Lena Andersson analysiert in ihrem Roman „Unvollkommene Verbindlichkeiten“ erneut das emotionale Ungleichgewicht eines Paares
-Gastrezension von Lea Pistorius-
„Ester hätte sich sehr viel Zeit und Mühe sparen können, wenn sie ihn beim Wort genommen hätte, aber sie hätte auch viel Wunderbares verpasst.“
Wer Lena Anderssons ersten Roman „Widerrechtliche Inbesitznahme“ gelesen hat, dem ist die Hauptfigur ihres neuen Werkes „Unvollkommene Verbindlichkeiten“ bereits bekannt. Nicht nur die Wortpaare in den Titeln ähneln einander. Erneut stellt Andersson die kompromisslos liebende Ester Nilsson in den Mittelpunkt ihrer Erzählung. Fünf Jahre gealtert, scheinen sich Esters Vorlieben und Verhaltensweisen nicht sonderlich geändert zu haben. Erneut verliebt sie sich in einen Künstler, diesmal einen Schauspieler namens Olof Sten. Erneut handelt es sich um einen bereits vergebenen, diesmal verheirateten Mann. Und erneut ist dieser deutlich älter als die 37-jährige Ester. Ist also alles schon einmal dagewesen?
Die Geschichte um Ester Nilssons Liebe zeigt das Ringen einer Frau um einen Mann, den sie niemals wirklich besitzen wird. Bereits zu Beginn ihres Kennenlernens eröffnet sie ihm, dass sie ihr Leben mit ihm teilen möchte, doch er weicht erschrocken zurück. „Ester hätte sich sehr viel Zeit und Mühe sparen können, wenn sie ihn beim Wort genommen hätte, aber sie hätte auch viel Wunderbares verpasst.“
Die offensichtliche Aussichtslosigkeit ihrer Liebe zu Olof scheint diese noch zu intensivieren. Anstatt loszulassen, klammert Ester umso mehr. Als könne sie durch ihr selbstgerechtes, ideologisches Verharren, das sich in ihren zahlreichen philosophischen Argumenten spiegelt, jene erhofften und ihres Empfindens nach vermeintlich verborgenen, unterdrückten Liebesbekundungen ihres begehrten Gegenübers hervorkitzeln.
Ester analysiert das Verhalten Olofs bis ins kleinste Detail. Allerdings deutet sie nur das, was sich auch zu ihren Gunsten auslegen lässt. Daraus entwickelt sich ein ständiges Oszillieren zwischen Nähe und Distanz. Ester versucht sich gegenüber Olof zu behaupten und wird doch immer wieder schwach. Jede erneute Zuwendung seinerseits weckt neue Hoffnung in ihr, denn Ester weiß, „dass nichts zufällig gesagt oder getan wird“. Während sie schnell die Erfahrung macht, dass Olof Sten kein Mann großer Worte ist, legt sie dennoch großen Wert auf seine Äußerungen. Sie unternimmt eine Charakterstudie, fokussiert sich ganz auf Olof und sein Gebaren. Sie analysiert die Worte seiner SMS, die verborgenen Bedeutungen seiner Gesten und Blicke. Ihr Freundinnenchor steht ihr dabei stets mit wenig hilfreichen Ratschlägen beiseite. Wer selbst schon unglücklich verliebt war, weiß zu gut, was hier passiert.
Liebe ist irrational. So auch Esters Erkenntnis, dass es trotz allem so weiter gehen könne, auch wenn Olof immer wieder halbherzig versucht Distanz herzustellen. Wenn der Mann seine Geliebte zuvor warnt, dass sie nichts von ihm erwarten dürfe, lässt sich ihm ja schließlich im Weiteren nichts vorwerfen – nicht wahr? Olof Sten spielt den Ball stets zu Ester und spricht sich frei von jeglicher Verantwortung, während Ester sich selbst vortäuscht, damit umgehen zu können: „Da er deutlich klargestellt hatte, was Sache war, brauchte sie sich nichts vorzumachen, egal, was sie nun unternahmen. Und Ester fand, da sie deutlich gesagt hatte, was sie empfand, brauchte er sich ebenfalls nichts vorzumachen; alles, was sie unternahmen, würde für sie fortan von Bedeutung sein.“
Schon auf den einführenden zehn Seiten wird dem Leser, der bereits Anderssons Vorgängerroman kennt, bewusst, dass er mit der Lektüre dieses zweiten Buches zunächst nichts Neues zu erwarten hat. Das wiederholte selbstdestruktive Verhalten Esters kann einen langweilen und frustrieren, ja mitunter sogar hilflos wütend machen. Auch ich habe mich zuweilen an ihrer Besessenheit und Naivität gerieben. Ich denke, es spricht jedoch für das Buch und den Schreibstil der Autorin, dass sie es schafft, den Leser derart mitfühlen zu lassen.
Lena Anderssons Beschreibungen dieser liebenden Frau und ihrer Art zu Begehren sind so treffend analytisch und so wenig wertend, dass sie mich von der ersten bis zur letzten Seite in ihren Bann gezogen haben. Ich hoffe sehr, dass Lena Andersson uns weiter teilhaben lässt an Ester Nilsons Schicksal.