Gehen und Verstehen

Andreas Schäfers „Die Schuhe meines Vaters“ ist Trauerritual und Totengesang zugleich

Ge­den­ken oh­ne Wor­te. Er­in­nern­der Ab­schied durch Wie­der­ho­lung von Hand­grif­fen und Ge­wohn­hei­ten. Ist es nicht so, als wür­de man da­bei in die Leer­form hin­ein­schlüp­fen, die der Ver­stor­be­ne hin­ter­las­sen hat?

Ich hat­te das Be­dürf­nis, We­ge des Va­ters in sei­nem Na­men zu ge­hen, in Grie­chen­land, dort wo er in den letz­ten Jah­ren sei­nes Le­bens viel­leicht am glück­lichs­ten war.“

Schu­he spie­len in die­sem Buch in zwei­fa­cher Hin­sicht ei­ne Rol­le. Zum ei­nen er­in­nern sie an die Ein­sicht, man sol­le nicht über ei­nen an­de­ren ur­tei­len, be­vor man ei­ne Wei­le in des­sen Schu­hen ge­lau­fen ist. Zum an­de­ren han­delt „Die Schu­he mei­nes Va­ters“ ganz kon­kret von den Ex­em­pla­ren, die der Sohn, An­dre­as Schä­fer, nach dem Tod sei­nes Va­ters aus dem Kran­ken­haus mit­ge­nom­men hat. Der rea­le und der über­tra­ge­ne Aspekt zei­gen sich in die­sem Er­in­ne­rungs­buch auf viel­fäl­ti­ge Wei­se, in Rück­bli­cken auf die Per­son des Va­ters, auf sei­ne Bio­gra­fie, sei­ne Prä­gun­gen und ins­be­son­de­re „Ge­hen und Ver­ste­hen“ weiterlesen

Von Vätern und Söhnen

Daniel Mendelsohn verbindet in „Eine Odyssee. Mein Vater, ein Epos und ich” die sensible Suche nach dem Vater mit einer unterhaltsamen Einführung in das berühmte Epos

Die Odys­see selbst be­wegt sich durch die Zeit in der glei­chen ge­wun­de­nen Wei­se, wie sich Odys­seus durch den Raum bewegt.“

Wie die bei­den zu­vor be­spro­che­nen Bü­cher han­delt es sich auch bei „Ei­ne Odys­see“ von Da­ni­el Men­dels­ohn um ein Va­ter­buch. „Mein Va­ter, ein Epos und ich“, so der Un­ter­ti­tel, wur­de je­doch nicht von mir ge­wählt, son­dern von un­se­rem Li­te­ra­tur­kreis. Be­reut ha­be ich es nicht, was ich nicht von je­der un­se­rer Lek­tü­ren be­haup­ten kann. Nicht nur mir, auch den an­de­ren Teil­neh­mern, zu­min­dest den An­we­sen­den, hat Men­dels­ohns „Odys­see“ sehr gut gefallen.

Vor­der­grün­dig er­zählt der Alt­phi­lo­lo­ge und Uni-Do­zent Da­ni­el Men­dels­ohn von ei­nem Odys­see-Se­mi­nar und dem Wunsch sei­nes Va­ters Jay dar­an teil­zu­neh­men. Im Lau­fe der Ge­schich­te wird das Se­mi­nar für Va­ter und Sohn zum An­lass und Ve­hi­kel über Ge­mein­sa­mes nach­zu­den­ken. Mit dem Epos als Schatz­kar­te gräbt Men­dels­ohn in der Ver­gan­gen­heit und bringt Ge­schich­ten zu Ta­ge, die er mit den Er­eig­nis­sen der Odys­see in Ver­bin­dung bringt.

Schon beim Auf­bau sei­nes Buchs dient ihm das Epos als Vor­bild. Wie in die­sem und an­de­ren Epen der An­ti­ke steht zu Be­ginn das Pro­ömi­um, wel­ches die wich­tigs­ten „Von Vä­tern und Söh­nen“ weiterlesen

Vom Sohn zum Freund

David Wagner erzählt in „Der vergessliche Riese“ die Geschichte einer intensiven Vater-Sohn-Begegnung

Sei­ne Stim­me ist die von frü­her, sie hat sich kaum ver­än­dert. Sie klingt noch im­mer so, als sa­ge er nur klu­ge Sa­chen. Frü­her, im selt­sa­men Frü­her, wo liegt die­ses ge­heim­nis­vol­le Land, wuss­te er al­les. Er war der Rie­se, auf den ich klet­tern konn­te, er war der Größte.“

Wie Pe­ter Wolff so er­zählt auch Da­vid Wag­ner in sei­nem neu­en Buch „Der ver­gess­li­che Rie­se“ von der De­menz ei­nes El­tern­teils. Auch er setzt auf Dia­lo­ge, mit de­nen er die neue Welt sei­nes Va­ters für den Le­ser er­leb­bar macht. Der Schrift­stel­ler ver­zich­tet weit­ge­hend auf ei­ge­ne Re­fle­xio­nen, an­ders als sein Kol­le­ge Ar­no Gei­ger, der vor acht Jah­ren mit „Der al­te Kö­nig in sei­nem Exil“ ein be­ein­dru­cken­des Buch über sei­nen am Ver­ges­sen lei­den­den Va­ter ver­fass­te. Doch Wag­ners voll­kom­men an­de­re Form, in der nur knap­pe Hand­lungs­se­quen­zen die Dia­lo­ge un­ter­bre­chen, eig­net sich gut, um die de­men­zi­el­len Sym­pto­me zu er­fas­sen, die trotz al­ler Trau­er durch ih­re Ab­sur­di­tät auch Hu­mor aus­lö­sen können.

In­wie­weit Wag­ners Va­ter-Ge­schich­ten fik­tio­na­li­siert sind, be­ant­wor­te­te er in ei­nem In­ter­view auf dem Blau­en Buch­mes­se-So­fa ein­deu­tig un­ein­deu­tig. Die Ge­sprä­che mö­gen nicht „Vom Sohn zum Freund“ weiterlesen

Im Rückblick wird so manches klar

In „Frau Wolff wird wunderlich“ erzählt Peter Wolff, wie Demenz eine Beziehung neu begründet

Wir müs­sen stark sein für sie, auch wenn wir sel­ber von Ge­füh­len der Trau­er, der Hilf­lo­sig­keit und der Angst, den wei­te­ren Ver­lauf der Krank­heit be­tref­fend, ge­plagt sind.“

Vie­le Men­schen mei­ner Ge­ne­ra­ti­on ha­ben An­ge­hö­ri­ge, die von De­menz be­trof­fen sind. Auch wenn die ge­nau­en Dia­gno­sen und die Aus­prä­gun­gen ver­schie­den sein mö­gen, so ist den Be­trof­fe­nen ei­nes ge­mein­sam, der Ver­lust der Er­in­ne­run­gen und die dar­aus re­sul­tie­ren­den Pro­ble­me, sich in der Ge­gen­wart zu ver­or­ten. „Ich weiß gar nicht mehr, wo ich ei­gent­lich hin­ge­hö­re“, die­ser Satz mei­ner Mut­ter zeigt, wel­che Not dies aus­zu­lö­sen ver­mag. Ei­ne Not, die ein Ver­hal­ten zur Fol­ge hat, mit dem die An­ge­hö­ri­gen erst ein­mal zu­recht­kom­men müs­sen. Manch­mal hilft es dar­über zu schrei­ben, um die­sen Pro­zess der Ver­än­de­rung beim Be­trof­fe­nen wie bei sich selbst zu reflektieren.

Ähn­lich mag der An­trieb von Pe­ter Wolff ge­we­sen sein, der mit „Frau Wolff wird wun­der­lich“ ein per­sön­li­ches Buch über die Krank­heit sei­ner Mut­ter vor­legt. Man könn­te dies mo­ra­lisch in Fra­ge stel­len, zu­mal auch Fo­to­gra­fien von Frau Wolff ge­zeigt wer­den. Ihr Sohn hat al­ler­dings, wie er „Im Rück­blick wird so man­ches klar“ weiterlesen

Flitzschwebend occupiert

In Lincoln im Bardo schlüpft Saunders innovative Erzähltechnik in die sensible, selbstkritische Seele des Präsidenten

Bleibt, be­schwor ich. Er ist nicht un­er­reich­bar für Eu­re Hil­fe. Ganz und gar nicht. Ihr könnt noch viel Gu­tes für ihn tun. Ihr könnt jetzt so­gar hilf­rei­cher für ihn sein als je­mals an je­nem vor­ma­li­gen Ort.

Denn sei­ne Ewig­keit hängt in der Schwe­be, Sir. Wenn er bleibt, ist das Elend, das ihn über­wäl­ti­gen wird, jen­seits Eu­rer Vorstellungskraft.“

Ein­fach be­trach­tet han­delt es sich bei Ge­or­ge Saun­ders Ro­man um ein hoch­emo­tio­na­les Buch. Es um­schreibt die Trau­er ei­nes Va­ters, der sei­nen Sohn ge­ra­de zu Gra­be ge­tra­gen hat. 11 Jah­re war die­ser alt, als er der Di­ph­te­rie er­lag. Es ist das Jahr 1862, der To­te heißt Wil­liam, sein Va­ter Abra­ham Lin­coln. Mit­ten im Ame­ri­ka­ni­schen Bür­ger­krieg ver­liert Lin­coln sei­nen Lieb­lings­sohn. Er be­stat­tet ihn in ei­ner der Gruft in George­town, doch Ru­he fin­den sie bei­de nicht, denn Geis­ter um­schwir­ren sie. Die­se ver­ken­nen ih­ren Zu­stand und hän­gen im Bar­do fest, ei­nem Schwe­be­zu­stand zwi­schen tot und ganz tot oder zwi­schen Nir­wa­na und Wie­der­ge­burt, wenn man bei dem von Saun­ders ge­wähl­ten Be­griff aus der ti­be­ta­ni­schen My­tho­lo­gie bleibt.

Die Ge­stal­ten tum­meln sich um Wil­lie, sie sind dem Kna­ben zu­ge­wandt, des­sen Geist rat­los und ver­las­sen auf sei­ner „Kran­ken­kis­te“ sitzt. Der Va­ter kehrt in der Nacht nach der Be­er­di­gung zum Fried­hof zu­rück, auch er kann Wil­lies Zu­stand nicht ak­zep­tie­ren. Er be­freit den Kör­per sei­nes Soh­nes aus „Flitz­schwe­bend oc­cu­p­iert“ weiterlesen

Deutsche Frauen sind ein Problem“

Georg M. Oswald schickt in der spannungs- wie klischeegeladenen Geschichte „Alle, die du liebst“ einen alternden Anwalt nach Afrika

Al­le, die du liebst“ lau­tet der Ti­tel des im ver­gan­ge­nen Jahr er­schie­ne­nen Ro­mans von Ge­org M. Os­wald. Doch an­ders als er ver­mu­ten lässt, han­delt es sich um ein aus­ge­spro­che­nes „Män­ner­buch“. Aus die­sem Grund hat Mann es für un­se­ren Li­te­ra­tur­kreis ge­wählt. Der Ver­ant­wort­li­che fand sein Ge­schlecht in un­se­ren letz­ten Lek­tü­ren nur un­zu­rei­chend ver­tre­ten, auch wenn ein Blick auf un­se­re Le­se­lis­te die­se Aus­sa­ge nur be­dingt zu­lässt. Wem al­so Lüschers oder Es­pe­dals Hel­den zu ab­ge­ho­ben er­schei­nen, den er­war­tet laut Klap­pen­text in die­sem Ro­man ei­ne „poin­tier­te Aus­ein­an­der­set­zung zwi­schen Va­ter und Sohn, die Ge­org M. Os­wald auf klu­ge und er­zäh­le­risch mit­rei­ßen­de Wei­se da­zu nutzt, wie durch ein Brenn­glas auf un­se­re west­eu­ro­päi­sche Be­find­lich­keit zu schau­en“.

Im Mit­tel­punkt der Ge­schich­te steht der al­tern­de An­walt Hart­mut Wil­ke. Er ha­dert mit sei­nem Le­ben, sei­nen Ir­run­gen und Wir­run­gen. Da­zu zäh­len die Schei­dung von sei­ner lang­jäh­ri­gen Ehe­frau, die er zu spät als sei­ne wah­re, gro­ße Lie­be er­kennt, die Ent­frem­dung von den in­zwi­schen er­wach­se­nen Kin­dern, sei­ne zu jun­ge Ge­lieb­te, de­ren An­sprü­chen er nicht zu ge­nü­gen fürch­tet, so­wie die Steu­er­af­fä­re sei­ner Kanzlei.

Am drin­gends­ten drückt ihn die Di­stanz zu sei­nem Sohn. Seit des­sen Kind­heit war das Ver­hält­nis schwie­rig, seit der Tren­nung steht Erik end­gül­tig auf der Sei­te sei­ner Mut­ter. Wil­ke pla­gen Schuld­ge­füh­le, was sich üb­ri­gens als per­ma­nen­te Ge­fühls­la­ge durch den Ro­man zieht. So er­greift er Deut­sche Frau­en sind ein Pro­blem““ weiterlesen

Muttimania

Frühe Störung — Hans-Ulrich Treichels ironische Analyse einer ambivalenten Beziehung

frühe störungIch hät­te mich in un­end­li­che Ge­dan­ken­spie­le ver­stri­cken kön­nen, muss­te aber ir­gend­wann ein­se­hen, dass das Kern­pro­blem die­ses gan­zen in­ne­ren Hin und Her mei­ne Mut­ter war. Die Fer­ne, nach der ich mich sehn­te, war vor al­lem die Mut­ter­fer­ne. Und die Fer­ne, vor der ich mich fürch­te­te, war die­sel­be Mutterferne.“

Die Mut­ter­bin­dung ist bei Neu­ge­bo­re­nen es­sen­ti­ell, sie ga­ran­tiert das Über­le­ben. Der Mensch, von Na­tur aus kein Nest­flücht­ling, löst sich erst all­mäh­lich dar­aus um mit be­gin­nen­der Ado­les­zenz ein selbst­be­stimm­tes Le­ben zu führen.

Doch Be­zie­hun­gen sind stör­an­fäl­lig, be­son­ders die zwi­schen Mut­ter und Sohn. Sie lei­den nicht sel­ten an zu viel In­nig­keit und zu we­nig Distanz.

Ob Mam­mo­ne oder Mut­ter­söhn­chen, je­der kennt sol­che Fäl­le. In sei­nem neu­en Ro­man „Frü­he Stö­rung er­teilt Hans-Ul­rich Trei­chel ei­nem sol­chen das Wort. Franz Wal­ter, Aka­de­mi­ker mit dem pre­kä­ren Be­ruf des Rei­se­schrift­stel­lers, wohnt längst nicht „Mut­ti­ma­nia“ weiterlesen

Metamorphosen im Moor

Gunther Geltinger transformiert in Moor die Griechische Tragödie

Du sinkst au­gen­blick­lich ein. Spürst un­ter dir die trä­ge Last der me­ter­di­cken Torf­schwäm­me, den schwe­ren, fet­ten Leib, der dich um­armt. Ich schlie­ße dich ein, in Was­ser, in Er­de oder ein Ge­men­ge aus bei­dem: feuch­te Kru­me, zä­her Wur­zel­filz, ver­zweig­te Adern über halb­ver­rot­te­ten Äs­ten wie Kno­chen, dar­un­ter das Herz der Tie­fe, brei­ig, kalt pul­sie­rend, noch vor zwei­hun­dert Jah­ren fürch­te­ten mich die Fenn­dor­fer als schwar­zes, schlei­mi­ges Tier, das un­ter den Häu­sern lebt und ih­re Kin­der verschlingt.“

Mit dem Moor ver­bin­den wir Ge­heim­nis und Ge­fahr. Die Ge­dan­ken an Moor­lei­chen, Zeu­gen längst ver­gan­ge­ner Ri­tua­le, ma­chen ei­ne Wan­de­rung über den Knüp­pel­damm zu ei­nem un­heim­li­chen Aben­teu­er. Was, wenn man vom Weg ab­kommt und ver­sinkt? Muss man ver­mo­dern, wenn man sich nicht am ei­ge­nen Schopf wie­der her­aus zie­hen kann? Doch das Moor birgt nicht nur Un­heim­li­ches, es bie­tet Schutz, be­son­ders den Le­be­we­sen, die in der Zi­vi­li­sa­ti­on kei­nen Platz finden.

In die­sem Bio­top le­ben die Li­bel­len, die Be­glei­ter Di­ons, des 13-jäh­ri­gen stot­tern­den Prot­ago­nis­ten in Gun­ther Gel­tin­gers neu­em Ro­man Moor. Das Moor ist nicht nur Di­ons Hei­mat, es ist „Me­ta­mor­pho­sen im Moor“ weiterlesen