Flitzschwebend occupiert

In Lincoln im Bardo schlüpft Saunders innovative Erzähltechnik in die sensible, selbstkritische Seele des Präsidenten

Bleibt, be­schwor ich. Er ist nicht un­er­reich­bar für Eu­re Hil­fe. Ganz und gar nicht. Ihr könnt noch viel Gu­tes für ihn tun. Ihr könnt jetzt so­gar hilf­rei­cher für ihn sein als je­mals an je­nem vor­ma­li­gen Ort.

Denn sei­ne Ewig­keit hängt in der Schwe­be, Sir. Wenn er bleibt, ist das Elend, das ihn über­wäl­ti­gen wird, jen­seits Eu­rer Vorstellungskraft.“

Ein­fach be­trach­tet han­delt es sich bei Ge­or­ge Saun­ders Ro­man um ein hoch­emo­tio­na­les Buch. Es um­schreibt die Trau­er ei­nes Va­ters, der sei­nen Sohn ge­ra­de zu Gra­be ge­tra­gen hat. 11 Jah­re war die­ser alt, als er der Di­ph­te­rie er­lag. Es ist das Jahr 1862, der To­te heißt Wil­liam, sein Va­ter Abra­ham Lin­coln. Mit­ten im Ame­ri­ka­ni­schen Bür­ger­krieg ver­liert Lin­coln sei­nen Lieb­lings­sohn. Er be­stat­tet ihn in ei­ner der Gruft in George­town, doch Ru­he fin­den sie bei­de nicht, denn Geis­ter um­schwir­ren sie. Die­se ver­ken­nen ih­ren Zu­stand und hän­gen im Bar­do fest, ei­nem Schwe­be­zu­stand zwi­schen tot und ganz tot oder zwi­schen Nir­wa­na und Wie­der­ge­burt, wenn man bei dem von Saun­ders ge­wähl­ten Be­griff aus der ti­be­ta­ni­schen My­tho­lo­gie bleibt.

Die Ge­stal­ten tum­meln sich um Wil­lie, sie sind dem Kna­ben zu­ge­wandt, des­sen Geist rat­los und ver­las­sen auf sei­ner „Kran­ken­kis­te“ sitzt. Der Va­ter kehrt in der Nacht nach der Be­er­di­gung zum Fried­hof zu­rück, auch er kann Wil­lies Zu­stand nicht ak­zep­tie­ren. Er be­freit den Kör­per sei­nes Soh­nes aus dem Sarg und hält ihn vol­ler Trau­er im Arm. Die Iko­no­gra­phie der Pie­tà ist unverkennbar.

Pie­tà er­fasst auch den Le­ser und trägt, so selt­sam die­ser Zu­sam­men­hang auch klin­gen mag, da­zu bei, die Span­nung zu stei­gern. Wünscht man doch den schwe­ben­den See­len den Bar­do ver­las­sen zu kön­nen und dem Va­ter Frieden.

Doch „Lin­coln im Bar­do“ zeich­net sich nicht nur durch Ge­fühl und Span­nung aus. Der Ro­man be­sticht auch durch sei­ne au­ßer­ge­wöhn­li­che Mach­art, die 2017 mit dem Man Boo­ker Pri­ze aus­ge­zeich­net wur­de und uns Le­sern ein un­ge­wöhn­li­ches Le­se­er­leb­nis schenkt. Saun­ders kom­bi­niert den Wech­sel­ge­sang viel­fäl­ti­ger Stim­men mit ‑zum Teil auch fik­ti­ven- Quel­len, Li­te­ra­tur­aus­zü­gen und Be­rich­ten zum his­to­ri­schen Hintergrund.

Die Stim­men ge­hö­ren aus­schließ­lich den Geis­tern, auch Lin­coln spricht durch sie und hin­ter­fragt selbst­kri­tisch sei­ne Rol­le im Bür­ger­krieg. Ne­ben Wil­lie füh­ren drei Män­ner das Wort. Ih­re To­des­um­stän­de kün­den von Saun­ders skur­ri­lem Witz. Auch dies macht die Lek­tü­re reiz­voll. So hö­ren wir von Hans Voll­mann, der das Glück hat­te trotz Al­ter und Aus­se­hen ei­ne jun­ge, hüb­sche Frau zu hei­ra­ten. Rück­sichts­voll war­te­te er mit dem Voll­zug der Ehe bis auch sei­ne Frau da­zu be­reit war. Da wur­de er un­ter Dach von ei­nem her­ab­rau­schen­den Stän­der er­schla­gen und schwebt nun im Bar­do un­er­löst selbst mit ei­nem sol­chen herum.

Der zwei­te, Ro­ger Be­vins III, ein schwu­ler jun­ge Mann, hat sich aus Lie­bes­kum­mer das Le­ben ge­nom­men, vor­ei­lig wie er lei­der zu spät fest­stell­te. Im Zwi­schen­reich geis­tert er mit ei­ner Viel­zahl von Au­gen, Oh­ren und Na­sen hoch­sen­si­bel über­sinn­lich herum.

Der drit­te Haupt­kom­men­ta­tor Re­ver­end Ever­ly Tho­mas fügt als Got­tes­mann dem Ge­sche­hen ei­ne ei­ge­ne In­ter­pre­ta­ti­on hin­zu. Er fürch­tet das Par­ti­ku­lar­ge­richt, wo die See­len­waa­ge sein ir­di­sches Tun in Gut und Bö­se ab­wägt, und ihn ein Höl­len­trei­ben er­war­tet, wie es Dan­te nicht dras­ti­scher hät­te be­schrei­ben können.

Da­zu ge­sel­len sich die Stim­men an­de­rer Geis­ter, durch die Saun­ders ei­nen Ein­blick in die Ge­sell­schaft George­towns über die Jahr­hun­der­te hin­weg ge­währt. Es spre­chen Skla­ven und Skla­ven­trei­ber, Wit­wen aus dem Bür­ger­tum wie Säu­fer vom un­te­ren Rand. Al­le lei­den an ei­ner un­ge­tilg­ten Schmach, die sie am end­gül­ti­gen Los­las­sen hin­dert. Sie er­zäh­len da­von eben­so wie sie das Drum­her­um kom­men­tie­ren, meist in we­ni­gen Zei­len, sel­te­ner in mehr als ei­ner Sei­te. Doch je wei­ter die Ge­schich­te vor­an­schrei­tet, um­so mehr rückt Wil­lie in das Zen­trum ih­res In­ter­es­ses. Das Un­glück die­ses Kin­des, das sei­ne Ru­he nicht fin­den kann, ver­eint die Un­to­ten, so dis­pa­rat sie sich im Le­ben auch emp­fun­den ha­ben. Beim Be­mü­hen, den Jun­gen ins To­ten­reich zu ge­lei­ten, wer­den sie zu ver­ein­ten Ge­hil­fen und hel­fen schluss­end­lich auch sich selbst.

Ge­or­ge Saun­ders un­ge­wöhn­li­cher und über­aus le­sens­wer­ter Ro­man ge­währt auf mit­rei­ßen­de Wei­se tie­fe Ein­bli­cke in Ge­fühl und Ge­schich­te nicht nur der ame­ri­ka­ni­schen Seele.

George Saunders, Lincoln im Bardo, Luchterhand Verlag 2018

 

Im Roman finden sich zahlreiche Zitate aus zeitgenössischen Quellen und der Sekundärliteratur, teilweise aus Quellensammlungen wie The Physical Lincoln Sourcebook:

Elizabeth Keckley, Hinter den Kulissen oder Dreißig Jahre als Sklavin und vier Jahre im Weißen Haus (1868)

Margaret Leech, Reveille in Washington, 1860–1865 (1942)

Dorothy Meserve Kunhardt u. Philip B. Kunhardt jr., Zwanzig Tage (1965)

Margaret Garrett, All dies habe ich gesehen. Erinnerungen an eine schlimme Zeit

David Von Drehle, Aufstieg zur Größe (2012)

Jo Brunt, Die Festung der Union. Erinnerungen und Eindrücke

Albert Sloane, Briefe

E. G. Frame, Eine aufregende Jugend. Heranwachsen im Bürgerkrieg

Daniel Mark Epstein, Die Lincolns. Porträt einer Ehe (2004)

Petersen Wickett, Unsere Hausptstadt in Zeiten des Krieges

Stanley Kimmel, Mr. Lincolns Washington

Kate O’Brian in: Geschichte zum Greifen nah, hrsg. von Renard Kent

Edwine Willow, Ausgewählte Briefe aus dem Bürgerkrieg, hrsg. von Constance Mays

Melvine Carter, Das gesellschaftliche Leben im Bürgerkrieg. Faxen, Metzeleien, Verwüstungen (unveröffentlichtes Manuskript)

Ann Brighney, Ein Jahr voll Krieg und Verlust

Bernadette Evon, Soirees im Weißen Haus. Eine Anthologie

Dolores P. Leventrop, Mein Leben

I. B. Brigg III, Eine dahingegangene Zeit (unveröffentlichte Memoiren)

Albert Trundle, Jene freudvollsten Jahre

D. V. Featherly, Die Mächte Washingtons

Abigail Service, Erinnerungen einer Mutter

Barbara Smith-Hill, Gesammelte Briefe aus dem Kriege, hrsg. von Thomas Schofield u. Edward Mann

Washington zu Kriegszeiten. Die Bürgerkriegsbriefe der Isabelle Perkins, hrsg. von Nash Perkins

Doris Kearns Goodwin, Ein Team aus Rivalen. Abraham Lincolns politische Genie (2005)

John G. Nicolay, Mit Lincoln im Weißen Haus, hrsg. von Michael Burlingham

Bericht des Hausmädchens Sophie Lennox, in: Augenzeugen der Geschichte. Das Weiße Haus unter Lincoln, hrsg. von Stone Hilyard

Ruth Painter Randall, Lincolns Söhne (1955)

Tyron Philian, Rechenschaft ablegen. Die Memoiren eines Eingeweihten in schwierigen Zeiten

Rose Milland, Essay über den Verlust eines Kindes

James Morgan, Abraham Lincoln, der Junge und der Mann (1908)

Julia Taft Bayne, Tad Lincolns Vater (1931)

Phineas D. Gurley, Grabrede für Willie Lincoln, im Illinois State Journal

Laura Searing, alias Howard Glyndon, Die Wahrheit über Mrs. Lincoln

Carol Dreiser, Sie kannten die jungen Lincolns

Opal Stragner, Die kleinen Männer des Präsidenten

Simon Iverness, Lincolns verlorener Engel

Jason Timm, Was noch richtigzustellen ist. Erinnerungen, Irrtum und Ausflüchte, Journal of American History

Daniel Brower, Diese Schlachterinnerungen

Marshall Turnbull, Der große Krieg, wie ihn seine Krieger beschrieben

Die Bürgerkriegsjahre. Eine tägliche Chronik vom Leben einer Nation, hrsg. von Robert E. Denny

Briefe eines Soldaten aus Illinois, hrsg. von Sam Westfall

Briefe vom Lande an Präsident Lincoln, hrsg. von Josephine Banner u. Evelyn Dressmann

C. R. DePage, Lincoln spirituell. Eine Reise zum Wesentlichen

Jayne Coster, Prüfung einer Mutter. Mrs. Lincoln und der Bürgerkrieg

Kevin Swarney, Neuerfindung einer Südstaatenschönheit. Der Weg der Mary Lincoln

James R. Gilmore, Persönliche Erinnerungen an Abraham Lincoln und den Bürgerkrieg (1864)

Isaac N. Arnold, Abraham Lincolns Leben (1885)

Lloyd Ostendorf, Lincolns Fotos. Ein ganzes Album

Marquis de Chambrun, Ein Franzose bei den Lincolns (1864)

Herndons Informanten, hrsg. von Douglas L. Wilson u. Rodney O. Davis (1865)

F. B. Carpenter, Ein halbes Jahr im Weißen Haus. Die Geschichte eines Gemäldes (1866)

John S. Barnes, Mit Lincoln von Washington nach Richmond im Jahr 1865

Joshua Wolf Shenk, Lincolns Melancholie. Wie die Depression einen Präsidenten forderte und seine Größe befeuerte (2005)

Donn Piatt, Der Mensch Lincoln (1887)

Katherine Helm, Die wahre Geschichte von Mary, Lincolns Frau (1928)

Nathaniel Hawthorne, Über den Krieg, vor allem (1862)

Charles A. Dana, Erinnerungen an den Bürgerkrieg (1909)

Abraham M. Gordon, Abraham Lincoln. Eine medizinische Einschätzung (1962)

Prinzessin Felix Salm-Salm, Zehn Jahre meines Lebens (1775)

Edward J. Kempf, Abraham Lincolns Philosophie des gesunden Menschenverstands (1965)

Francis F. Browne, Das Alltagsleben von Abraham Lincoln (1886)

Clark E. Carr, Meine Zeit, meine Generation (1908)

Frederick Hill Meserve u. Carl Sandburg, Die Fotografien von Abraham Lincoln (1944)

David Herbert Donald, Lincoln (1996)

W. A. Croffut, Lincolns Washington. Erinnerungen eines Journalisten, der jeden kannte

Sam Hume. Briefe, hrsg. von Crystal Barnes

Lilian Foster, Beiläufige Blicke gen Norden und Süden

Allen Thorndike Rice, Erinnerungen an Abraham Lincoln aus dem Munde vornehmer Zeitgenossen (1888)

Larry Tag, Der unbeliebte Mr. Lincoln. Die Geschichte von Amerikas meistgeschmähtem Präsidenten (2009), auch unter dem Titel: The Battles that Made Abraham Lincoln: How Lincoln Mastered his Enemies to Win the Civil War, Free the Slaves, and Preserve the Union (2013)

Die Bürgerkriegsakten von George B. McClellan, hrsg. von Stephen Sears (1992)

Carl Sandburg, Die Kriegsjahre

Allan Nevins, Lincolns Aufstieg, Prolog zum Bürgerkrieg, 1859–1861 

Tobian Clearly, Briefe eines Unionisten

Lieber Mr. Lincoln, hrsg. von Harold Holzer (2006)

Stimmen aus einem geteilten Land, hrsg. von Baines u. Edgar

Vergessene Stimmen aus dem Bürgerkrieg, hrsg. von J. B. Strait

R. B. Arnolds, Der Schurke Lincoln

David Herbert Donald, Lincoln neu betrachtet (1956)

James Spicer, Qualen der Prärie. Die Psychologie Lincolns

Kirsten Toles, Unversehens Jehova. Wille, Konzentration und die große Tat

William H. Herndon u. Jesse W. Weik, Lincolns Leben (1889)

Herndon über Lincoln. Briefe, hrsg. von Douglas L. Wilson u. Rodney O. Davis

Sie kannten ihn, hrsg. von Leonora Morehouse

Michael Burlingham, Abraham Lincolns innere Welt

Weise Worte und gesammelte Briefe eines Großvaters, unveröffentlichtes Manuskript, hrsg. (sic!) von Simone Grand

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