Wirkmächtige Schatten

Mit „Unmöglicher Abschied“ errichtet Han Kang den Opfern ein Mahnmal zwischen Traum und Realität

Es schnei­te stark. Ich stand auf ei­nem Acker, an des­sen ei­nem En­de sich ein nied­ri­ger Berg an­schloss. Auf die­ser Sei­te war er vom Fuß bis zur Kup­pe mit Tau­sen­den von schwar­zen Baum­stäm­men be­stan­den, die et­wa so dick wie Ei­sen­bahn­schwel­len und ver­schie­den hoch wa­ren, wie Men­schen un­ter­schied­li­chen Al­ters. Zu­gleich wa­ren sie nicht ker­zen­ge­ra­de ge­wach­sen, son­dern leicht ge­bo­gen oder ge­neigt und wirk­ten, als hät­te man am Hang Tau­sen­de von Män­nern, Frau­en und ma­ge­ren Kin­dern im Schnee aus­ge­setzt, die die Schul­tern hoch­zo­gen. Ist das hier ein Fried­hof?, fra­ge ich mich.“

Den Li­te­ra­tur-No­bel­preis des ver­gan­ge­nen Jah­res er­hielt Han Kang, de­ren Ro­ma­ne in ih­rer Hei­mat Süd­ko­rea sehr er­folg­reich sind und die mit „Die Ve­ge­ta­rie­rin“ welt­weit Fu­ro­re mach­te. Die 1970 ge­bo­re­ne Schrift­stel­le­rin stu­dier­te Ko­rea­ni­sche Li­te­ra­tur und un­ter­rich­te­te Krea­ti­ves Schrei­ben. Sie de­bü­tier­te mit Ge­dich­ten und ver­fass­te meh­re­re Ro­ma­ne. Der No­bel­prei­ses „für ih­re in­ten­si­ve Pro­sa, die sich his­to­ri­schen Trau­ma­ta stellt und die Zer­brech­lich­keit des mensch­li­chen Le­bens auf­zeigt“, schenk­te al­ler­dings nicht nur der Au­torin selbst Auf­merk­sam­keit. Er lenk­te den Blick auf die his­to­ri­sche Ver­gan­gen­heit Süd­ko­re­as, die eu­ro­päi­schen Le­sern weit­ge­hend un­be­kannt sein dürfte.

Es ist vor al­lem die Ge­walt­ge­schich­te des Lan­des, die Han Kang im­mer wie­der in ih­re Wer­ke ein­flie­ßen lässt. So auch in ih­rem jüngst auf Deutsch ver­öf­fent­lich­ten Ro­man „Un­mög­li­cher Ab­schied“. In Süd­ko­rea er­schien er be­reits 2021, sein ins Eng­li­sche tran­skri­bier­ter Ti­tel lau­tet „We do not part“„Wir tren­nen uns nicht“.

Kei­ne Tren­nung, kein Ver­ab­schie­den, kein Ver­ges­sen! Das gilt auch für die Op­fer des 1948 auf der In­sel Je­ju durch­ge­führ­ten Mas­sa­kers. Gan­ze Dör­fer wur­den vom Mi­li­tär­re­gime Ko­re­as un­ter ja­pa­ni­schem Mit­wir­ken und us-ame­ri­ka­ni­scher Dul­dung zer­stört, 30000 Men­schen hin­ge­rich­tet. Die­sen Op­fern ih­re Wür­de zu­rück­zu­ge­ben, in­dem sie an ihr Schick­sal er­in­nert, ist Han Kangs Mo­tiv. Sie er­zählt da­von nicht in grad­li­ni­ger Wei­se, son­dern ver­webt in ih­rer hoch­li­te­ra­ri­schen Kunst viel­fäl­ti­ge Er­zähl­ebe­nen, Pro­sa und Poe­sie, Rea­les und Sur­rea­les mit Frag­men­ten his­to­ri­scher Zeugnisse.

Al­les be­ginnt mit ei­nem Traum von schwar­zen Baum­stäm­men im Schnee, der Han Kang, wie sie in ei­nem In­ter­view be­kann­te, wirk­lich wi­der­fuhr, und aus dem ih­re bei­den Prot­ago­nis­tin­nen die Idee für ein Kunst­pro­jekt ent­wi­ckeln. Das Mahn­mal soll an die Op­fer des Je­ju-Mas­sa­kers er­in­nern. Die bei­den Frau­en, Gye­on­gha und In­se­on sind be­freun­de­te So­li­tä­re. Sie ken­nen sich seit ih­rer Zu­sam­men­ar­beit als Re­por­te­rin und Ka­me­ra­frau, se­hen sich je­doch sel­ten. Gye­on­gha, die Schrift­stel­le­rin, lebt al­lei­ne in Seo­ul, die Re­cher­che zu ei­nem Mas­sa­ker führt sie in ei­ne De­pres­si­on, die Le­ben und Schrei­ben glei­cher­ma­ßen lähmt. Die Künst­le­rin In­se­on ar­bei­tet in ei­nem ein­sam ge­le­ge­nen Haus auf Je­ju an den Skulp­tu­ren für das Mahn­mal bis zu ei­nem Un­fall mit der Kreis­sä­ge. Das Un­recht von einst fügt auch den Nach­ge­bo­re­nen noch Leid zu. Doch es führt die Freun­din­nen auch wie­der zu­sam­men. In­se­on bit­tet Gye­on­gha nach Je­ju zu rei­sen, um ihr Haus­tier, den Pa­pa­gei­en Ama, vor dem Tod zu be­wah­ren. Gye­on­gha wil­ligt ein, sie hat nichts an­de­res, was auf sie wartet.

In die­sem ers­ten der ins­ge­samt drei Tei­le des Ro­mans be­geg­nen wir ei­ner nach­voll­zieh­ba­ren Rea­li­tät, auch wenn sich in die Hit­ze Seo­uls, die Be­hand­lung im Kran­ken­haus und die Rei­se nach Je­ju Träu­me und Er­in­ne­run­gen mi­schen. Die­se sind al­ler­dings frag­men­tiert und er­schlie­ßen sich erst im Lau­fe des Ro­mans. Des­sen zwei­ter Teil be­gibt sich in ei­nen Schnee­sturm auf Je­ju und ins Sur­rea­le, aus dem die Zu­sam­men­hän­ge der his­to­ri­schen Er­eig­nis­se nach und nach auftauchen.

Durch die Schil­de­rung der Na­tur­ge­wal­ten, Hit­ze, Käl­te, Schnee, Was­ser er­zeugt Han Kang At­mo­sphä­ren, die schau­dern las­sen. Hit­ze wie Käl­te stei­gern sich ins Un­er­träg­li­che, gleich­zei­tig deckt der Schnee die­ses zu. So lan­ge bis je­mand kommt und ihn weg­wischt. Ein ge­fähr­li­ches Un­ter­fan­gen, denn im tie­fen Schnee droht das Versinken.

Ge­nau das ge­schieht Gye­on­gha auf der letz­ten Etap­pe ih­rer Rei­se. Im dunk­len Wald zu In­se­ons Haus rutscht sie vom Weg ab und lan­det in ei­ner Schnee­we­he. Un­fä­hig sich zu be­frei­en, kämpft sie ge­gen den Schlaf. Ver­trau­te Men­schen er­schei­nen ihr als Vi­sio­nen und sie fragt sich, „ob das ein ty­pi­sches Phä­no­men für den be­vor­ste­hen­den Tod ist“. Das fragt sich auch die Le­se­rin. Der Ro­man er­hält da­durch ne­ben sei­ner li­te­ra­ri­schen und his­to­ri­schen Qua­li­tät Span­nung. Zu­dem ist es so mög­lich, Ir­rea­les ein­zu­ord­nen. Han Kang lässt ih­re Prot­ago­nis­tin nach ei­ner Nacht im Schnee auf­er­ste­hen. Sie er­reicht das Haus, sieht die Blut­spu­ren in der Werk­statt und den Vo­gel. Der liegt tot in sei­nem Kä­fig, sie be­stat­tet ihn und fällt in ei­nen tie­fen Schlaf. Als sie am nächs­ten Tag er­wacht, er­blickt sie mit Stau­nen nicht nur Ami, der mun­ter aus sei­ner Was­ser­scha­le trinkt, plötz­lich sieht sie auch In­se­on, eben­falls un­ver­sehrt. Gye­on­gha be­zwei­felt ih­re Wahr­neh­mung und zieht den Schluss, „Wenn ih­re See­le ge­kom­men ist, mich zu be­su­chen, bin ich am Le­ben; ist je­doch sie am Le­ben, dann bin ich als See­le hier“. Viel­leicht sit­zen auch zwei To­te bei­ein­an­der, fra­ge ich mich. Vie­le Aus­sa­gen deu­ten dar­auf hin. „Ich bin zum Ster­ben her­ge­kom­men“ und „Nun fällt seit ei­ni­ger Zeit hin­ter mei­nen Li­dern Schnee“ lau­ten die Ge­dan­ken Gye­on­ghas oder bes­ser die ih­res Schat­tens, den sie im Zu­sam­men­tref­fen mit der Freun­din be­merkt, „Un­se­re Kör­per be­rüh­ren sich nicht, aber un­se­re Schat­ten glei­ten über die Wän­de wie zwei Rie­sen“.

Auch die to­ten Vö­gel Ami und Ama er­schei­nen als Schat­ten. Die To­ten des Mas­sa­kers er­schei­nen hin­ge­gen in den Zeug­nis­sen, die In­se­on ge­sam­melt hat. Die Zei­tungs­ar­ti­kel, Do­ku­men­ta­tio­nen und Fo­to­gra­fien er­zäh­len von ih­rem er­lit­te­nen Un­recht. Auch das Mahn­mal der bei­den Künst­le­rin­nen will die Op­fer vor dem Ver­ges­sen be­wah­ren. Es will das Ge­bot des Schwei­gens bre­chen, die ein­ge­fro­re­nen Ge­füh­le auf­tau­en, die Trau­er zu­las­sen. Die To­ten wer­den in die­sem Ro­man eben­so wirk­mäch­tig wie die Lebenden.

Das ver­dan­ken sie Han Kang li­te­ra­ri­schem Kön­nen, das Hand­lung, In­tro­spek­ti­on und Er­in­ne­rung mit­ein­an­der ver­webt und durch Sym­bo­le auf­lädt. Manch­mal spie­geln sich die Er­eig­nis­se von da­mals in den Er­leb­nis­sen der Prot­ago­nis­tin­nen. „Es gibt kei­nen Grund aus­zu­schlie­ßen, dass die­ser gan­ze Schnee auf mei­nem Kör­per iden­tisch ist mit den brü­chi­gen Eis­kris­tal­len, nach de­nen ich als 5‑jährige in K am Tag des ers­ten Schnees mei­ne Hän­de aus­streck­te, mit den Was­ser­trop­fen, die mich als Drei­ßig­jäh­ri­ge auf dem Fahr­rad am Fluß­u­fer von Seo­ul im Re­gen durch­tränk­ten, mit der blut­ver­schmier­ten dün­nen Frost­schicht, die vor 70 Jah­ren auf ei­nem Schul­ge­län­de die­ser In­sel Hun­der­te Kin­der, Frau­en und Grei­se be­deck­te und un­kennt­lich mach­te.“ Die Na­tur ver­gisst nichts und ver­bin­det die Ge­gen­wart mit der Vergangenheit.

Han Kang, Unmöglicher Abschied, übers. v. Ki-Hyang Lee, Aufbau Verlag 2024

Ich schreibe, um hart zu werden“

Anita Brookner schreibt in „Seht mich an“ präzise und herausragend über die Einsamkeit

Das all­ge­mei­ne Pu­bli­kum kennt uns kaum, was auch nicht un­be­dingt un­ser Wunsch wä­re. Wir be­sor­gen viel­mehr das Ma­te­ri­al für un­se­ren ei­ge­nen wis­sen­schaft­li­chen Mit­ar­bei­ter­stab, für aus­wär­ti­ge Fach­kol­le­gen und für die ge­le­gent­li­chen, sehr sel­te­nen Be­su­cher. Im Au­gen­blick kön­nen wir nur mit dem Er­schei­nen von Mrs. Hall­oran und Dr. Simek rech­nen. Mrs. Hall­oran ist ei­ne et­was wild drein­bli­cken­de Da­me mit ei­ner täu­schen­den Au­ra von Au­to­ri­tät, die be­haup­tet, in Kon­takt mit der über­ir­di­schen Welt zu ste­hen, und die sich be­müht, ih­re Theo­rie zu be­wei­sen, dass die meis­ten An­oma­lien im mensch­li­chen Ver­hal­ten dem Ein­fluss des Sa­turn zu­zu­schrei­ben sind. Sol­che Grenz­fäl­le be­geg­nen ei­nem sehr häu­fig in Bi­blio­the­ken. Dr. Simek ist ein un­ge­mein zu­rück­hal­ten­der Tsche­che oder Po­le (wir sind uns nicht ganz si­cher, was von bei­den, und wir mei­nen, dass es auch nicht un­se­re Sa­che ist, dem nach­zu­for­schen). An­hand ei­ner Rei­he klei­ner Kar­tei­kar­ten ar­bei­tet er über die Ge­schich­te von De­pres­sio­nen oder, wie man frü­her sag­te, der Me­lan­cho­lie. Er kommt je­den Tag. Bei­de kom­men je­den Tag, und zwar, wie ich ver­mu­te, haupt­säch­lich des­halb, weil die Bi­blio­thek so gut ge­heizt ist.“

Wer je län­ge­re Zeit in ei­ner wis­sen­schaft­li­chen Bi­blio­thek saß, hat­te ne­ben der Fach­li­te­ra­tur bis­wei­len Ge­le­gen­heit, die Le­ser an den an­de­ren Ti­schen zu stu­die­ren. De­ren skur­ri­le Ei­gen­hei­ten, die über die Wahl des Plat­zes und der An­ord­nung der Uten­si­li­en oft hin­aus­gin­gen, wa­ren stets will­kom­me­ne Ab­len­kung. Ge­mein­sam wid­me­ten sie sich ih­ren Lek­tü­ren, sie ar­bei­ten oft ne­ben­ein­an­der und auf­grund der Schwei­ge­pflicht kon­takt­los. Die­se not­wen­di­ge Ein­sam­keit setzt sich bei der Ich-Er­zäh­le­rin in Ani­ta Brook­ners Ro­man „Seht mich an“ au­ßer­halb der Bi­blio­thek fort. Sie ist nicht die ein­zi­ge Fi­gur, die die­sem Ge­fühl aus­ge­setzt ist. Ein­sam­keit ist das stärks­te Mo­tiv die­ses Ro­mans, Brook­ner va­ri­iert es viel­fäl­tig und schafft da­durch Sze­nen, die an die Bild­wel­ten Ich schrei­be, um hart zu wer­den““ weiterlesen

Der Mensch träumt oft vom Ort, aus dem er floh

In „Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt“ erzählt Usama Al Shahmani vom Erinnern und Suchen

In ei­nem Baum ent­deckt er klei­ne Vö­gel, die sich stumm zwi­schen den Äs­ten be­we­gen, dann flie­gen sie ei­ner nach dem an­de­ren zum nächs­ten. Sie sind die ein­zi­ge Be­we­gung in der kal­ten Win­ter­land­schaft. Von Baum zu Baum ver­las­sen sie ih­ren Schat­ten in den Äs­ten und ver­schwin­den all­mäh­lich in der Fer­ne. Wie ver­stän­di­gen sie sich? Wo­hin sind sie unterwegs?“

Vö­gel spie­len ei­ne be­son­de­re Rol­le in Usa­ma Al Sh­ah­ma­nis neu­em Ro­man. Sei es der Riff­rei­her, den die Ira­ker Gar­nuk, Vo­gel des Glücks, nen­nen, oder Tat­ua, der Vo­gel des Un­glücks, oder sei­en es die klei­nen Vö­gel auf ei­nem Baum in der Schweiz. Laut dem Ti­tel „Der Vo­gel zwei­felt nicht am Ort, zu dem er fliegt“ wis­sen sie ge­nau, wo­hin sie zie­hen wer­den, wenn der Wech­sel der Jah­res­zei­ten be­vor­steht. Ihr ge­ne­ti­scher Kom­pass ist un­fehl­bar. Er wird ih­nen al­ler­dings zum Ver­häng­nis, wenn der Mensch ih­re Le­bens­be­din­gun­gen in den Ziel­ge­bie­ten zer­stört. Als Bei­spiel er­in­nert Al Sh­ah­ma­ni an „Der Mensch träumt oft vom Ort, aus dem er floh“ weiterlesen

Die Jungfrau Maria von Sidcup

Clare Chambers unterhält in ihrem Roman „Kleine Freuden“ mit erwartbaren wie unerwarteten Wendungen

Klei­ne Freu­den — die ers­te Zi­ga­ret­te des Ta­ges, ein Glas Sher­ry vor dem Mit­tag­essen am Sonn­tag, ei­ne Ta­fel Scho­ko­la­de, so auf­ge­teilt, dass sie ei­ne Wo­che hielt, ein neu er­schie­ne­nes Buch aus der Bi­blio­thek, noch un­be­rührt und ma­kel­los, die ers­ten Hya­zin­then des Früh­lings, ein sau­ber ge­fal­te­ter Sta­pel Bü­gel­wä­sche, der Ge­ruch des Som­mers, der Gar­ten im Schnee, ein Brief­pa­pier-Spon­tan­kauf für ih­re Schub­la­de – das al­les war be­le­bend ge­nug gewesen.“

Klei­ne Freu­den, so der Ti­tel von Cham­bers Ro­man, emp­fin­det die Jour­na­lis­tin Jean eben­so, wenn sie in ih­rer Ko­lum­ne die skur­ri­len Tipps der Le­se­rin­nen ver­öf­fent­licht. Jean lebt mit ih­rer Mut­ter in Hayes na­he Lon­don und ar­bei­tet als ein­zi­ge weib­li­che Re­por­te­rin in der Re­dak­ti­on des an­säs­si­gen Lo­kal­blatts „The Kent Echo“. Im Jahr 1957, der Hand­lungs­zeit des Ro­mans, sind die Rol­len klar ver­teilt. Ne­ben den Haus­halts-Ko­lum­nen fal­len der Jour­na­lis­tin stets die weib­li­chen The­men zu, so auch als ei­nes Ta­ges ein be­son­de­rer Le­ser­brief die Zei­tung erreicht.

Er stammt von Gret­chen Til­bu­ry und be­zieht sich auf ei­nen we­ni­ge Ta­ge zu­vor er­schie­ne­nen Be­richt über Par­the­no­ge­nese bei Tie­ren. Die Le­se­rin be­haup­tet, sie sei oh­ne männ­li­che Mit­wir­kung schwan­ger ge­wor­den. Soll­te sich „Die Jung­frau Ma­ria von Sid­cup“ weiterlesen

Von Verlust und Vertrauen

In „Dankbarkeiten“ erzählt Delphine de Vigan mit zärtlicher Zuneigung von Verlust und Freundschaft

Es dau­ert nicht mehr lan­ge bis zum En­de, das weißt du, Ma­rie. Ich mei­ne das En­de des Ver­stands, der ist dann futsch und al­le Wör­ter ver­flo­gen. Wann mit dem Kör­per Schluss ist, weiß man na­tür­lich nicht, aber es hat an­ge­fan­gen, mit dem Ver­stand zu En­de zu gehen.“

Wer je er­lebt hat, wie ein al­ter Mensch Ab­schied von sei­ner Woh­nung nimmt und in ein Heim ein­zieht, für den wird „Dank­bar­kei­ten“ von Del­phi­ne de Vi­gan ei­ne sehr be­we­gen­de Lek­tü­re sein. Vol­ler Em­pa­thie und den­noch mit kla­ren Wor­ten schil­dert die Au­torin, wie ih­re Prot­ago­nis­tin Misch­ka, ei­ne al­lein­le­ben­de, selbst­be­wuss­te Frau, ih­re Un­ab­hän­gig­keit ge­gen stän­dig prä­sen­te Un­ter­stüt­zung ein­tauscht. Ver­trau­te Be­glei­ter ih­res neu­en Le­bens sind Ma­rie und Jé­ro­me, die ne­ben Misch­ka die Er­zähl­stim­men des klei­nen Ro­mans bilden.

Die jun­ge Ma­rie fand als ver­nach­läs­sig­tes Kind Hil­fe und Für­sor­ge bei Misch­ka, ih­rer da­ma­li­gen Nach­ba­rin. Die Bin­dung der Bei­den blieb über die Jah­re be­stehen. So ist es auch Ma­rie, die in­for­miert wird, als Misch­ka hilf­los „Von Ver­lust und Ver­trau­en“ weiterlesen

Alte Freundinnen

Charlotte Wood konfrontiert in „Ein Wochenende“ drei Freundinnen mit sich selbst und ihrer in die Jahre gekommenen Freundschaft

So wür­den die Ta­ge oh­ne Syl­vie al­so sein, mit die­ser Di­stanz zwi­schen ih­nen, die sich aus­wei­te­te und ver­tief­te. Sie blieb ste­hen und be­ob­ach­te­te, wie der Ab­stand zu den bei­den an­de­ren im­mer grö­ßer wur­de. Auch sie gin­gen nicht ge­mein­sam. Bis jetzt hat­te sie nie dar­über nach­ge­dacht, dass sich das aus­ge­lei­er­te Gum­mi­band ih­rer Freund­schaft ei­nes Ta­ges auf­lö­sen könn­te. Es schien un­mög­lich. Aber et­was To­tes hat­te sich in ih­re Ge­füh­le für­ein­an­der ein­ge­schli­chen und schien sich auszudehnen.“

Die meis­ten Men­schen ha­ben ei­ne Hand­voll en­ger Freun­de, oft so­gar we­ni­ger. Al­les, was die Zahl drei über­steigt, so scheint es, sprengt den Rah­men. Oft er­wei­sen sich die un­ter­schied­li­chen Ei­gen­ar­ten, Vor­lie­ben, kurz die Per­sön­lich­kei­ten der Freun­de als Stör­fak­tor. Dies zeigt sich bei ge­mein­sa­men Un­ter­neh­mun­gen. Und was macht erst das Al­ter dar­aus? Die lan­gen Jah­re des Le­bens? Die zu­neh­men­de Starrköpfigkeit?

Von ei­ner der­ar­ti­gen Ge­menge­la­ge er­zählt der neue Ro­man der aus­tra­li­schen Au­torin Char­lot­te Wood. Mit sei­nen knapp 300 Sei­ten hat er die rich­ti­ge Län­ge, um sei­ne Le­se­rin­nen wie sei­ne Le­ser — auch wenn im Buch be­haup­tet wird, daß Män­ner kaum „Al­te Freun­din­nen“ weiterlesen

Dichter-Dogge

Sigrid Nunez komponiert in „Der Freund“ Eigenes und Fremdes zu einem Buch über Schriftsteller und ihr Schreiben

Aber auf die­sen Sei­ten fin­det sich vie­les, von dem ich nie je­man­dem er­zählt ha­be. Es ist selt­sam, wie der Akt des Schrei­bens zu Ge­ständ­nis­sen führt. Nicht, dass es nicht auch da­zu führt, das Blaue vom Him­mel herunterzulügen.“

Man­chem Le­ser mag beim Blick auf das Buch un­wohl wer­den, wenn auch nicht so sehr wie mei­nem Freund. Mit Schre­cken denkt die­ser dar­an zu­rück, wie ein paar mun­te­re Er­wach­se­ne, al­len vor­an sei­ne El­tern, ihn auf den Rü­cken ei­nes rie­si­gen Hun­des hiev­ten. Das Ge­schrei des Drei­jäh­ri­gen war groß, das Reit­tier blieb je­doch ge­las­sen. Es war ei­ne Dog­ge, und da die Ge­schich­te im süd­li­chen Skan­di­na­vi­en spiel­te, ei­ne dä­ni­sche, auch wenn, wie Sig­rid Nunez in ih­rem Ro­man „Der Freund“ er­klärt, die­se Ras­se als deutsch be­zeich­net wird. Ob der sanf­te Rie­se von da­mals, wie der Hund im Ro­man ei­ne Har­le­kin­dog­ge mit schwar­zen Fle­cken auf wei­ßem Fell  war, ist nicht mehr im Ge­dächt­nis. Ge­blie­ben ist je­doch die Pho­bie. Mein Freund wür­de al­so nie­mals das tun, was in Nunez‘ Buch ge­schieht, ei­nen hin­ter­las­se­nen Hund aufnehmen.

Sig­rid Nunez‘ Ich-Er­zäh­le­rin, wie die­se Schrift­stel­le­rin und Do­zen­tin für Krea­ti­ves Schrei­ben, steht zu­nächst wi­der­wil­lig die­sem Er­be ge­gen­über, nach­dem ihr bes­ter Freund den Tod ge­wählt hat. Noch wäh­rend sie trau­ert und nach Ant­wor­ten sucht, er­hält sie die Bot­schaft, daß „Dich­ter-Dog­ge“ weiterlesen

Das Tagebuch aus Márais „Die Glut“

In „Hallgatás“ versucht Ursula Pecinska die Fragen aus Márais „Der Glut“ zu beantworten

pecinskaUn­ver­ständ­lich bleibt mir Dein Schwei­gen, Hen­rik! Ich aber kann nicht län­ger schwei­gen. Ich bre­che heu­te mein Ge­lüb­de und wer­de ein lan­ge ge­hü­te­tes Ge­heim­nis preisgeben.“

Seit 1999 Sán­dor Má­rais Ro­man „Die Glut“ für den deutsch­spra­chi­gen Buch­markt wie­der ent­deckt wur­de, über­zeugt er durch sein span­nen­des Kon­strukt und psy­cho­lo­gi­sche Tie­fe. Un­zäh­li­ge Le­ser sind be­geis­tert, wo­von zahl­rei­che Auf­la­gen und Über­set­zun­gen kün­den. „Die Glut“ gilt heu­te mit Recht als Klas­si­ker der eu­ro­päi­schen Literatur.

Die Schwei­zer Schrift­stel­le­rin Ur­su­la Pecinska reg­te er so­gar zu ei­nem ei­ge­nen Ro­man an. Sie will Sán­dors Werk nicht nur er­gän­zen, son­dern das Ge­heim­nis sei­ner Vor­la­ge of­fen­ba­ren. „Hall­ga­tás“, be­nannt nach dem un­ga­ri­sche Wort für Schwei­gen, ist –so Pecins­kas Fik­ti­on- „Das Ta­ge­buch der Krisz­ti­na“. Das, wie wir uns er­in­nern, am En­de von Má­rais Ro­man un­ge­le­sen in der Glut landet.

Ver­lo­ren ist da­mit die Ant­wort dar­auf, was den Bund zwi­schen dem Paar Hen­rik und Krisz­ti­na und dem Freund Kon­rád aus­ein­an­der spreng­te. War Hen­riks Ver­dacht, Kon­rad wol­le „Das Ta­ge­buch aus Má­rais „Die Glut““ weiterlesen

Sushi-Murakami — Das innere Wesen

2. Kapitel

Ei­gent­lich war es nur ein Ge­dan­ke, der ver­schie­de­ne For­men annahm“.Foto
Auch das zwei­te Ka­pi­tel er­zählt vom Bruch der Freund­schaft und Tsu­ku­rus ver­geb­li­chen Ver­su­chen Grün­de da­für zu er­fah­ren. Es va­ri­iert die alt­be­kann­te Ge­schich­te und be­rei­chert sie um we­ni­ge Details.

Am En­de des zwei­ten Se­mes­ters kehr­te Tsu­ku nach Na­go­ya heim, doch sei­ne An­ru­fe bei den Freun­den blie­ben oh­ne Ant­wort. Dass hier et­was nicht stimmt, ist je­dem klar, auch den­je­ni­gen Le­sern, die das ers­te Ka­pi­tel nicht ken­nen. Trotz­dem bringt der Er­zäh­ler die­se Er­kennt­nis aufs Pa­pier und der Held fragt zum wie­der­hol­ten Ma­le nach dem War­um. Nach Ta­gen er­geb­nis­lo­ser Grü­be­lei mel­det sich end­lich ei­ner der Freun­de. Er teilt Tsu­ku­ru mit, daß sie den Kon­takt zu ihm ab­bre­chen, den Grund ken­ne er schon.

Wie wir wis­sen, weiß er es nicht. Wir wis­sen nur, die­ses Ge­heim­nis ist „Su­shi-Mu­ra­ka­mi — Das in­ne­re We­sen“ weiterlesen

Sushi-Murakami — Das magische Auge

FotoMan­che Lek­tü­re scheint schwie­rig, soll aber doch ge­le­sen wer­den. Die Pil­ger­jah­re des farb­lo­sen Herrn Ta­za­ki von Ha­ru­ki Mu­ra­ka­mi ist ein sol­cher Fall. Nicht, daß ich dies schon ge­nau wüss­te. Wie auch, er liegt ja noch fast un­ge­le­sen vor mir. Das muss sich än­dern. Nach und nach wer­de ich nun je­den Tag ein klei­nes Su­shi-Mu­ra­ka­mi kosten.

 

 1. Kapitel

Tsu­ku­ru Ta­za­ki denkt an den Tod. Ab­ge­se­hen von der schö­nen Al­li­te­ra­ti­on, die im Ori­gi­nal si­cher nicht gilt und dar­um so­fort wie­der ver­ges­sen wer­den muss, ist das na­tür­lich ein fa­mo­ser Ro­man­ein­stieg. Der Le­ser soll­te sich al­ler­dings nicht be­un­ru­hi­gen. Kein Ha­ra­ki­ri oder Ha­ra­ki­ri­ähn­li­ches wird fol­gen, auch wenn die­ser Schritt „so leicht für ihn ge­we­sen wä­re, wie ein ro­hes Ei zu schlu­cken“.

Ko­mi­scher Ver­gleich, ein ro­hes Ei hat im­mer­hin ei­ne Scha­le, und das be­rühm­te „Su­shi-Mu­ra­ka­mi — Das ma­gi­sche Au­ge“ weiterlesen