte des Landes, die Han Kang immer wieder in ihre Werke einfließen lässt. So auch in ihrem jüngst auf Deutsch veröffentlichten Roman „Unmöglicher Abschied“. In Südkorea erschien er bereits 2021, sein ins Englische transkribierter Titel lautet „We do not part“ — „Wir trennen uns nicht“.
Keine Trennung, kein Verabschieden, kein Vergessen! Das gilt auch für die Opfer des 1948 auf der Insel Jeju durchgeführten Massakers. Ganze Dörfer wurden vom Militärregime Koreas unter japanischem Mitwirken und us-amerikanischer Duldung zerstört, 30000 Menschen hingerichtet. Diesen Opfern ihre Würde zurückzugeben, indem sie an ihr Schicksal erinnert, ist Han Kangs Motiv. Sie erzählt davon nicht in gradliniger Weise, sondern verwebt in ihrer hochliterarischen Kunst vielfältige Erzählebenen, Prosa und Poesie, Reales und Surreales mit Fragmenten historischer Zeugnisse.
Alles beginnt mit einem Traum von schwarzen Baumstämmen im Schnee, der Han Kang, wie sie in einem Interview bekannte, wirklich widerfuhr, und aus dem ihre beiden Protagonistinnen die Idee für ein Kunstprojekt entwickeln. Das Mahnmal soll an die Opfer des Jeju-Massakers erinnern. Die beiden Frauen, Gyeongha und Inseon sind befreundete Solitäre. Sie kennen sich seit ihrer Zusammenarbeit als Reporterin und Kamerafrau, sehen sich jedoch selten. Gyeongha, die Schriftstellerin, lebt alleine in Seoul, die Recherche zu einem Massaker führt sie in eine Depression, die Leben und Schreiben gleichermaßen lähmt. Die Künstlerin Inseon arbeitet in einem einsam gelegenen Haus auf Jeju an den Skulpturen für das Mahnmal bis zu einem Unfall mit der Kreissäge. Das Unrecht von einst fügt auch den Nachgeborenen noch Leid zu. Doch es führt die Freundinnen auch wieder zusammen. Inseon bittet Gyeongha nach Jeju zu reisen, um ihr Haustier, den Papageien Ama, vor dem Tod zu bewahren. Gyeongha willigt ein, sie hat nichts anderes, was auf sie wartet.
In diesem ersten der insgesamt drei Teile des Romans begegnen wir einer nachvollziehbaren Realität, auch wenn sich in die Hitze Seouls, die Behandlung im Krankenhaus und die Reise nach Jeju Träume und Erinnerungen mischen. Diese sind allerdings fragmentiert und erschließen sich erst im Laufe des Romans. Dessen zweiter Teil begibt sich in einen Schneesturm auf Jeju und ins Surreale, aus dem die Zusammenhänge der historischen Ereignisse nach und nach auftauchen.
Durch die Schilderung der Naturgewalten, Hitze, Kälte, Schnee, Wasser erzeugt Han Kang Atmosphären, die schaudern lassen. Hitze wie Kälte steigern sich ins Unerträgliche, gleichzeitig deckt der Schnee dieses zu. So lange bis jemand kommt und ihn wegwischt. Ein gefährliches Unterfangen, denn im tiefen Schnee droht das Versinken.
Genau das geschieht Gyeongha auf der letzten Etappe ihrer Reise. Im dunklen Wald zu Inseons Haus rutscht sie vom Weg ab und landet in einer Schneewehe. Unfähig sich zu befreien, kämpft sie gegen den Schlaf. Vertraute Menschen erscheinen ihr als Visionen und sie fragt sich, „ob das ein typisches Phänomen für den bevorstehenden Tod ist“. Das fragt sich auch die Leserin. Der Roman erhält dadurch neben seiner literarischen und historischen Qualität Spannung. Zudem ist es so möglich, Irreales einzuordnen. Han Kang lässt ihre Protagonistin nach einer Nacht im Schnee auferstehen. Sie erreicht das Haus, sieht die Blutspuren in der Werkstatt und den Vogel. Der liegt tot in seinem Käfig, sie bestattet ihn und fällt in einen tiefen Schlaf. Als sie am nächsten Tag erwacht, erblickt sie mit Staunen nicht nur Ami, der munter aus seiner Wasserschale trinkt, plötzlich sieht sie auch Inseon, ebenfalls unversehrt. Gyeongha bezweifelt ihre Wahrnehmung und zieht den Schluss, „Wenn ihre Seele gekommen ist, mich zu besuchen, bin ich am Leben; ist jedoch sie am Leben, dann bin ich als Seele hier“. Vielleicht sitzen auch zwei Tote beieinander, frage ich mich. Viele Aussagen deuten darauf hin. „Ich bin zum Sterben hergekommen“ und „Nun fällt seit einiger Zeit hinter meinen Lidern Schnee“ lauten die Gedanken Gyeonghas oder besser die ihres Schattens, den sie im Zusammentreffen mit der Freundin bemerkt, „Unsere Körper berühren sich nicht, aber unsere Schatten gleiten über die Wände wie zwei Riesen“.
Auch die toten Vögel Ami und Ama erscheinen als Schatten. Die Toten des Massakers erscheinen hingegen in den Zeugnissen, die Inseon gesammelt hat. Die Zeitungsartikel, Dokumentationen und Fotografien erzählen von ihrem erlittenen Unrecht. Auch das Mahnmal der beiden Künstlerinnen will die Opfer vor dem Vergessen bewahren. Es will das Gebot des Schweigens brechen, die eingefrorenen Gefühle auftauen, die Trauer zulassen. Die Toten werden in diesem Roman ebenso wirkmächtig wie die Lebenden.
Das verdanken sie Han Kang literarischem Können, das Handlung, Introspektion und Erinnerung miteinander verwebt und durch Symbole auflädt. Manchmal spiegeln sich die Ereignisse von damals in den Erlebnissen der Protagonistinnen. „Es gibt keinen Grund auszuschließen, dass dieser ganze Schnee auf meinem Körper identisch ist mit den brüchigen Eiskristallen, nach denen ich als 5‑jährige in K am Tag des ersten Schnees meine Hände ausstreckte, mit den Wassertropfen, die mich als Dreißigjährige auf dem Fahrrad am Flußufer von Seoul im Regen durchtränkten, mit der blutverschmierten dünnen Frostschicht, die vor 70 Jahren auf einem Schulgelände dieser Insel Hunderte Kinder, Frauen und Greise bedeckte und unkenntlich machte.“ Die Natur vergisst nichts und verbindet die Gegenwart mit der Vergangenheit.