David Wagner erzählt in „Der vergessliche Riese“ die Geschichte einer intensiven Vater-Sohn-Begegnung
„Seine Stimme ist die von früher, sie hat sich kaum verändert. Sie klingt noch immer so, als sage er nur kluge Sachen. Früher, im seltsamen Früher, wo liegt dieses geheimnisvolle Land, wusste er alles. Er war der Riese, auf den ich klettern konnte, er war der Größte.“
Wie Peter Wolff so erzählt auch David Wagner in seinem neuen Buch „Der vergessliche Riese“ von der Demenz eines Elternteils. Auch er setzt auf Dialoge, mit denen er die neue Welt seines Vaters für den Leser erlebbar macht. Der Schriftsteller verzichtet weitgehend auf eigene Reflexionen, anders als sein Kollege Arno Geiger, der vor acht Jahren mit „Der alte König in seinem Exil“ ein beeindruckendes Buch über seinen am Vergessen leidenden Vater verfasste. Doch Wagners vollkommen andere Form, in der nur knappe Handlungssequenzen die Dialoge unterbrechen, eignet sich gut, um die demenziellen Symptome zu erfassen, die trotz aller Trauer durch ihre Absurdität auch Humor auslösen können.
Inwieweit Wagners Vater-Geschichten fiktionalisiert sind, beantwortete er in einem Interview auf dem Blauen Buchmesse-Sofa eindeutig uneindeutig. Die Gespräche mögen nicht exakt so stattgefunden haben, wie sie im Buch zu lesen sind. Orte und Familienmitglieder treten jedoch mit Klarnamen auf. Als Material dienten Wagner Notizen, die er über einen Zeitraum von mehreren Jahren bei seinen Besuchen beim Vater gemacht hatte.
Diese Besuche bilden das Gerüst der Geschichte. Sie beginnt wenige Monate nach dem Tod der Ehefrau des Vaters. Der Erzähler sowie seine beiden Schwestern, Kinder aus erster Ehe, kümmern sich um diesen. Die regelmäßigen Besuche sind aufwendig. Der Vater wohnt bei Bonn, die Kinder in Berlin und München. Sein Sohn nutzt viele Gelegenheiten, um ein paar Tage mit ihm zu verbringen, seien es Feiertage, Ferien oder Zwischenstopps. Einige Male ergeben sich auch kurze Reisen zu den Beerdigungen der älteren Geschwister des Vaters.
Während dieser Aufenthalte gibt es viel zu tun für David, den der Vater stets „Freund“ nennt. Dem Verschwinden der Erinnerungen müssen auch Dinge folgen, um dem begrenzter werdenden Leben nicht im Weg zu stehen. Da sind zunächst die Sachen der verstorbenen Frau, dann der fast neue, viel zu große Zweitwagen, schließlich das Haus, die große Glasvilla im kleinen Ort Meckenheim.
Der Vater schafft den Alltag alleine nicht mehr. Rund-um-die Uhr-Betreuerinnen aus Ost-Europa ziehen zu ihm und wechseln sich regelmäßig ab. Schließlich siedeln die Kinder ihn um in ein Pflegeheim. Für den gut situierten Herrn wurde eine Villa am Rhein mit Drachenfelsblick und guter Küche gefunden.
Erstaunlich ist, daß dies alles weitgehend ohne Konflikte und größere Irritationen gelingt. Doch vielleicht wollte David Wagner dies auch nicht offenbaren. Die einzigen Irritationen und Reflektionen des Erzählers gelten Umweltsünden, SUVs, Autowaschanlagen, Gewächshausblumen, was die Leserin wiederum irritiert.
Die Schwierigkeiten, welche die neuen Verhältnisse mit sich bringen, zeigt Wagner in seinem Buch dennoch deutlich. Er spricht sie nicht direkt an, seine Gedanken spielen im Buch kaum eine Rolle, doch er verschweigt sie auch nicht. In handlungsstarken Szenen macht er den Leser zum stillen Begleiter, der den Unterhaltungen von Vater und Sohn folgt. In diesen knüpft der Sohn am liebsten an alte Erinnerungen und begegnet so dem alten Ich des Vaters. Er besucht mit ihm die Stätten der Vergangenheit, den Geburtsort des Vaters, das Zuhause der ersten Familie, das Gebäude, in dem der Vater sein Büro hatte. Wagner zeigt aber auch, welche Blüten das zerfallende Kurzzeitgedächtnis treibt. Immer wieder stellt der Vater dieselben Fragen, oft innerhalb kürzester Zeiträume, und erzählt dieselben Geschichten. Doch er überrascht auch durch philosophische Betrachtungen und spontane Entschlüsse.
Wagner gelingt es, im Miteinander dieses Paares die Zuneigung und das gegenseitige Verständnis füreinander zu zeigen. Die Empathie des Sohnes und das Vertrauen des Vaters ergeben sich im Dialog. Dadurch wirkt „Der vergessliche Riese“ wie ein Drehbuch, das sich hervorragend zu einer Verfilmung eignen würde.
Bis dahin empfiehlt sich seine Lektüre um die Veränderungen nachzuempfinden, die Demenz in Betroffenen und Angehörigen verursachen kann.