Willkommen im Auenland“

Markus Thielemann erzählt in „Von Norden rollt ein Donner” auf spannende Weise über die Ambivalenz eines vermeintlichen Idylls

Un­ten drän­gen sich die Tie­re an­ein­an­der. He­ra und Kasch, die bei­den Hüte­hun­de, um­krei­sen den Pulk. Jan­nes blickt hin­un­ter, die Be­we­gun­gen er­in­nern ihn an Bil­der aus ei­ner Do­ku­men­ta­ti­on über den Welt­raum. Wie Mon­de oder Pla­ne­ten krei­sen sie um die Her­de, das Zen­trum des Alls. Und dann schweift er ab: er hat sei­nen ei­ge­nen dunk­len Wan­de­rer, ei­nen Ge­dan­ken, der seit Ta­gen kommt und geht auf el­lip­ti­scher Bahn, des­sen Gra­vi­ta­ti­on drückt und lähmt, bis ihn die Flieh­kraft ein­mal mehr zu­rück in die Nacht schleu­dert: Pa­pa geht zum Arzt.“

Die Welt, in der Jan­nes kreist, ist ei­ne be­grenz­te. Es ist die Hei­de süd­lich von Lü­ne­burg, in der er mit den Schnu­cken des Fa­mi­li­en­be­triebs um­her­zieht. Fa­mi­lie und Tra­di­ti­on ma­chen ihn zum Schä­fer in die­ser ver­meint­lich idyl­li­schen Land­schaft. Ei­ne Su­che nach der ei­ge­nen Iden­ti­tät, wie sie sei­ne Al­ters­ge­nos­sen un­ter­neh­men, ist un­ter die­sen Um­stän­den nicht nur nicht nö­tig, son­dern un­mög­lich. Das Le­ben scheint vor­ge­zeich­net für den 19-jäh­ri­gen Prot­ago­nis­ten in „Von Nor­den rollt ein Don­ner“, dem zwei­ten und für den dies­jäh­ri­gen Deut­schen Buch­preis no­mi­nier­ten Ro­man des jun­gen Au­tors Mar­kus Thie­le­mann.

Auch wenn der Ti­tel, wie die ört­li­chen Ge­ge­ben­hei­ten und der Ver­lauf der Ge­schich­te zei­gen, in dop­pel­ter Wei­se deut­bar ist, er­zeugt er zu­nächst ei­nen star­ken Be­zug zur Na­tur. Die Na­tur be­stimmt den Be­ruf des Schä­fers, in­dem sie mit Wet­ter und Jah­res­zei­ten den Rhyth­mus dik­tiert. Jan­nes und sei­ne Her­de sind ab­hän­gig von der Flo­ra, dem Ge­dei­hen der Fut­ter­pflan­zen, wie von der Fau­na, die sich im Wohl der Schnu­cken und im Ge­schick der Hüte­hun­de of­fen­bart und mit dem Wolf de­ren Ha­bi­tat be­droht. Jan­nes ist ihm schon bei­na­he be­geg­net. „Der Bo­den in der Sen­ke ist feucht und von Klau­en­spu­ren ver­tre­ten. Er be­trach­tet das Ge­wirr im Sand zu lan­ge und ent­deckt et­was, das ihn be­un­ru­higt: Ab­drü­cke, die nicht von den Klau­en der Schnu­cken stam­men, son­dern von Pfoten.“

Nicht nur dies be­rei­tet dem Fa­mi­li­en­be­trieb Un­bill, der vom knap­pen Ver­dienst ei­nen teu­ren Zaun ge­gen das Raub­tier er­rich­ten muss. Jan­nes‘ Ad­op­tiv-Va­ter be­lau­ert all­nächt­lich das Tier, nicht drau­ßen, son­dern in den Fo­ren, die Sich­tun­gen und Spu­ren mel­den. Sein Ver­hal­ten lei­det dar­un­ter. „Wie sein Va­ter ver­gisst, dass er die Tie­re ge­zählt hat, wie er es im­mer wie­der tut, wie er Zah­len aus­lässt, wie er wahn­sin­nig wird, weil es nie auf­geht, wie in sei­nem In­ne­ren der Ge­dan­ke gärt, dass ein Tier fehlt. Was dann pas­siert, hat Jan­nes erst zwei­mal mit­er­lebt. Sein Va­ter ver­wan­delt sich zu ei­nem an­de­ren Mann. Er wird her­risch, mit wild auf­ge­ris­se­nen Au­gen und zu lau­ter Stim­me. Als wür­de sein Kör­per je­de Angst so­fort in Wut um­wan­deln.“ Oder hat dies doch neu­ro­lo­gi­sche Grün­de? Dar­über spricht man nicht in die­ser vier­köp­fi­gen Fa­mi­lie, die mit Groß­va­ter und Mut­ter auch sämt­li­che Be­triebs­mit­ar­bei­ter um­fasst. Die Groß­mutter lebt seit Jah­ren de­ment im Heim, Jan­nes‘ Schwes­ter ihr ei­ge­nes Le­ben in der Ferne.

Jan­nes bleibt. Es gibt Mo­men­te, in de­nen er die Ar­beit mit den Scha­fen, das Drau­ßen­sein, die Na­tur, die Stil­le schätzt. Aber oft ge­nug, wenn er, nach ei­nem lan­gen Tag mit der Her­de selbst wie ei­nes die­ser Tie­re riecht, fühlt er sich wie „der an­ge­bun­de­ne Bock, der hier am Ran­de sei­ner Wei­de steht und nicht wei­ter­kann“. Der Ver­lust sei­ner Ju­gend, dem der sei­ner Freun­de zu fol­gen droht, bricht sich auf ei­ner Dorf-Par­ty Bahn. Jan­nes fällt in ei­nen psy­chi­schen Aus­nah­me­zu­stand, ver­ur­sacht durch Al­ko­hol und mehr noch durch Druck. Die­se An­fäl­le, in de­nen sein Be­wusst­sein von Vi­sio­nen über­la­gert wird, häu­fen sich. Sie kon­fron­tie­ren ihn mit Ge­scheh­nis­sen, die schließ­lich zu der Na­zi-Ver­gan­gen­heit sei­ner Groß­el­tern füh­ren. Die­se ist ver­knüpft mit der Ge­schich­te der Lü­ne­bur­ger Hei­de, zum Idyll ver­klärt von Her­mann Löns und in­stru­men­ta­li­siert durch die Na­zis. Die­se lie­ßen nicht nur durch Groß­grund­be­sit­zer die­se ver­meint­lich „ur­deut­sche“ Land­schaft öko­no­misch ge­winn­brin­gend prä­gen. Sie er­rich­te­ten mit­ten in ih­rem Idyll Ver­nich­tungs­la­ger wie Ber­gen-Bel­sen. Ei­ne Am­bi­va­lenz, die der Ro­man auch in den ak­tu­el­len Ge­ge­ben­hei­ten spie­gelt. Wan­de­rer su­chen na­tur­ver­bun­de­ne Hei­de-Ro­man­tik, wäh­rend von den nah­ge­le­ge­nen Trup­pen­übungs­plät­zen der Ge­fechts­don­ner grollt. Und seit neu­es­ten macht sich nicht nur der Wolf in die­ser dünn be­sie­del­ten Ge­gend breit, son­dern auch Neo­na­zis und Reichsbürger.

Thie­le­mann dringt im Lau­fe sei­nes Ro­mans von der Ge­gen­wart in die Ver­gan­gen­heit vor und deckt auf die­se Wei­se Hin­ter­grün­de auf, die sich oft als Ge­gen­sät­ze ent­pup­pen. Er nutzt da­bei das Mit­tel der wir­ren Er­in­ne­run­gen, die in den Re­den der de­men­ten Groß­mutter eben­so zu Ta­ge tre­ten wie in den Vi­sio­nen ih­res En­kels. Mit dem Fort­schrei­ten der Ge­schich­te ge­win­nen sie je­doch zu­neh­mend an Klar­heit. So grün­det der ehr­wür­di­ge Fa­mi­li­en­be­trieb auf der Un­tat des Groß­va­ters, das deut­sche Hei­de-Idyll auf der Ver­klä­rung des völ­kisch-na­tio­na­lis­ti­schen Dich­ters Löns. Die Fa­mi­li­en­tra­di­ti­on kon­ter­ka­riert die Zu­kunft der Haupt­fi­gur, die in den Ar­beits­la­gern pro­du­zier­te Welt­kriegs-Mu­ni­ti­on die der heu­te dort statt­fin­den­den Trup­pen­übun­gen. Der Wolf hin­ge­gen bricht eben­so wie sein mensch­li­ches Pen­dant, der Neo­na­zi-Nach­bar, als mah­nen­des Grau­en in das Ge­sche­hen. „Ho­mo ho­mi­ni lu­pus est“ zeigt sich in den Schuld- und Ver­drän­gungs­mo­ti­ven die­ses Ro­mans wie­der ein­mal zu Recht.

Thie­le­mann ge­lingt es die­se schwe­ren The­men mit ei­ner sen­si­blen Sen­so­rik zu er­zäh­len. Die­se macht sich nicht nur in de­tail- wie stim­mungs­rei­chen Na­tur­be­schrei­bun­gen be­merk­bar, son­dern auch in der Art, wie er mit Mit­teln der Spra­che Tö­ne, Ge­rü­che, Ge­schmä­cker und Emp­fin­dun­gen zum Le­ben er­weckt. „Wäh­rend er sich vom Stall ent­fernt, ver­schwin­det der Ma­schi­nen­duft von Rost und Schwer­öl aus sei­ner Na­se, weicht dem her­ben Ge­ruch des Jauchetanks und des Mist­hau­fens, auf dem sich fei­ne Dampf­fä­den kräu­seln, bis hin­ter Jan­nes die Stall­be­leuch­tung wie­der aus­geht. Wei­ter Rich­tung Wohn­haus hängt ein Hauch Zwie­bel im Hof, ver­mischt mit ge­düns­te­ter But­ter. Das Es­sen sei­ner Mut­ter, denkt er.“

Wäh­rend dies ganz klar zum Aus­druck kommt, bleibt an­de­res be­wusst im Un­ge­fäh­ren. Aus Angst und fal­scher Rück­sicht­nah­me spricht in die­ser Fa­mi­lie kei­ner über die Krank­heit des Va­ters, über die Ver­gan­gen­heit, über die wirt­schaft­li­che Not des Be­triebs, letzt­lich über ih­rer al­ler Zu­kunft. Die­se Un­ein­deu­tig­keit und ih­re Über­tra­gung auf den Wolf als äu­ße­res Un­heil, das sie ver­eint, ver­leiht dem Ro­man ei­ne ste­te Grund­span­nung, die Thie­le­mann durch die mys­te­riö­sen Zu­stän­de der Haupt­fi­gur zu ver­stär­ken weiß. Jan­nes‘ An­fäl­le ho­len die Ver­gan­gen­heit in die Ge­gen­wart und klä­ren die Ver­hält­nis­se auf.
„Er hat sich nie be­wußt ge­macht, wie bruch­stück­haft er sei­ne Groß­el­tern kennt.“

Markus Thielemann, Von Norden rollt ein Donner, C. H. Beck Verlag 2024

Verdrängung

Julie von Kessel erzählt in „Die anderen sind das weite Meer“ filmreif und mit psychologischem Gespür von der späten Annäherung einer Familie

Ne­ben dem Schrank hing ein Bild, das Lu­ka vor vier­zig Jah­ren ge­malt hat­te: Drei Kin­der und zwei Er­wach­se­ne wa­ren dar­auf zu se­hen, die gan­ze Fa­mi­lie Cra­mer, von der win­zi­gen Ele­na bis zu Ma­ria mit den gro­ßen brau­nen Krin­geln auf dem Kopf. Tom be­trach­te­te es, zum ers­ten Mal fiel ihm auf, dass sie al­le Ber­ge be­stie­gen, doch je­des Fa­mi­li­en­mit­glied er­klomm sei­nen ei­ge­nen Hügel.“

Wenn El­tern äl­ter wer­den, se­hen sich Kin­der oft mit Her­aus­for­de­run­gen kon­fron­tiert. Es meh­ren sich Krank­hei­ten, wie die per­sön­lich­keits­ver­än­dern­de De­menz, die die Be­zie­hun­gen auf den Kopf stel­len. Das gilt be­son­ders für die Kon­stel­la­ti­on von Ge­schwis­tern. Man wohnt ent­fernt und sieht sich sel­ten. Wer küm­mert sich, wenn der Va­ter oder die Mut­ter Hil­fe be­nö­ti­gen? Der Not­wen­dig­keit zu han­deln steht das Ab­schie­ben von Ver­ant­wor­tung ent­ge­gen. Kon­flik­te schei­nen unvermeidlich.

So er­geht es Lu­ka, Tom und Ele­na, als sie er­fah­ren, daß ihr Va­ter zu­neh­mend de­ment wird und in der Nach­bar­schaft her­um­irrt. Hans war einst als Bot­schaf­ter des Aus­wär­ti­gen Amts in Me­xi­ko. Dort lern­te er „Ver­drän­gung“ weiterlesen

Transzendentale Trauer

Steve Rasnic Tem verfolgt in „Das langsame Fallen von Staub an einem ruhigen Ort“ bedrückend-fantastische Wege in das Empfinden des Subjekts

Wie vie­le Le­ben, wie vie­le Lei­chen, wie vie­le Er­in­ne­run­gen, wie viel Schmerz pass­ten in ei­ne Welt? Viel­leicht war sie ei­nes Ta­ges voll und sie muss­ten ge­hen, an­statt auf ei­nem Fried­hof zu leben?“

 Wie fühlt es sich an, ein­sam zu sein? Alt zu wer­den? Krank zu wer­den? Zu ster­ben? Es be­ginnt da­mit, daß man kaum mehr den Staub be­wäl­ti­gen kann, der sich un­wei­ger­lich auf Bü­chern wie im ei­ge­nen Ge­hirn fest­setzt und peu à peu al­les un­ter sich be­gräbt. Als ei­ne Art Chro­nik die­ses na­tür­li­chen Vor­gangs, dem wir al­le ent­ge­gen se­hen, las­sen sich die Kurz­ge­schich­ten in „Das lang­sa­me Fal­len von Staub an ei­nem ru­hi­gen Ort“ von Ste­ve Ras­nic Tem le­sen. Der ame­ri­ka­ni­sche Ge­gen­warts­au­tor Tem, 1950 in Vir­gi­nia ge­bo­ren, hat wie sein Über­setz­ter Ger­rit Wust­mann im Nach­wort dar­legt, zahl­rei­che Ro­ma­ne und Kurz­ge­schich­ten ver­öf­fent­licht. Ei­ne deut­sche Über­set­zung stand bis­her aus, die nun der Li­te­ra­tur Qui­ckie Ver­lag in ei­ner Aus­wahl vor­legt. Tems Tex­te ste­hen in der Nach­fol­ge von Franz Kaf­ka, Ray Brad­bur­ry und  Ray­mond Car­ter und zei­gen sur­rea­le Ele­men­te, Weird-Fic­tion und Horror.

Auch in die­sen Kurz­ge­schich­ten fin­den sich Spu­ren von grau­en­vol­ler und ver­rück­ter Phan­ta­sie. Sie stei­gert sich von Ge­schich­te zu Ge­schich­te. Was in der Ers­ten noch als trau­ri­ge Rea­li­tät er­scheint, wird in der Nächs­ten zu „Tran­szen­den­ta­le Trau­er“ weiterlesen

Liebe und Schmerz

Itō Hiromi erzählt in „Dornauszieher“ von den ambivalenten Gefühlen eines alternden Ichs

Mut­ters Qual. Va­ters Qual. Ehe­manns Qual.
Ein­sam­keit, Angst, Frustration.
Die­se Qua­len be­fal­len mich zwar, aber neu­er­dings quä­len sie mich nicht wirk­lich. All die Qua­len, mit de­nen ich mich her­um­schla­ge, so wur­de mir klar, sind ja mein Stoff. Ich bin da­mit be­schäf­tigt, die­se Qua­len zu fi­xie­ren und von ih­nen zu er­zäh­len, und in­dem ich von ih­nen er­zäh­le, ver­ges­se ich die Qua­len, ist das nicht doch der Se­gen von Ji­zō, dem Dornauszieher?“

Dorn­aus­zie­her“, der Ti­tel des Ro­mans der Ja­pa­ne­rin Itō Hi­ro­mi, weckt bei mir die As­so­zia­ti­on zu ei­ner be­rühm­ten Skulp­tur der An­ti­ke. Mei­ne west­li­che, durch Vor­lie­ben ge­präg­te Ver­knüp­fung liegt der von Itō in­ten­dier­ten Fi­gur räum­lich wie my­tho­lo­gisch ziem­lich fern. Sie denkt an den im Un­ter­ti­tel ge­nann­ten Ji­zō von Su­ga­mo, ei­nen Gott, an den sich der Gläu­bi­ge wen­det, um ei­ne Pla­ge los­zu­wer­den. Ich den­ke an den Jüng­ling, der ei­nen Dorn aus sei­nem Fuß zieht. Bei­den ge­mein­sam ist der Schmerz, der zu­gleich als Haupt­mo­tiv des Ro­mans ge­se­hen wer­den kann.

Hi­ro­mi Itō oder bes­ser Itō Hi­ro­mi, ge­mäß der ja­pa­ni­schen Na­mens­fol­ge, wur­de 1955 in To­kyo ge­bo­ren. Eben­so wich­tig wie die kor­rek­te Stel­lung des Vor- und Nach­na­mens, die be­wusst für die Haupt­fi­gur des Ro­mans ge­tauscht wur­de, ist die Be­to­nung. Die west­li­che Ge­wohn­heit, die zwei­te Sil­be her­vor­zu­he­ben, bringt Hi­ro­mi be­son­ders auf die Pal­me, wenn ihr eng­li­scher Ehe­mann dies nicht be­herrscht. Die­se und an­de­re, schmerz­vol­le­re „Lie­be und Schmerz“ weiterlesen

Von Verlust und Vertrauen

In „Dankbarkeiten“ erzählt Delphine de Vigan mit zärtlicher Zuneigung von Verlust und Freundschaft

Es dau­ert nicht mehr lan­ge bis zum En­de, das weißt du, Ma­rie. Ich mei­ne das En­de des Ver­stands, der ist dann futsch und al­le Wör­ter ver­flo­gen. Wann mit dem Kör­per Schluss ist, weiß man na­tür­lich nicht, aber es hat an­ge­fan­gen, mit dem Ver­stand zu En­de zu gehen.“

Wer je er­lebt hat, wie ein al­ter Mensch Ab­schied von sei­ner Woh­nung nimmt und in ein Heim ein­zieht, für den wird „Dank­bar­kei­ten“ von Del­phi­ne de Vi­gan ei­ne sehr be­we­gen­de Lek­tü­re sein. Vol­ler Em­pa­thie und den­noch mit kla­ren Wor­ten schil­dert die Au­torin, wie ih­re Prot­ago­nis­tin Misch­ka, ei­ne al­lein­le­ben­de, selbst­be­wuss­te Frau, ih­re Un­ab­hän­gig­keit ge­gen stän­dig prä­sen­te Un­ter­stüt­zung ein­tauscht. Ver­trau­te Be­glei­ter ih­res neu­en Le­bens sind Ma­rie und Jé­ro­me, die ne­ben Misch­ka die Er­zähl­stim­men des klei­nen Ro­mans bilden.

Die jun­ge Ma­rie fand als ver­nach­läs­sig­tes Kind Hil­fe und Für­sor­ge bei Misch­ka, ih­rer da­ma­li­gen Nach­ba­rin. Die Bin­dung der Bei­den blieb über die Jah­re be­stehen. So ist es auch Ma­rie, die in­for­miert wird, als Misch­ka hilf­los „Von Ver­lust und Ver­trau­en“ weiterlesen

Vom Sohn zum Freund

David Wagner erzählt in „Der vergessliche Riese“ die Geschichte einer intensiven Vater-Sohn-Begegnung

Sei­ne Stim­me ist die von frü­her, sie hat sich kaum ver­än­dert. Sie klingt noch im­mer so, als sa­ge er nur klu­ge Sa­chen. Frü­her, im selt­sa­men Frü­her, wo liegt die­ses ge­heim­nis­vol­le Land, wuss­te er al­les. Er war der Rie­se, auf den ich klet­tern konn­te, er war der Größte.“

Wie Pe­ter Wolff so er­zählt auch Da­vid Wag­ner in sei­nem neu­en Buch „Der ver­gess­li­che Rie­se“ von der De­menz ei­nes El­tern­teils. Auch er setzt auf Dia­lo­ge, mit de­nen er die neue Welt sei­nes Va­ters für den Le­ser er­leb­bar macht. Der Schrift­stel­ler ver­zich­tet weit­ge­hend auf ei­ge­ne Re­fle­xio­nen, an­ders als sein Kol­le­ge Ar­no Gei­ger, der vor acht Jah­ren mit „Der al­te Kö­nig in sei­nem Exil“ ein be­ein­dru­cken­des Buch über sei­nen am Ver­ges­sen lei­den­den Va­ter ver­fass­te. Doch Wag­ners voll­kom­men an­de­re Form, in der nur knap­pe Hand­lungs­se­quen­zen die Dia­lo­ge un­ter­bre­chen, eig­net sich gut, um die de­men­zi­el­len Sym­pto­me zu er­fas­sen, die trotz al­ler Trau­er durch ih­re Ab­sur­di­tät auch Hu­mor aus­lö­sen können.

In­wie­weit Wag­ners Va­ter-Ge­schich­ten fik­tio­na­li­siert sind, be­ant­wor­te­te er in ei­nem In­ter­view auf dem Blau­en Buch­mes­se-So­fa ein­deu­tig un­ein­deu­tig. Die Ge­sprä­che mö­gen nicht „Vom Sohn zum Freund“ weiterlesen

Im Rückblick wird so manches klar

In „Frau Wolff wird wunderlich“ erzählt Peter Wolff, wie Demenz eine Beziehung neu begründet

Wir müs­sen stark sein für sie, auch wenn wir sel­ber von Ge­füh­len der Trau­er, der Hilf­lo­sig­keit und der Angst, den wei­te­ren Ver­lauf der Krank­heit be­tref­fend, ge­plagt sind.“

Vie­le Men­schen mei­ner Ge­ne­ra­ti­on ha­ben An­ge­hö­ri­ge, die von De­menz be­trof­fen sind. Auch wenn die ge­nau­en Dia­gno­sen und die Aus­prä­gun­gen ver­schie­den sein mö­gen, so ist den Be­trof­fe­nen ei­nes ge­mein­sam, der Ver­lust der Er­in­ne­run­gen und die dar­aus re­sul­tie­ren­den Pro­ble­me, sich in der Ge­gen­wart zu ver­or­ten. „Ich weiß gar nicht mehr, wo ich ei­gent­lich hin­ge­hö­re“, die­ser Satz mei­ner Mut­ter zeigt, wel­che Not dies aus­zu­lö­sen ver­mag. Ei­ne Not, die ein Ver­hal­ten zur Fol­ge hat, mit dem die An­ge­hö­ri­gen erst ein­mal zu­recht­kom­men müs­sen. Manch­mal hilft es dar­über zu schrei­ben, um die­sen Pro­zess der Ver­än­de­rung beim Be­trof­fe­nen wie bei sich selbst zu reflektieren.

Ähn­lich mag der An­trieb von Pe­ter Wolff ge­we­sen sein, der mit „Frau Wolff wird wun­der­lich“ ein per­sön­li­ches Buch über die Krank­heit sei­ner Mut­ter vor­legt. Man könn­te dies mo­ra­lisch in Fra­ge stel­len, zu­mal auch Fo­to­gra­fien von Frau Wolff ge­zeigt wer­den. Ihr Sohn hat al­ler­dings, wie er „Im Rück­blick wird so man­ches klar“ weiterlesen

Frauenliebe – Apfeltriebe

Literaturkreis 07/2010 — Spielarten des Vergessens in Katharina Hagenas Der Geschmack von Apfelkernen

Er­in­nern und Ver­ges­sen sind die Haupt­mo­ti­ve die­ser Fa­mi­li­en­ge­schich­te, die in dem idyl­li­schen, aber fik­ti­ven Ort Boots­ha­ven, in ei­nem al­ten ver­win­kel­ten Bau­ern­haus, un­ter Ap­fel­bäu­men und an ei­nem schwar­zen See spielt.

Am An­fang steht der Tod, der ak­tu­el­le der Groß­mutter Ber­tha, den die Prot­ago­nis­tin Iris in den Hei­mat­ort ih­rer Vor­fah­ren führt, der zu frü­he Tod von Bert­has Schwes­ter An­na und der erst zwölf Jah­re zu­rück­lie­gen­de ih­rer Cou­si­ne, des­sen Ur­sa­che sich dem Le­ser erst am En­de des Ro­mans erschließt.

Die Tes­ta­ments­er­öff­nung of­fen­bart Iris über­ra­schen­der­wei­se die Erb­schaft des Haus. Spon­tan be­schließt sie ei­ni­ge Ta­ge im Ort zu blei­ben. Sie quar­tiert sich not­dürf­tig in das seit ei­ni­gen Jah­ren leer ste­hen­de Haus ein und er­in­nert sich. An ih­re dor­ti­gen Fe­ri­en­auf­ent­hal­te als Kind, an die Spie­le mit ih­ren Cou­si­nen, an den Gar­ten, an des­sen Früch­te und Ge­heim­nis­se, an die vie­len Tü­ren des Hau­ses und „Frau­en­lie­be – Ap­fel­trie­be“ weiterlesen